Auch 73 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur kann deren Erforschung noch lange nicht als vorläufig abgeschlossen gelten. Im Falle der Wissenschaftsgeschichte trifft dies besonders zu: Eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Verhältnis von nationalsozialistischer Ideologie und der damaligen Wissenschaft einerseits sowie dem Verhältnis von Wissenschaftlern zum „Dritten Reich“ und seinen Institutionen andererseits begann erst zur Jahrtausendwende. Der Frankfurter Historikertag von 1998 zeigte deutlich, wie emotional aufgeladen die Thematik zu diesem Zeitpunkt noch immer war. Die damals führenden Vertreter der Zunft waren nicht selten durch die Schule von Professoren gegangen, die im „Dritten Reich“ ihre Karriere gemacht hatten. Sang man nach 1945 das Hohelied auf die bedingungslose Wissenschaftlichkeit, der man – bis auf einige noch nie von der Zunft anerkannte Gestalten wie Hans F. K. Günther – angeblich immer verpflichtet geblieben sei, so wurde doch nach und nach die Selbstverständlichkeit deutlich, dass es 1. Wissenschaftler mit genuiner nationalsozialistischer Überzeugung, 2. Wissenschaftler mit teilweiser Übereinstimmung mit nationalsozialistischen Ideologemen, 3. Karrieristen mit scharfem Blick für die Karrieretauglichkeit der gerade opportunen „Haltung“ und 4. Forscher gab, denen die Skrupellosigkeit der Nationalsozialisten die Pforten zu ganz neuen Forschungsmöglichkeiten besonders im medizinisch-biologischen Bereich eröffnete.
Eine ganze Reihe von Einzelstudien1 und Sammelbände2 haben dies deutlich gemacht und gleichzeitig die Komplexität des Themas erwiesen. Neben Biographie und Werk der einzelnen Forscher sind auch deren Netzwerke, die Einflussnahme politischer Stellen, Gepflogenheiten der jeweiligen Disziplin und der allgemeine geistesgeschichtliche Kontext zu berücksichtigen. Dass davon auch versierte Historiker und an der Geschichte ihres Fachs interessierte Wissenschaftler überfordert werden können, liegt auf der Hand und unterstreicht die wissenschaftspraktische Bedeutung, die Werken wie dem „Handbuch der völkischen Wissenschaften“ (HVW) zukommt.
Bereits die erste Ausgabe von 2008 bot auf 846 Seiten einen umfangreichen Überblick über „Personen“, „Institutionen“, „Forschungsprogramme“ und „Stiftungen“. Für die zweite Auflage von 2017 haben die Herausgeber Ingo Haar und Michael Fahlbusch sowie der hinzugestoßene Alexander Pinwinkler den Umfang massiv erweitert: Der erste Band enthält auf 942 Seiten neben drei einleitenden Texten ausschließlich biographische Lemmata, der zweite Band beinhaltet auf weiteren 2255 Seiten Einträge in den Kategorien „Forschungskonzepte“, „Institutionen“, „Organisationen“ und „Zeitschriften“. Allein diese Zahlen machen deutlich, wie viele Informationen im HVW gebündelt vorliegen. Umfangreiche Personen- und Sachregister erleichtern die Recherche immens. Bei den einzelnen Lemmata handelt es sich weniger um streng formalisierte Lexikoneinträge, als vielmehr um – im Umfang recht unterschiedliche – Aufsätze, die alle über Fußnoten verfügen, was den tiefergehenden Einstieg in das jeweilige Thema deutlich erleichtert und über die bloße Angabe von wenigen weiterführenden Titeln hinausgeht.
Leider verzichten die Herausgeber indes erneut darauf, ihr Thema im weiten geistesgeschichtlichen Raum rechten Denkens zu verorten. Schwerpunktmäßig geht es um „die Einbindung der Wissenschaften in die Machtsphäre sowie deren Ressourcenaustausch mit dem NS-Regime“ (S. V), wobei auch die Zeit vor 1933 und nach 1945 berücksichtigt werden soll. Allerdings gehen die Herausgeber dann doch über diesen engen Bereich der Wissenschaft im „Dritten Reich“ hinaus, wovon ja bereits der Titel des Handbuchs zeugt. Tatsächlich werden die „Ursprünge des völkischen Gedankenguts“ bei den „Germanomanen“ (S. VII) gesehen, was in Einträgen zu Herder und dem Kritiker der Germanophilie Saul Ascher resultiert. Auch ist von einem „völkischen Milieu“ die Rede (S. VI), das indes nicht näher charakterisiert wird. Hier wäre eine intensivere Auseinandersetzung mit der jüngeren Forschung zur Völkischen Bewegung wünschenswert gewesen, hat diese doch auf unterschiedlichen Bahnen herausgearbeitet, dass es sich bei den Völkischen um ein Phänomen des späten 19. Jahrhundert handelte und den Völkischen trotz eifriger Bemühungen gerade die Milieubildung nicht gelang.3 Das instruktive Einleitungskapitel zur zweiten Auflage von Uwe Puschner (S. 9–18) stellt deshalb gleichermaßen einen wichtigen Beitrag zum Handbuch und in gewisser Weise einen Fremdkörper dar, finden sich doch viele der darin charakterisierten völkischen Systembauer gerade nicht im HVW – hier sei nur der damals sehr bekannte Literaturkritiker Adolf Bartels, der Antisemit Theodor Frisch, dessen „Handbuch der Judenfrage“ unter anderem den jungen Himmler beeinflusste und nach 1933 Texte von hohen NS-Funktionären wie Achim Gercke und Universitätsprofessoren wie Martin Staemmler enthielt, der Rassehistoriker Ludwig Schemann oder der Mitbegründer der Sozialanthropologie Otto Ammon erwähnt. Dies ist gerade deswegen zu bedauern, weil in der außeruniversitären völkischen „Wissenschaftsopposition“ in Kaiserreich und Weimarer Republik viele Gedanken zirkuliert wurden, die später ihren Weg in die Universitäten fanden. Mit Bruno Bauch, Adalbert Wahl und Max Wundt fehlen leider Einträge zu den ersten Ordinarien, die sich bereits in den 1920ern zu einer Wissenschaft auf völkischen Grundlagen bekannten und damit der Entwissenschaftlichung nach 1933 nicht unwesentlich vorbauten. Im Hinblick auf die Zeit nach 1945 wäre ein Eintrag zu Martin Heidegger lohnend.
