D. Henning: Periclitans res publica

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Title
Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5-493 n. Chr.


Author(s)
Henning, Dirk
Series
Historia Einzelschriften 133
Published
Stuttgart 1999: Franz Steiner Verlag
Extent
362 S.
Price
DM 146,68
Reviewed for H-Soz-Kult by
Andreas Goltz, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin Email:

Als Kaiser Valentinian III. im Jahr 454 n. Chr. seinen Heermeister Aetius ermordete und im darauffolgenden Jahr selbst einem Anschlag zum Opfer fiel, stürzte der Westen des Imperium Romanum in eine Krise, die innerhalb weniger Jahrzehnte zur Auflösung des Weströmischen Reiches und zur Etablierung mehrerer germanischer Staaten auf ehemaligem Reichsterritorium führte. Während die Ursachen für den dramatischen Niedergang der pars Occidentis in der Forschung seit langem intensiv diskutiert werden, hat die politische Geschichte des Westreiches nach 454/5 bisher relativ wenig Aufmerksamkeit gefunden. Offenbar versprach man sich von einer Auseinandersetzung mit dieser turbulenten Krisenzeit (neun Kaiser in zwanzig Jahren!) nur geringen Erkenntnisgewinn - zu Unrecht, wie die vorliegende, aufschlußreiche Arbeit von Dirk Henning zeigt.

In seiner Marburger Dissertation behandelt Henning erstmals ausführlich die politischen Umstände des Unterganges des Weströmischen Reiches in der Zeit von 454/5 bis 493 (Sturz Odoakers durch Theoderich den Großen). Sein Interesse gilt sowohl dem Verlauf des Zusammenbruchs als auch den an ihm beteiligten politischen Kräften, da erst eine detaillierte Kenntnis dieser beiden Problemfelder die Grundlage für eine Analyse der Ursachen des Zerfalls bilden kann. Charakteristisch für Hennings Studie ist, daß er ereignisgeschichtliche Untersuchungen mit strukturellen Überlegungen verbindet, was sich für die Erforschung des Gegenstandes als fruchtbar erweist. Der Aufbau der Arbeit wirkt zwar nicht immer glücklich - so wären Kapitel, in denen die Regierungszeiten der einzelnen Herrscher jeweils systematisch nach einem alle wesentlichen Aspekte umfassenden Untersuchungsraster (Umstände des Machtantrittes, Verhältnis zu den weströmischen Eliten, zu Konstantinopel, zu den Germanen) analysiert werden, vermutlich vorteilhafter gewesen, denn auf diese Weise hätten sich häufige Wiederholungen und Querverweise vermeiden lassen und der Zugang wäre generell erleichtert worden -, aber Henning vermag überzeugende Ergebnisse zu präsentieren, die insbesondere in Detailfragen über den bisherigen Forschungsstand hinausweisen.

Auf eine knappe Einleitung folgt eine Darstellung der katastrophalen Ereignisse der Jahre 454 und 455 (Ermordung des Aetius, der Kaiser Valentinian III. und Petronius Maximus, Einnahme und Plünderung Roms durch die Vandalen unter Führung Geiserichs), deren Folgen die ohnehin bestehenden politischen, militärischen und ökonomischen Probleme des Westreiches verschärften und die pars Occidentis auf Jahrzehnte hinaus schwer belasteten.

Im ersten übergreifenden Teil der Untersuchung analysiert Henning die Machtgrundlagen und politischen Handlungsspielräume der zehn weströmischen Herrscher von Petronius Maximus (455) bis Odoaker (476-493). Zunächst behandelt er ihre "Wege zur Macht", d.h. Herkunft, Laufbahn, Umstände der Machtübernahme und Regierungsende, um Aufschluß über die politischen Kräfte zu gewinnen, auf denen ihre Macht beruhte. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse vertieft und erweitert er in einem prosopographischen Kapitel zu den weströmischen Amtsträgern nach 455, einem Abschnitt über das von Kooperation und Konfrontation geprägte Verhältnis der Herrscher zu den weströmischen Eliten (Senatsaristokratie, Armee, Kirche) und einem Kapitel zu den wechselhaften Beziehungen der Westkaiser zu Konstantinopel.

Zusammenfassend stellt Henning fest, daß mit den Ereignissen von 454/5 im Westreich eine Fragmentierung und Regionalisierung der gesellschaftlichen Eliten einsetzte, die wesentlich zum Zerfall des Weströmischen Reiches beitrug. Das komplexe Beziehungsgeflecht, das Aristokratie und Heer bisher mit dem Kaiserhaus verbunden hatte, zerbrach. Eine Vielzahl von Interessengruppen beteiligte sich nun am Kampf um die Macht. Innerhalb der Aristokratie rivalisierten die stadtrömischen Geschlechter sowohl untereinander als auch mit den norditalischen und gallischen Familien. Und in der sich allmählich auflösenden Armee verfolgten die einzelnen Heeresverbände (Föderaten, Provinzialtruppen, präsentale Einheiten, buccellarii) unter ihren Befehlshabern zunehmend eigene Interessen.

