A. Dossmann u.a.: Fabrikation eines Verbrechers

Cover
Titel
Fabrikation eines Verbrechers. Der Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte


Autor(en)
Doßmann, Axel; Regener, Susanne
Erschienen
Leipzig 2018: Spector Books
Anzahl Seiten
332 S., 386 Abbildungen, davon 87 in Farbe
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Saupe, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Historiker Axel Doßmann und die Kulturwissenschaftlerin Susanne Regener haben eine faszinierende, materialgetriebene, anschauliche und gut lesbare Mediengeschichte über den Fall eines Köpenicker Kutschers und Hilfsarbeiters geschrieben, der Ende der 1930er-Jahre wegen mehrerer kleinerer Diebstähle in die Fänge der Staatsmacht geriet. Das hört sich zunächst nach einem unspektakulären Sujet an, doch die Geschichte nahm einen ungewöhnlichen Verlauf: Im Zuge der „Erbgesundheitspolitik“ diagnostizierten Ärzte „angeborenen Schwachsinn“, Juristen ordneten die Zwangssterilisation des ehemaligen Hilfsschülers an. Nach einem Mord an einer Frau 1943 kam der Mann ins Visier der Kriminalpolizei, die ihn als Tatverdächtigen festnahm. Dort geriet er in die Fänge des offensichtlich überehrgeizigen, rassenbiologisch geschulten Kommissars Heinrich Franz. Franz machte aus dem 1908 geborenen Bruno Lüdke einen der übelsten Serientäter aller Zeiten: Über 50 Morde soll er von den 1920ern bis in die 1940er-Jahre verübt haben. Davon zumindest scheint Kriminalkommissar Franz überzeugt gewesen zu sein, der in einem aufwendigen Verfahren Bruno Lüdke diese Morde „nachwies“: unter anderem mit Suggestivfragen, fotografisch dokumentierten Nachstellungen der Verbrechen im Zuge von Tatortbesichtigungen und falschen Versprechungen auf vorzeitige Entlassung gegenüber dem gutgläubigen Lüdke. Ohne dass ein Gerichtsverfahren stattfand, ermordete man Bruno Lüdke 1944 im kurz zuvor eröffneten Kriminaltechnischen Zentralinstitut der Sicherheitspolizei in Wien.

Damit ist die Geschichte nicht zu Ende, sondern sie beginnt jetzt erst im Zuge ihrer umfassenden Medialisierung: 1946 kann man von dem Fall in der Presse lesen, wie Doßmann und Regener erstmals zeigen, und schon jetzt wird der Fall des vermeintlichen Serientäters als Analogie auf die nationalsozialistischen Massenverbrechen genutzt, gerade weil er nämlich in der Endphase des Krieges geheim gehalten wurde, wie die Berichte immer wieder anklagend und entschuldend zugleich betonten. Neben einer Reportage in der „Neuen Berliner Illustrierten“ ist insbesondere die Erwähnung des Falls in einer Serie des „Spiegels“ hervorzuheben, die in einer Art Schuldumkehrung den Chef der Kriminalpolizei Arthur Nebe weitgehend entlastete und aus dem „in der Haft willfährig gemachten Hilfsarbeiter einen vertierten Frauen- und Massenmörder“ machte (S. 203). Die nächste prominente Medialisierung war dann der „Dokumentarbericht“ „Nachts, wenn der Teufel kam“ von Will Berthold in der „Münchner Illustrierten“, der auf zahlreiche archivarische Fotoaufnahmen zurückgreifen konnte und damit zugleich die wesentliche Ausgangsbasis für den gleichnamigen Film von Robert Siodmak von 1957 war. Siodmak machte aus dem Stoff nicht nur eine komplexe Parabel auf das NS-Regime, sondern verschaffte dem Fall nicht zuletzt aufgrund der schauspielerischen Leistung Mario Adorfs als stupider Massenmörder eine derartige internationale Berühmtheit, dass er auch noch heute auf diversen Internetportalen als einer der aktivsten Serientäter aller Zeiten gehandelt wird.

Dass die Nachkriegsmedien sich überhaupt ein so detailliertes Bild von dem Fall machen konnten, lag an der reichhaltigen Dokumentation des Falles durch die beteiligten NS-Behörden, die neben den zwischenzeitlich verschwundenen Verhörprotokollen unter anderem zahlreiche Fotos, eine Büste und den Gipsabdruck der Hand des Täters umfasst. Ob dieses als Propagandamaterial dazu genutzt werden sollte, das für 1945 geplante, sich gegen bestimmte „Persönlichkeitstypen“ wie „Versager“, „Taugenichtse“, Sexualverbrecher und „gemeinschaftsfremde“ Lebensweisen richtende „Gesetz über die Behandlung von Gemeinschaftsfremden“ medial zu legitimieren, bleibt eine Vermutung im Anschluss an schon früher geäußerte Mutmaßungen. Freilich tut das wenig zur Sache, denn bekanntlich hat das NS-Regime genug Wege gefunden, gegen sogenannte „Asoziale“ vorzugehen. Wichtig für die Rezeption nach dem Krieg ist hingegen, dass man damit das dem Fall imprägnierte rassenbiologische Denken weitertrug, wenn man über eine „Bestie in Menschengestalt“ fabulierte.

