Wissenschaftliche Arbeiten über das koloniale Samoa sind bislang eher selten. Da ist es zu begrüßen, dass die Verfasserin der vorliegenden Untersuchung sich vorgenommen hat, zeitgenössische Reiseberichte über Samoa einer ausführlichen Diskursanalyse zu unterwerfen. Besonders lobenswert ist, dass sie sich entschlossen hat, ihrer Untersuchung sowohl deutsche wie englische (richtiger: britische) und US-amerikanische Beschreibungen zu Grunde zu legen. Jede wissenschaftliche Arbeit über das koloniale Samoa, die singulär vorgeht und das koloniale Dreiergeflecht Großbritannien – Deutsches Reich – Vereinigte Staaten (bis 1900 offiziell, danach informell) dabei ausblendet, steht auf unsicherem Grund, präsentiert Verzerrungen, kann bestenfalls Schimmer kolonialer Lebenswelten abbilden.
Ursprünglich eine Kölner Dissertation, die bei der Pädagogin und Genderforscherin Elke Kleinau entstand, hat die Autorin ihre Arbeit klar, übersichtlich und logisch nachvollziehbar in drei Großkapitel strukturiert: I. Theorie und Methode einschließlich „historische Verortung“, II. „Diskurslinien“ – die eigentliche Untersuchung des Quellenkorpus – und III. „Ergebnisse“.
Die um „Critical Whiteness und Gender Studies“ erweiterte Darstellung des Forschungsstandes zum deutschen Kolonialismus, der Südsee im Allgemeinen und Samoa im Besonderen ist für den deutschsprachigen Bereich relativ umfassend und präsentiert einen guten zusammenfassenden Überblick1, enthält aber darüber hinaus auffällige Lücken. Das gilt zuvorderst für die historische Forschung der Samoaner selbst. Diese wird von der Verfasserin vollständig negiert.2 Wenn die Autorin selbstverständlich auf europäische Interpretationen zur samoanischen Kolonialzeit zurückgreift und ein eigenes Unterkapitel „historische Verortung“ hinzusetzt, dann ist es doch nur recht und billig, dass auch samoanische Perspektiven und Sichtweisen zur Kenntnis genommen werden und als Vergleichsfolie Verwendung finden. Was nützt das ganze Gerede von Postkolonialismus, wenn sich am Ende europäische Autoren wieder ausschließlich in europäischem Wasser baden? Es stößt dem Rezensenten übel auf, wenn die Autorin in einem einzigen Satz sehr apodiktisch erklärt: „Die – notwendigerweise – eurozentristische Perspektive der Verfasserin als Weiße Frau ist mitbedacht und reflektiert“ (S. 34) und sich damit selbst absolviert. Wo und wie ist das der Fall, wenn nicht einmal die vorhandene Forschungsliteratur der Samoaner selbst „mitbedacht und reflektiert“ wurde?
Die angelsächsische Forschung wird generell nur sehr selektiv wahrgenommen. Evelyn Warehams wichtige Studie fehlt.3 Zwar hat die Verfasserin den „fotografischen Zugängen“ zu ihrem Thema einen besonderen Abschnitt gewidmet, man vermisst aber den darauf abgestellten wichtigen Aufsatz von Leonard Bell.4 Besonders frappierend ist das Ausblenden der angelsächsischen Forschung im Kernfeld der Untersuchung. Ihre Behauptung, die Forschung zur Reiseliteratur sei „mittlerweile etwas älteren Datums“ (S. 48), ist falsch. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit kolonialer Reiseliteratur in englischer Sprache ist inzwischen so vielfältig und vielschichtig, dass bei der Fülle an Forschungsliteratur leicht der Überblick verloren geht.5 Zudem reizen einige Behauptungen der Autorin, die kolonialhistorischen Rundumschlägen ähneln, zu Widerspruch oder sind schlichtweg falsch.6
Die Kürze, um nicht zu sagen Abruptheit, mit der die Methodik teilweise charakterisiert wird, ist befremdlich. So hat die Verfasserin die Erläuterung ihrer Vorgehensweise bei der Quellenauswahl in eine Fußnote verbannt. Auch ihre Entscheidung, sich auf Monographien zu beschränken, wird nicht erläutert oder gar erklärt (S. 50). Eine, zugegebenermaßen sehr zeitintensive, sorgfältige Untersuchung und Auswertung der bekannten und populären zeitgenössischen viktorianischen, wilhelminischen und US-amerikanischen Zeitschriften, von der Gartenlaube bis zur Leisure Hour und Harper’s Magazine, hinsichtlich kolonialer Reiseberichte wäre eine wirklich sinnvolle wissenschaftliche Unternehmung, die die Arbeit in vielerlei Hinsicht ergänzen könnte, sie bleibt aber bislang ein Desiderat.
