J. McDougall: A History of Algeria

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Titel
A History of Algeria.


Autor(en)
McDougall, James
Erschienen
Anzahl Seiten
XVII, 432 S.
Preis
€ 29,96
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Feichtinger, Historisches Institut, Universität Bern

Die algerische Geschichte muss oft als Ressource für Vergleiche und Anschauungsbeispiele herhalten, fast häufiger, als sie um ihrer selbst willen erforscht und erzählt wird. So dient Algeriens wechselhafte Geschichte wahlweise als Exempel für die Schwäche des Osmanischen Reiches an seiner Peripherie, als Fanal einer grausamen kolonialen Eroberung und als vielzitierter Fall einer nicht minder gewalthaltigen und lange nachwirkenden Dekolonisierung. Zuletzt wurde die jüngste algerische Geschichte als Präzedenzfall des Scheiterns der Aufstände des „Arabischen Frühlings“ gewertet, als vorzeitiges Modell einer von der Straße erzwungenen demokratischen Öffnung eines nordafrikanischen Regimes, das zunächst in einen islamistischen Erdrutschsieg und dann in eine langandauernde Repression durch einen allesbeherrschenden Militärapparat mündete.

Vor diesem Hintergrund hat sich James McDougall, Professor am Trinity College in Oxford und Autor mehrerer vielbeachteter Studien zum algerischen Nationalismus, der Herausforderung gestellt, die Geschichte Algeriens von der Osmanischen Herrschaft im 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart in einer Monographie darzustellen. Das Ergebnis seiner Bemühungen ist die erste umfassende Gesamtdarstellung in englischer Sprache und trotz geringfügiger Schwächen eine Meisterleistung der Gelehrsamkeit und Erzählkunst.

McDougall bereitet die enorme Materialfülle von 500 Jahren Geschichte (von 1516 bis 2016) in sieben chronologisch geordneten Kapiteln auf, lässt aber Überschneidungen und eher thematisch gegliederte Exkurse in den Unterkapiteln zu. Als narrativen „roten Faden“ und analytisches Ordnungsprinzip diskutiert er in allen Kapiteln das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. Nach seiner Interpretation waren die Selbstorganisations- und Selbstbehauptungskräfte der algerischen Gesellschaft deutlich robuster als bislang angenommen, die Interventionen verschiedener staatlicher Formationen und Institutionen dagegen wesentlich weniger kohärent.

Bereits im ersten Kapitel, das die Periode von 1516 bis zur französischen Eroberung 1839 abdeckt und dabei gleichzeitig eine grundlegende Darstellung der Ökologie, Gesellschaft, Kultur und des Staates liefert, zeigen sich McDougalls Stärken als Autor sowie die Herausforderungen eines so umfassenden Projekts. So verwendet der Autor stets die historischen Originalbegriffe (bzw. Transkriptionen aus dem Arabischen und verschiedenen Berberdialekten) wenn er etwa die komplexen Systeme der Landnutzung in vorkolonialer Zeit beschreibt. Damit erweist er nicht nur seinen historischen Akteuren den Respekt, ihre Welt in ihrer eigenen Sprache zu beschreiben, er stellt Experten dieses Gegenstandes außerdem eine profunde und konzise Analyse inklusive der maßgebenden Fachbegriffe zur Verfügung. Gleichzeitig bremsen die vielen kursiv gedruckten Transkriptionen mitunter den Lesefluss und lassen ihre Zusammenstellung in einem Glossar schmerzlich vermissen.

Mehr noch als in der Verwendung historischer Begriffe beeindruckt McDougalls Wissen und Darstellungsgeschick wenn er strukturelle Tendenzen der Geschichte anhand von Einzelschicksalen illustriert oder auch konterkariert. In nahezu allen Kapiteln finden sich Abschnitte mit Lebenserzählungen von Individuen und Familien, anhand welcher die Komplexität, Vielgestaltigkeit und Offenheit der Geschichte spürbar wird. So dekonstruiert McDougall etwa im ersten Kapitel eindrucksvoll den Mythos ethnisch-religiöser Homogenität indem er die Unterschiede zwischen der Lebensrealität und Glaubenspraxis städtischer und ländlicher Juden betont. Oder er unterläuft Vereinfachungen und einseitige Geschichtsbetrachtungen indem er von weißen Sklaven in der Ökonomie des Mittelmeerraums erzählt, oder die Durchlässigkeit sozialer und religiöser Zugehörigkeiten anhand der Häufigkeit von Konversionen zwischen Islam und Christentum aufzeigt. Auch in späteren Kapiteln versteht es McDougall meisterhaft, anhand von Einzelschicksalen historischer Akteure die großen Linien und Konventionen in der Darstellung der algerischen Geschichte zu unterlaufen und zu verkomplizieren.

