Wenn heutzutage von der Potsdamer Garnisonkirche die Rede ist, verschmelzen Geschichte und Gegenwart. Die andauernde Auseinandersetzung über den Wiederaufbau der Kirche – im Krieg stark beschädigt und 1968 vom SED-Regime zerstört – zählt zu den strittigsten und hitzigsten politischen Debatten über Architektur und Städtebau im wiedervereinigten Deutschland. Zwangsläufig lasten auf der Geschichte des Gebäudes die Schmach des preußischen Militarismus und vor allem der „Tag von Potsdam“, der 21. März 1933. Angesichts dieser schwierigen Geschichte ist es nicht verwunderlich, dass die Kirche wieder zum politischen Streitpunkt geworden ist.1
Aus diesen Gründen ist es wichtig, die Geschichte der Garnisonkirche, ihrer praktischen Verwendung und symbolischer Ausbeutung im 20. Jahrhundert genauer zu verstehen. Matthias Grünzigs neues Buch „Für Deutschtum und Vaterland“ verspricht, die Grundlage für genau ein solches Verständnis zu bieten, indem es die Konturen der schwierigen Geschichte der Kirche vor und nach dem Zweiten Weltkrieg klar und unvoreingenommen nachzeichnet. Der Autor behauptet, er wolle „nur die Fakten präsentieren“, gerade damit sein Buch nicht als politischer Beitrag zu heutigen Debatten gedeutet wird.
Zunächst fällt an diesem Buch auf, dass es keine Architekturgeschichte ist. Das ist begrüßenswert, denn die beträchtliche Literatur, die zum Thema Garnisonkirche schon zur Verfügung steht, stammt weitgehend aus diesem Forschungsfeld. In Grünzigs Werk geht es vielmehr um die verschiedenen Nutzungen und Rollen der Kirche in den besprochenen Epochen sowie die mannigfachen daraus entstandenen Deutungen und Mythen, die mit dem Namen „Garnisonkirche“ so eng verknüpft sind. Die Geschichte der Potsdamer Garnisonkirche ist letztlich ebenso eine Geschichte von Menschen wie von Steinen.
Der Autor behandelt ausführlich vier ausschlaggebende Momente in der Geschichte der Garnisonkirche im 20. Jahrhundert. Die erste Periode, die Weimarer Zeit, handelt vom Gegensatz zwischen dem sogenannten „Geist von Potsdam“ und dem von Weimar, aus dem die junge und brüchige Republik ihre politische Legitimation abzuleiten versuchte. In den brutalen politischen Kämpfen der 1920er- und 1930er-Jahre stellte die Garnisonkirche einen symbolischen Mittelpunkt dar. In diesem Zusammenhang beschreibt Grünzig detailliert die Verwendung der Kirche von rechtsradikalen und konservativen Organisationen wie etwa der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), dem Stahlhelm und dessen weiblichem Pendant, dem „Bund Königin Luise“ (BKL), dem Deutschen Offizier-Bund (DOB) und natürlich auch der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Im Namen dieser Organisationen fanden innerhalb und vor der Kirche zahlreiche Feierlichkeiten, Feste und Gottesdienste statt. Während demokratische Bewegungen mutig versuchten, Gegenaktionen durchzuführen, habe sich Potsdam „unter der Herrschaft der DNVP zu einem antidemokratischen Refugium“ (S. 111) entwickelt, in dem Kaiserbüsten und -bilder die Schulwände zierten und die schwarz-weiß-rote Fahne des Kaisers wehte.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem „Tag von Potsdam“, von den Vorbereitungen bis zu den landesweiten begeisterten Reaktionen. Diese Verherrlichung der alten preußischen Traditionen sorgte dafür, dass ein für alle Mal der Geist von Potsdam den Geist von Weimar besiegt hatte. Dies wurde in einem der berühmtesten Bilder der ganzen Epoche versinnbildlicht, in dem der in Zivil gekleidete Hitler sich vor dem uniformierten 85-jährigen Reichspräsidenten Hindenburg ehrerbietig verneigt.
Aus diesem Ereignis wurde die Garnisonkirche in der NS-Zeit zur „Pilgerstätte für rechtsradikale und deutschnationale Kräfte“, die sie als „Geburtsstätte des Dritten Reichs“ feierten (S. 185). Außerdem diente sie einer Reihe von weltlichen propagandistischen sowie stark politisierten kirchlichen Veranstaltungen. Wenn der Nationalsozialismus wirklich eine „politische Religion“ war, dann war Philipp Gerlachs barockes Meisterwerk auf der Breiten Straße ihre Hauptkirche.
Das Bauwerk war aber in der NS-Zeit nicht nur von symbolischer Bedeutung, sondern hatte auch bestimmte praktische Funktionen. Dem Kriegseinsatz hat die Kirche zum Beispiel „psychologisch“ gedient, indem sie „die Soldatenkirche der Wehrmacht“ wurde (S. 186). In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass Grünzig, im Gegensatz zu verschiedenen seit dem Kriegsende entstandenen Mythen, behauptet, die Widerständler des 20. Juli gegen Hitler hätten keine bedeutende Beziehung zur Garnisonkirche gehabt.
Schließlich stellt der Verfasser das Schicksal des Gebäudes in der Nachkriegszeit dar, als Potsdam unter eine kirchen- und preußenfeindliche kommunistische Herrschaft fiel. Hier beschreibt er die Nutzung der stark beschädigten Kirche von der „Heilig-Kreuz-Gemeinde“ sowie die verschiedenen Versuche seitens der Sozialistischen Einheitspartei (SED), das Gebäude zu zerstören. Besonders beeindruckend in diesem Kapitel ist Grünzigs umfassende Verwendung von Quellen aus verschiedenen kirchlichen Archiven, die uns ein ganz anderes Bild vermittelt als das, das wir einem rein politischen Narrativ entnehmen könnten.