Für ihre Diskursanalyse hat die Autorin 15 Autoren und Texte ausgewählt, „die im weiteren Sinne als Reiseliteratur gelten können“ (S. 35). Was Reiseliteratur genau ist, wird sehr weit definiert als „dass die Autorinnen und Autoren im definierten Zeitraum (1830–1914) persönlich eine Reise oder einen längeren Aufenthalt auf Samoa angetreten und anschließend schriftlich darüber berichtet haben“ (S. 49–50). Die zur Untersuchung ausgewählten Personen (siehe die Tabelle auf S. 50) umfassen sechs Deutsche, fünf Briten und vier US-Amerikaner. Die nähere Darstellung der von ihr untersuchten Autoren (S. 74–80) ist prägnant, aber für den Leser schwierig zu finden. Ein Register fehlt. Die Autorin „markiert“ ihren „Beginn des Untersuchungszeitraumes“ mit den „1830er Jahren“, weil „die ersten Missionen in den 1830er-Jahren dort ihre Tätigkeit aufnahmen“ (S. 36) – das ist richtig – und präsentiert dann die Reise des LMS-Missionars George Brown von 1860 als „Beginn“ – das ist zumindest fragwürdig, um nicht zu sagen: falsch.7 Wie die Verfasserin überhaupt zu ihrem Quellensample gekommen ist, ist nicht ersichtlich. Sie unterstreicht aber, dass dadurch „ein möglichst breites Spektrum abgedeckt“ würde (S. 51). Dieses ist aber ungleichgewichtig – am auffallendsten ausgerechnet beim Geschlecht, wiewohl Förderer doch einleitend speziell betont, wie wichtig für sie und ihre Arbeit die Kategorien Geschlecht, Sexualität und die gender studies wären. In der Untersuchung sind aber die drei Frauen gegenüber zwölf Männern deutlich in der Unterzahl. Die Quellenlage ist deutlich besser. Mindestens zwei weitere weibliche Samoa-Reisende hätten hinzugezogen werden können, ja müssen.8 Die Liste von zusätzlichen Quellenberichten, die die Kriterien der Verfasserin erfüllen, ist damit keineswegs erschöpft, auch wenn hier nicht der Platz sein kann, alle relevanten Titel aufzulisten.
Die Untersuchung der Texte, in dem, was die Verfasserin „Diskurslinien“ nennt, erfolgt nach klaren und nachvollziehbaren Kriterien, wobei sich wiederholenden Mustern zu Recht das besondere Augenmerk der Autorin gilt. Der Untersuchungsgegenstand wird sehr genau in einzelne Motive aufgelöst, allerdings fällt auf, dass bei der Detailuntersuchung der Landschaft (“Besondere Orte Samoas“) und dem „Leben vor Ort“ nur topoi der ehemaligen deutschen Kolonie analysiert werden und Amerikanisch-Samoa nicht vorkommt. Wenn Förderer insgesamt die Darstellung Samoas als „paradiesisch“ verortet – das bekannte Bild vom „Mythos Südsee“ will sie explizit vermeiden – dann trifft sie damit sicherlich einen Hauptkern der europäischen Reiseberichte. Bekannte und feststehende Moralvorstellungen lösen sich auf, selbst das gerade in der Fremde früher oder später besonders akute Heimweh geht verloren. Sehr gut fasst sie dieses Gefühl zusammen, wenn sie das Phänomen als Modernismus- und Zivilisationskritik interpretiert: „In einer sich schneller entwickelnden Gesellschaft steigert sich die Sehnsucht nach Orten, an denen Entschleunigung und Ausruhen möglich sind und eine gewisse Reizarmut herrscht“ (S. 118). Nur ist damit noch nicht erklärt, wieso dieser Eindruck in Samoa stärker war als beispielsweise in Kamerun oder in Honduras.