Dementsprechend entziehen sich auch McDougalls Darstellungen der kolonialen Eroberung durch Frankreich sowie des algerischen Widerstands vereinfachender und glorifizierender Tendenzen. Diese Perspektive wird schon daraus deutlich, dass McDougall Eroberung und Widerstand über die Kapitel 2, 3 und 4 hinweg als dialektische und aufeinander bezogene Dynamiken portraitiert. Der algerische Widerstand wird demnach als eine von mehreren Handlungsoptionen verschiedener Elitenfraktionen interpretiert, zu dem diese erst griffen, wenn andere Formen des Arrangements mit der Kolonialmacht nicht mehr wirkten. Gleichermaßen betont McDougall die Widersprüchlichkeit und Kontingenz der Kolonisation. Die Zivilisierungsmission und „Grandeur“ des imperialen Projekts werden somit als propagandistische Camouflage und ex-post Legitimationen einer kurzsichtigen und verfehlten Militärexpedition entlarvt.

Obgleich McDougall das Leid und die Verelendung der muslimischen Bevölkerung eingehend schildert, legt er auch hier Wert auf eine differenzierte Betrachtung. So habe zwar die völlige Desintegration des Wirtschafts- und Sozialsystems und die daraus resultierende erhöhte Vulnerabilität der Bevölkerung zu Hungersnöten und Massensterben geführt, allerdings habe wiederum der Arbeitskräftebedarf der Kolonialwirtschaft den Algerierinnen und Algerien das Schicksal der nordamerikanischen Ureinwohner erspart. Grundsätzlich bemüht sich McDougall, weder die Kolonisatoren noch die kolonisierte Bevölkerung als homogene Akteursgruppen zu begreifen, sondern betont stattdessen, dass sich die Identitäten der europäisch-stämmigen Siedler als „Algerienfranzosen“ und der Kolonisierten als „Algerier“ oder „Muslime“ erst durch wechselseitige Abgrenzung formierten.

Am Gestus der Demystifizierung hält McDougall auch in seiner Schilderung der Dekolonisierung fest. Erkennbar ist der Versuch, eine innovative und tiefergehende Analyse des Unabhängigkeitskampfes vorzulegen schon aus der Tatsache, dass das diesem Prozess gewidmete fünfte Kapitel nicht nur die Phase des bewaffneten Konflikts von 1954-1962 umfasst, sondern bereits im Jahr 1942 ansetzt. Zudem grenzt sich McDougall deutlich vom Narrativ einer heroischen Befreiung von der Fremdherrschaft ab indem er in der Kapitelüberschrift nicht nur den Begriff „Revolution“ verwendet, sondern auch „Bürgerkrieg“. Seinem Forschungsschwerpunkt entsprechend nehmen die verschiedenen Persönlichkeiten und Positionen innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung mehr Raum ein als die ohnehin hinlänglich bekannten Maßnahmen und Verbrechen der französischen Armee. Dabei nimmt McDougall in seiner Darstellung des Befreiungskrieges nicht nur Prozesse und Dynamiken auf, die sich lange vor 1954 zeigten, er legt sie auch so dar, dass er sie in den folgenden beiden Kapiteln zum unabhängigen Algerien weiterverfolgen kann. So bildeten sich die maßgebenden Fraktionen und Konflikte innerhalb des algerischen Nationalismus Jahrzehnte vor dem Krieg heraus und prägten die Geschichte Algeriens noch lange darüber hinaus – konstitutionalistisch-konservativ gegen sozialistisch-revolutionär, arabisch-muslimisch gegen berberisch-separatistisch. Als besonders prägend und fatal erwiesen sich aber vor allem der Selbstentwurf der Befreiungsfront FLN als anti-politische, überparteiliche Plattform und die daraus resultierende Dominanz der Armeeführung. Obwohl internationale Faktoren wie etwa der Kalte Krieg oder das Erstarken des politischen Islam im sechsten Kapitel, das die dreißig Jahre vom Ende des Befreiungskriegs bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges 1992 abdeckt, durchaus Erwähnung finden, liegt dort das Hauptaugenmerk auf die im vorherigen Kapitel angelegten und durch den langjährigen Präsidenten Boumedienne geradezu personifizierten Probleme der „unvollendeten Revolution“.