Ein weiterer Kritikpunkt stellt die starke Konzentration auf die Geistes- und Sozialwissenschaften dar. Zwar gibt es gleich zwei Kapitel zur deutschen Waldforschung und gar eines über die „Volksdroge Methamphetamin“, aber gerade instruktive Erscheinungen wie die „Deutsche Physik“ finden mit lediglich einem Eintrag zu Philipp Lenard und randläufigen Erwähnungen zu Johannes Stark vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Am Beispiel der „Physikalisch-Technischen Reichsanstalt“ hätte sich bestens der Widerstreit von ideologischen (Abwertung der Forschung jüdischer Menschen) und praktischen Bedürfnissen (funktionierende Waffentechnik) zeigen lassen können. Keine Berücksichtigung scheint die „Deutsche Mathematik“ um Ludwig Bieberbach, Erhard Tornier und den zwischen Pazifismus, Katholizismus und Nationalsozialismus oszillierenden Gustav Doetsch zu finden. Gleiches gilt für die „Deutsche Chemie“ um Conrad Weygand, Karl Lothar Wolf, Rembert Ramsauer und Helmut Harms. Dass schließlich führende nationalsozialistische Ärzte – denen 1933 Tür und Tor für Menschenversuche und die radikale Umsetzung von bereits länger erträumten eugenischen Ansätzen geöffnet ward – wie Karl Gebhardt, Josef Mengele, Waldemar Hoven, Gerhard Rose, Wilhelm Beiglböck, Helmut Poppendick, Kurt Blome oder Paul Rostock, um nur einige wenige bedeutende NS-Mediziner aufzuführen, überhaupt keine Erwähnungen finden, stellt auch in der zweiten Auflage ein erhebliches Defizit des HVW dar, das hoffentlich im vorgesehenen Supplementband behoben werden wird. Auch wären Artikel zu Einrichtungen wie dem „SS-Institut für Pflanzengenetik“ wünschenswert, in dem in Tibet und hinter der Front in Russland gesammelte Pflanzen untersucht wurden, – lässt sich daran doch beispielhaft der Versuch der SS erkennen, einen Staat im Staate zu errichten, der selbstverständlich auch sein eigenes Wissenschaftssystem haben sollte.
Dennoch: das HVW ist eine hervorragende Ergänzung zum „Handbuch der Völkischen Bewegung“4, dem „Handbuch des Antisemitismus“5 und besonders dem zweibändigen Sammelwerk „Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften“ 6 und wird nicht nur den Forschern sehr hilfreich sein, die sich mit der Geschichte der Wissenschaften während des „Dritten Reichs“ beschäftigen, sondern allen an der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts Interessierten. Zeitgemäß ist der Plan der Herausgeber, das HVW gegebenenfalls in einer – aktualisierbaren und ergänzbaren – Online-Version zu veröffentlichen. Hierfür sei Herausgebern und Verlag viel Erfolg gewünscht und die leise Hoffnung geäußert, dass ein solches Unterfangen stilbildend in der diesbezüglich behäbigen Geschichtswissenschaft wirken wird. Es wäre an der Zeit.
Anmerkungen:
1 So zum Beispiel Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000; Rüdiger Hachtmann, „Wissenschaftsmanagement im ‚Dritten Reich’. Die Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“, Göttingen 2007; Frank-Rutger Hausmann, Die Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 2011.
2 Beispielsweise Peter Lundgren, Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1985; Hendrik van den Bussche (Hrsg.), Medizinische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Kontinuität, Anpassung und Opposition an der Hamburger Medizinischen Fakultät, Berlin 1989; Doris Kaufmann (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, 2 Bde., Göttingen 2000; Wolfgang U. Eckart (Hrsg.), Man, Medicine and the State. The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Research in the 20th Century, Stuttgart 2006; Otto G. Oexle / Hartmut Lehmann (Hrsg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, 2 Bde, Göttingen 2014.
3 Unter anderem Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001; Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008; zum ‚völkischen Milieu‘: Stefan Breuer, Gescheiterte Milieubildung. Die Völkischen im deutschen Kaiserreich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 995–1016.
4 Siehe Anmerkung 3.
5 Wolfgang Benz et al. (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus. 8 Bde, Berlin 2008–2015.
6 Otto G. Oexle / Hartmut Lehmann (Hrsg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, 2 Bde, Göttingen 2014.