Die Perspektive auf „anthropologische Vorstellungen“ gehört zum wichtigsten Teil der Arbeit. In den Quellen thematisiert wird die Hautfarbe – braun in allen Schattierungen, das aber nie als schwarz bezeichnet wird –, andere, in europäischen Augen auffällige Äußerlichkeiten und die Intelligenz. Richtig ist, wenn Förderer schreibt, dass die Samoaner von den Europäern innerhalb der ethnischen Gruppe der Polynesier immer wieder als überlegen bzw. superior dargestellt wurden. Diese Sichtweise wird, das sollte man hinzufügen, von den Samoanern geteilt. Im Abschnitt „Geschlechterkonstruktionen und -verhältnisse“ wird nicht nur die Fremdperzeption, sondern auch das Verhältnis von Mann und Frau in Samoa näher analysiert. Nahezu alle europäischen Quellen thematisieren die besondere Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Samoa: Hier kocht traditionell der Mann, nicht die Frau. Die Verfasserin belegt durch die Analyse ihrer Quellen, dass die Samoanerin in europäischer, vornehmlich männlicher Sicht generell positiv beurteilt wird, weil sie sich als „tugendhaft“ im sexuellen Bereich deutlich von anderen Polynesierinnen (etwa der Tahitianerin) unterscheide. Dagegen erkennt die Autorin den Zusammenhang zwischen dieser herausgehobenen Tugendhaftigkeit, der immer wieder betonten besonderen Liebenswürdigkeit, Höflichkeit, Anmut und Grazie der Samoanerinnen und der dadurch entstehenden sexuellen Attraktivität nicht wirklich. Vor allem aber ist sie so sehr von europäisch-westlichen Theorie- und Sexualvorstellungen durchdrungen, dass sie offenkundige interkulturelle Differenzen in Wahrnehmung und Wertung als solche nicht erfasst.
Damit sei aber auf keinen Fall gesagt, dass die Verfasserin per se nicht in der Lage wäre, aus ihren Quellen interessante Ergebnisse zu destillieren. Ihre Diskursanalyse ist dann am stärksten, wenn es ihr gelingt, in europäischen Beschreibungen verdeckte europäische Motive zu entschlüsseln, die tatsächlich mit samoanischen Bewertungen nichts zu tun haben. So entdeckt sie etwa in der positiven Darstellung samoanischer Männer bei gleichzeitiger Abwertung samoanischer Frauen durch europäische Männer deutlich homoerotische Züge (S. 183–185). Kapitel fünf untersucht das Leben der Europäer in Apia, vor allem aber samoanische Lebenswelten, das, was fa’a Samoa (die samoanischen Eigenheiten) ausmacht. Die Verfasserin hat hier sehr gut ausgewählt und die zentralen Motive des samoanischen way of life untersucht: Die Zeremonie des Kawa-Trinkens, der Sitztanz Siva, die taupou (Ehrenjungfrau), schließlich der Seewurm palolo, der in Fidschi, vor allem aber in Samoa saisonal gefischt wird und als besondere Delikatesse gilt. Sehr gut erfasst hat Förderer auch das traditionell höchste politische Amt in Samoa, den sie ganz treffend den höchsten Würdenträger nennt (S. 246–256).
Das letzte inhaltliche Kapitel analysiert den europäischen Einfluss auf Samoa, die Beziehungen der drei Kolonialmächte – Großbritannien, Deutschland, Vereinigte Staaten – untereinander und „Zivilisierungsprozesse“. Der „Frau als Kulturträgerin“ ist abschließend ein eigenes Unterkapitel gewidmet, das sich allerdings fast ausschließlich auf eine einzige Quelle (Frieda Zieschank) stützt. Sehr schön belegt die Verfasserin, dass mit den protestantischen britischen Missionaren nicht nur eine spezielle Variante des Christentums Einzug fand, sondern vor allem der Utilitarismusgedanke und kapitalistische Vorstellungen von Mehrwert zu verbreiten gesucht wurde. Dies gelang aber nicht wirklich, denn die Samoaner verweigerten sich der europäischen Vorstellung von „geregelter“ Arbeit. Das hätte man vielleicht etwas stärker herausstellen können als in nur einem Halbsatz. De facto „bedienten“ sich die Samoaner aus dem von Europäern offerierten „Angebot“ des Christentums und adaptierten jene Dinge, die ihren traditionellen Vorstellungen am ehesten entsprachen oder die jene aus ihrer Sicht in positiver Weise erweiterten.
Am Ende die Frage: Was bleibt? Die Untersuchung der ausgewählten Quellen ist umfassend; die dabei bewiesene Arbeits- und Vorgehensweise gewissenhaft und grundsolide. Es finden sich immer wieder innovative Gedanken und Interpretationen. Zweifellos: Förderer erweitert mit ihrer Arbeit das bisherige Blickfeld. Ihre Diskursanalyse europäischer Reisebeschreibungen zu Samoa trägt zu einer differenzierenden Betrachtung und Bewertung kolonialer Perspektiven wohltuend bei. Demgegenüber stehen die aufgezeigten methodischen Schwächen, die Lücken in Quellen und Literatur und zum Teil markante Mängel in historischem (und geographischem) Fachwissen. Die Arbeit hätte sicherlich von einem stärkeren interdisziplinären Austausch profitiert. Gleichwohl hat die Autorin bei aller Kritik an ihrer Methode und Auswahl doch einen wichtigen Anfang gesetzt. Nehmen wir die vorhandenen Lücken und Schwächen doch als Anregung für künftige Arbeiten. Dann könnten Förderers Ergebnisse auf einer erweiterten Quellenbasis veri- oder falsifiziert oder schlichtweg auf eine breitere Grundlage gestellt werden. Das wäre doch für die wissenschaftliche Forschung jener Felder, für die Gabriele Förderer angetreten ist, neue Straßen zu bauen und andere Wege zu öffnen, keine schlechte Sache.