Ganz im Einklang mit dem Großteil der Literatur zum algerischen Bürgerkrieg von 1992 bis 1999 interpretiert McDougall diesen als Kulmination aus einer Schwäche und Inkompetenz des Regimes in Form von weitverbreiteter Korruption, Nepotismus und der Unterdrückung jeglicher Opposition auf der einen Seite, und wachsender Frustration und Desintegration der Gesellschaft auf der anderen Seite. McDougall beschreibt in aller Deutlichkeit, dass nach sieben Jahren enorm blutigem Bürgerkrieg kein einziges der ihn auslösenden politischen Probleme gelöst worden war, und dass das aus diesem Konflikt hervorgegangene aktuelle politische System alle Schwächen des alten beibehielt.

McDougall erörtert im finalen siebten Kapitel auch detailliert, weshalb der so genannte „Arabische Frühling“ seit 2011 an Algerien scheinbar vorüberzog. Dies liege nicht allein an der Erinnerung an die Bürgerkriegsgewalt innerhalb der Gesellschaft und auch nicht an der sedierenden Wirkung von subventionierten Lebensmitteln und erhöhten Gehältern Seitens der Regierung. Vielmehr interpretiert McDougall das Ausbleiben einer allgemeinen Erhebung gegen das zweifelsohne ungeliebte Regime – von den Algeriern schlicht als „le pouvoir“, die Macht bezeichnet – als Ausdruck einer Anpassung und unabhängig vom Staat sich organisierenden Gesellschaft. Diese, schon im Vorwort erwähnte „Resilienz“ der Gesellschaft, die aufgrund der historischen Erfahrung ältere Repräsentations- und Organisationsformen nie ganz aufgab und in der sich sowohl Konflikte als auch Reformen eher auf lokaler und regionaler Ebene abspielten, dient McDougall als Gegenpol zu den sich abwechselnden und stets scheiternden Versuchen, eine zentralistische Macht zu etablieren und die ganze Gesellschaft zu „durchherrschen“.

Dieses dialektische Modell aus einer widerstandsfähigen Gesellschaft und wechselnden, nie wirklich stabilen und legitimen Formen von Staatlichkeit, stellt zweifelsohne ein innovatives und die komplexe algerische Geschichte sinnvoll gliederndes Narrativ dar. Es spricht aus diesem Narrativ allerdings auch ein Optimismus, der sich aus der Analyse der Geschichte allein nicht speisen kann. Zu viele historische und aktuelle Konfliktlinien, die diesen Optimismus empfindlich stören könnten, muss McDougall unterschlagen, um dieses Narrativ aufrechterhalten zu können. So finden etwa die Sexualmoral und die Verhandlungen der Geschlechterverhältnisse durchaus Erwähnung, jedoch längst nicht in der Schärfe, in der diese Kämpfe tagtäglich quer durch die algerische Gesellschaft ausgetragen wurden und werden. Auch die widersprüchlichen Haltungen zur westlichen Populärkultur und die sich daran entzündenden Generationenkonflikte prägen den Alltag in Algerien seit den 1960er-Jahren und lassen sich kaum mit dem Bild einer resilienten und sich gegen- und unterhalb der staatlichen Institutionen selbst organisierenden Gesellschaft vereinen.

Diese Einwände gelten allerdings allein der Interpretation und den Schlüssen, die McDougall aus seiner umfassenden Darstellung zieht. In ihrer Kenntnistiefe, der zugrundeliegenden Forschungsarbeit und auch der darstellerischen Eleganz bleibt „A History of Algeria“ von James McDougall zutiefst beeindruckend und wird noch für lange Zeit schwer zu erreichende Maßstäbe für eine Gesamtdarstellung der algerischen Geschichte über die vergangenen fünf Jahrhunderte setzen.