Die nachfolgenden Herrscher, denen eine dynastische Legitimation weitgehend fehlte, konnten sich jeweils nur auf bestimmte Gruppierungen stützen und nie die Erwartungen aller politisch relevanten Kräfte erfüllen. Aufgrund der überaus kritischen außenpolitischen und finanziellen Situation des Reiches, die Henning im zweiten Teil ausführlicher behandelt, fehlte ihnen hierfür der Handlungsspielraum. Ihre Versuche, längerfristig stabile Herrschaften aufzubauen, scheiterten, was wiederum den Auflösungsprozeß des Reiches verstärkte. Lediglich die katholische Kirche und Ostrom profitierten von dieser Entwicklung. Die Kirche füllte die Lücke, die infolge des Zusammenbruchs staatlicher Strukturen entstand. Zudem konnte sie aufgrund des Niedergangs des westlichen Kaisertums und der weitgehenden Unabhängigkeit von Konstantinopel unter Odoaker selbständiger und selbstbewußter agieren. Ostrom wiederum erlangte aufgrund der Krise eine gewisse Überlegenheit über das Westreich, die sich in einem politischen Führungsanspruch und in Eingriffen in die militärischen und politischen Strukturen des Westens manifestierte (Frage der Anerkennung der Westkaiser, Entsendung von Truppen und östlichen Thronkandidaten). Die Eliminierung des westlichen Kaisertums wurde von Konstantinopel zunächst stillschweigend, dann offen akzeptiert, solange nur die germanischen Herrscher den Ostkaiser formell als Herrn anerkannten und sich keine Möglichkeit zur direkten Beherrschung des Westens bot.

Im zweiten Teil seiner Untersuchung zeichnet Henning in drei Kapiteln den Auflösungsprozeß des Weströmischen Reiches nach. Zunächst wendet er sich den vier wichtigsten, auf Imperiumsboden lebenden Germanenvölkern zu und legt dar, wie Westgoten, Burgunder, Vandalen und Franken die Krise nutzten, um zu expandieren und selbständige Reiche zu errichten. Danach behandelt er strukturelle Probleme wie das konfliktreiche Verhältnis zwischen Kaiser und Heermeister und die prekäre Finanzlage des Westreiches. Die Versuche der einzelnen Herrscher, auf die bedrohliche Situation zu reagieren, werden ebenso reflektiert wie die Rolle des Senats, der im Zuge der Krise als Legitimierungsorgan und Standesvertretung der weiterhin prestige- und finanzstarken Aristokratie an politischem Gewicht gewann. Zuletzt beschreibt Henning, wie sich unter dem Druck der Verhältnisse der spätantike Militär- und Verwaltungsapparat auflöste. Nur im Kernbereich Italien, einschließlich der von Odoaker und Theoderich beherrschten Gebiete in Gallien und Dalmatien, sowie teilweise in den Sezessionsgebieten (Dalmatien, Teile Galliens) blieben die traditionellen politischen und militärischen Strukturen erhalten.

Im Fazit behandelt Henning noch einmal die wesentlichen Aspekte der Beseitigung des westlichen Kaisertums und der Herrschaft des rex Italiae Odoaker. Unter der Regierung des letzteren stabilisierte sich die Lage wieder. Dem germanischen König gelang es, durch die Abschaffung des Kaisertums die Macht endgültig auf das Militär zu verlagern und dem fundamentalen Konflikt zwischen Heermeister und Kaiser die Basis zu entziehen. Mangels Alternative konzentrierten sich die Eliten des Westreiches auf seine Person, und durch die Sicherung Italiens vor äußeren Gefahren, die Verbesserung der fiskalischen Situation, die Förderung des Senates und das ungehinderte Wirken der katholischen Kirche vermochte Odoaker ihre Erwartungen weitgehend zu erfüllen. Lediglich bei der längerfristigen Legitimierung seiner Herrschaft hatte Odoaker keinen Erfolg, und nach Henning war das Problem seiner unsicheren Rechtsstellung letztlich der Grund für das Scheitern Odoakers.

Hennings Arbeit gebührt Anerkennung. Seine Studie bietet nicht nur einen fundierten Überblick über die politische Geschichte des Westreiches nach 454/5, sondern auch eine differenzierte Analyse der Ursachen des Zerfalls. Einige Punkte geben zwar Anlaß zur Kritik: So erweist sich etwa die im ersten Teil breit behandelte Problematik der Rivalität innerhalb der Senatsaristokratie, vor allem innerhalb der stadtrömischen Familien, nicht immer als erhellend. Die Gründe, die Maiorian und Ricimer bewogen, ohne vorhergehende Kaisererhebung Maiorians mit dem Herrscher in Konstantinopel über ihre Stellung im Westen zu verhandeln und sich damit in eine stärkere Abhängigkeit von Ostrom zu begeben, bleiben im dunkeln. Die besonderen Umstände von Odoakers Herrschaft - Beschränkung auf Italien und damit Wegfall potentieller Konfliktherde, weitgehende Germanisierung des Heeres, nachlassender Expansionsdrang der benachbarten germanischen Völker, relative Schwäche des Ostreiches - werden nur partiell berücksichtigt.

Hennings vorrangig rechtshistorische Perspektive bei der Begründung von Odoakers Scheitern (keine längerfristige Legitimierung) ist nicht unproblematisch, da angesichts des geradezu 'machiavellistischen' Pragmatismus der byzantinischen Politik zu bezweifeln ist, ob eine sichere Rechtsstellung Odoakers Ostrom tatsächlich daran gehindert hätte, ihn zu beseitigen, sobald dies in seinem Interesse und im Bereich seiner Möglichkeiten lag. Doch wird die Leistung Hennings hierdurch nicht geschmälert. Die Forschung zum Untergang des Weströmischen Reiches ist um eine ebenso nützliche wie anregende Arbeit reicher.

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