Laut Grünzig bildete der innerkirchliche Wunsch nach einer Modernisierung der Kirchenorganisation den Hintergrund für den endgültigen Beschluss, die Kirchenruine abzureißen. Die Reformer innerhalb der Kirchenleitung seien dazu bereit gewesen, die Garnisonkirche der Abrisskugel zu opfern, damit sie ein neues „Gemeindezentrum“ entwickeln konnten, das den neuen Ideen von „Demokratisierung“ und „Gemeindeleben“ entspreche (S. 291). Darüber hinaus hatten Kirchen- und Bezirksleitung sich bereits zum Wiederaufbau der Schinkel’schen Nikolaikirche verpflichtet. Diese perfekte Mischung von Geldmangel und reiner Gleichgültigkeit seitens der Kirche habe das Schicksal des Bauwerks besiegelt. Natürlich sei die Partei nur allzu gern bereit gewesen, dazu ihren Segen zu geben, so dass der Zerstörungsakt mit großer Geschwindigkeit umgesetzt werden konnte.
Dieses Argument ist besonders überzeugend. Genauso plausibel ist die Behauptung, Walter Ulbricht habe die Zerstörung nicht persönlich befohlen, wie oft vermutet wird. Der SED-Chef war selbstverständlich kein Anhänger der Garnisonkirche. Wie Grünzig aber zeigt, war das Schicksal des Gebäudes schon lange vor seinem Potsdam-Besuch im Juni 1967 besiegelt. Einige Fragen zur Zerstörung bleiben jedoch unbeantwortet: War z.B. der Symbolismus dieses Zerstörungsakts nicht auch für einige der Beteiligten von persönlicher Bedeutung? Mit Recht stellt der Verfasser die Frage, warum sich fast alle Diskussionen über das Schicksal des Gebäudes hinter verschlossenen Türen abgespielt haben. Es ist natürlich denkbar, dass die Geheimhaltung von der Befürchtung herrührte, dass viele Betrachter in der Zerstörung nur reinen Bildersturm und anti-kirchliche Haltungen sehen würden. Es wäre deshalb hilfreich gewesen, von solchen Stimmen zu lesen. Grünzig aber nimmt keinen Bezug auf die Haltungen von Potsdamer Einwohnern, die die Zerstörung aufhalten wollten.
Dieses Beispiel spiegelt einen generellen methodologischen Mangel des Werks wider: nämlich dass, obwohl die Quellenarbeit sehr lobenswert ist, es teilweise an Abstraktion fehlt. Sehr eindrucksvoll werden historische Ereignisse, Veranstaltungen und Entscheidungsprozesse durch zahlreiche zeitgenössische Zeitungsartikel und Archivquellen dargestellt. Sollte es nicht aber, um die Geschichte der Garnisonkirche im 20. Jahrhundert richtig zu deuten, genauso wichtig sein, nicht nur die Entstehung und Entwicklung der daraus resultierenden Mythen nachzuzeichnen, sondern auch deren Verwirklichung und Anwendung im politischen Raum? Hier wäre unter anderem die wegweisende Arbeit von Martin Sabrow nutzbar gewesen.2 Der Verfasser hätte sich vielleicht mit diesen Problemen in einer echten Schlussfolgerung beschäftigen können, die diesem Buch leider fehlt. Statt die verschiedenen Fäden zusammenzuweben und daraus ein narratives Fazit zu ziehen, endet das Buch etwas abrupt. Wahrscheinlich liegt das an Grünzigs Wunsch, die Arbeit nur auf Fakten und Quellen beruhen zu lassen und keinen bestimmten Beitrag zur andauernden Auseinandersetzung zu leisten. Der fehlende Schluss ist dennoch bedauerlich.
Keiner von diesen Kritikpunkten sollte aber auf das Werk insgesamt bezogen werden. Vielleicht erschließen sich gerade aus seinen Lücken weitere Aufgaben für Historiker, die auf dieser empirischen Grundlage aufbauen können. Ein Bedarf für weitere Arbeiten zur Garnisonkirche besteht: Die Debatten in Potsdam gehen weiter, und man kann vermuten, dass dort Grünzigs gut geschriebenes, leicht lesbares Buch Aufsehen erregen wird. Außerhalb des heutigen politischen Rahmens aber bietet es eine nüchterne, detaillierte und sachliche Forschungsbasis der Mythos- und Erinnerungspolitik dieses einzigartigen Gebäudes.
Anmerkungen:
1 Stefanie Oswalt,Streit um Wiederaufbau der Garnisonskirche; http://www.deutschlandradiokultur.de/potsdam-streit-um-wiederaufbau-der-garnisonkirche.1278.de.html?dram:article_id=370607 (08.08.2017).
2 Martin Sabrow, Politischer Mythos – anstößiger Überrest – auratischer Erinnerungsort. Die Garnisonkirche in der deutschen Geschichtskultur, in: Michael Epkenhans / Carmen Winkel (Hrsg.), Die Garnisonkirche Potsdam. Zwischen Mythos und Erinnerung, Freiburg 2013, S. 121–148; ders.: Mythos – Zankapfel – Erinnerungsort. Die Potsdamer Garnisonkirche in der deutschen Erinnerungskultur; http://garnisonkirche-potsdam.de/fileadmin/user_upload/Website/Dokument/vortraege_und_predigten/Die-Garnisonkirche-Mythos-Zankapfel-Erinnerungsort-Vortrag-Prof.-Sabrow-Juni-2011-.pdf (08.08.2017).