Anmerkungen:
1 Zu ergänzen wäre vielleicht Stefan Johag, Verwaltung von Deutsch-Samoa, Glienicke 2011.
2 Zu nennen wären etwa die verschiedenen Arbeiten von Malama Meleisea, auch zu Teilaspekten wie der samoanischen Sichtweise auf die melanesischen Pflanzungsarbeiter in Samoa – Malama Meleisea, O Tama Uli. Melanesians in Samoa, Suva 1980; die Dissertation von Kilifoti Eteuati, Evaeavaga a Samoa, Canberra 1982; aber auch die sehr solide Arbeit von Featuna’i Ben Liuaana, Samoa Tula’i, Malua 2004; oder der zum Verständnis samoanischer Vorgehensweisen, Rituale, Titel und historischer Interpretationen unentbehrliche Sammelband Tamasa’ilau Suaalii-Sauni u. a. (Hrsg.), Su’esu’e Manogi, Apia 2009. Die samoanischen Titel verdecken, dass die Arbeiten allesamt in englischer Sprache vorliegen.
3 Evelyn Wareham, Race and Realpolitik. The Politics of Colonisation in German Samoa, Frankfurt am Main 2002.
4 Leonard Bell, Eyeing Samoa. People, Places and Spaces in Photographs of the late 19th and early 20th centuries, in: Felix Driver / Luciana Martins (Hrsg.), Tropical Visions in an Age of Empire, Chicago 2005, S. 156–174.
5 Vgl. u. a. Richard D. Fulton / Peter H. Hoffenberg (Hrsg.), Oceania and the Victorian Imagination. Where All Things Are Possible, Farnham 2013; Paul Lyons, American Pacificism. Oceania in the U.S. Imagination, New York 2006; Peter Hulme / Russell McDougall (Hrsg.), Writing, Travel and Empire, London 2007. Nicht einmal David Spurrs Standardwerk findet Erwähnung. David Spurr, The Rhetoric of Empire. Colonial Discourse in Journalism, Travel Writing and Imperial Administration, Durham 1993.
6 Samoa war im 19. Jahrhundert keine Demokratie nach westlichem Muster. Die Behauptung, die samoanische Bevölkerung habe „Mataafa“ (richtig: Mata’afa) zu Malietoas Nachfolger gewählt (S. 77; beides sind im Übrigen keine Personennamen, sondern Titel, bedürfen also eines Namenszusatzes), verkennt das politische System Samoas vollständig. Nach den Bestimmungen des Berliner Vertrages (Art. 1) wurde „erwählt“ „nach den Gesetzen und Sitten von Samoa“. Aktives Wahlrecht besaßen nur bestimmte matai (Häuptlinge). Wilhelm Solf war vor seiner Ernennung zum ersten deutschen Gouverneur nicht Konsul, sondern Präsident des europäischen Munizipalrates von Apia (S. 78). Und schon gar nicht war Gouverneur in Samoa dasselbe wie Konsul, wie die Autorin annimmt (S. 92 Anm. 10 und S. 93f.). Tonga war nie britische Kolonie (S. 65). Und Helgoland ist keineswegs als Ergebnis der Berliner Afrikakonferenz 1884/85 deutsch geworden (S. 65 Anm. 13).
7 Als erster christlicher Missionar Samoas gilt John Williams (1796–1839) – Ioane Viliamu auf Samoanisch – von der London Missionary Society, der im August 1830 in Sawai’i zum ersten Mal an Land ging. Dessen Reisebericht “A Narrative of Missionary Enterprises in the South Sea Islands; with remarks upon the natural history of the islands origin, languages, traditions and usages of the inhabitants” erschien bereits 1840 in London.
8 C.(onstance) F.(rederica) Gordon Cumming, A Lady’s Cruise in a French Man-of-War, Edinburgh 1882, beschreibt in den Kapiteln vier bis neun ihre Samoareise vom September 1877. Noch ausführlicher sind die samoanischen Reisebriefe von M.(argaret) I.(sabella) Stevenson (geb. Balfour, 1829–1897), der Mutter von R.L. Stevenson, hgg. von Marie Clothilde Balfour, Letters from Samoa 1891-1895, New York 1906.