Nun ist es nicht so, dass Axel Doßmann und Susanne Regener den Fall erstmals ans Licht bringen. Vielmehr hat Regener selbst maßgebliche Aufsätze zur Rezeption des Falles in der frühen Bundesrepublik geschrieben.1 Dass Lüdke kein Massenmörder war, sondern man ihn in einem aufwendigen Verfahren während des Krieges dazu überredete, mehr oder minder vorfabrizierte Geständnisse zu bestätigen, weiß man seit den Arbeiten des niederländischen Kriminalisten Jan Blaauw.2 Und dass der Fall nur eines von zahlreichen Beispielen eines populären Erzählmusters ist, nach dem Serien- bzw. Frauenmörder als metonymische Figuren für die Täter der nationalsozialistischen Verbrechen herhalten mussten, ist anderorts ausführlicher betont worden.3

Noch nie aber wurde der Fall in dieser Ausführlichkeit im Hinblick auf verschiedene Medienlogiken analysiert, noch nie mit derart leidenschaftlicher Akribie verstreutes Material zusammenzutragen, um den Fall so weit wie möglich zu rekonstruieren und die Leser und Leserinnen daran teilhaben zu lassen. Mit dem Anspruch, die komplexe kriminalistische, archivarische und mediale Fabrikation eines Verbrechens kritisch aufzuzeigen und ihre historischen Kontexte nachzuvollziehen, kann das Buch als Lehrbeispiel für historische Forschung im Bereich der Visual History, aber auch der Mikrogeschichte dienen. Dazu trägt nicht zuletzt bei, dass das Buch ungewöhnlich daherkommt, es ist zugleich ein visuell-gestalterisches „Experiment“ (S. 7): Umgesetzt von Markus Dreßen vom Leipziger Spector Books Verlag, haben die beiden Autoren im Zusammenspiel mit den Dokumentarfotografen Jonas Zilius und Thomas Platow Archiv- und Bildmaterial zusammengetragen, das nun in bibliophiler Gestaltung dem Leser präsentiert wird. Die „Potentiale der Gestaltung des wissenschaftlichen Buches“ seien „gewiss noch lange nicht ausgeschöpft“, schreiben die beiden Autoren, und so wollen sie mit ihrem Buch mehr „Aufmerksamkeit für die sinnlichen Ebenen von wissenschaftlicher Arbeit“ schaffen und dabei „die erkenntnistheoretische Neugierde“ und „historische Imaginationskraft“ befördern (S. 7).

Durch die aufwendige Aufmachung begibt man sich tatsächlich imaginativ in ein archivarisches Konvolut, in die vielzitierte „Werkstatt“ (Marc Bloch) von Historiker/innen und nun auch Kulturwissenschaftler/innen, stöbert in Pappkartons, taucht in Aktenstücke ein, die mit erklärenden und einordnenden, oft durchaus kurz gehaltenen Texten präsentiert werden. Historische Recherche und Reflexion wird als detektivische Geschichtsarbeit präsentiert, zumal Doßmann mit kriminalistischem Spürsinn anhand des überlieferten Materials sogar plausibel die These aufstellen kann, dass Lüdke wohl im Zuge der Erprobung vergifteter Munition wissentlich ermordet und seine Sterbeurkunde höchstwahrscheinlich rückdatiert wurde, um die Verantwortlichen für die Tat zu verschleiern und entlasten. Dass freilich der Sprung von der hier brillant vorgeführten empiriegestützten Argumentation zu einer ideologisch verbrämten „Beweisführung“ oft gar nicht so weit ist, davon lehrt der Fall ja selbst: Glaubhafte Evidenzen werden nicht nur durch Strategien des Bildarrangements in Macht- und Medienapparaten erzeugt, sondern verlangen auch nach einem Publikum, das diese Ansichten bereitwillig teilt.

Die Buchgestaltung ist für wissenschaftliche Arbeiten ungewohnt; so werden zum Beispiel verschiedene Schrifttypen für den Titel ausprobiert, um auf ihr assoziatives Potential und ihren Gebrauch in den untersuchten Medialisierungen aufmerksam zu machen. Zugleich greifen die Gestalter aber auf durchaus erprobte und teils auch aus der populären „dokumentarischen“ Kriminalliteratur vertraute Präsentationsformen zurück, wenn etwa Kurzprofile der beteiligten Protagonisten des Falles versammelt werden (S. 182–183) oder Zeitleisten den Zusammenhang von „kleinem Fall“ und „großer Weltgeschichte“ verdeutlichen sollen (S. 89–91).

Doch bei aller Begeisterung, die das Buch auslöst, bleibt die reflexive Re-Mediatisierung zugleich ambivalent. Wenn archivarische Dokumente als Zitat, als hochwertige Abbildung oder als Transkript mehrfach repräsentiert werden, dann kann das einerseits ihre mediale und argumentative Wirkung hinterfragbar machen. Andererseits werden dadurch die Dokumente aber auch über die Maßen auratisiert und stilisiert. Ambivalent ist auch der Umgang mit dem Bildmaterial: Einerseits kann man argumentieren, dass es den Autoren gelingt, die Macht der Bilder und Illustrationen zu verdeutlichen und zu dekonstruieren, andererseits kann man sich aber auch nicht des Eindrucks verwehren, dass die Buchmacher von ihrem Material derart fasziniert waren, dass sie gegenüber den Bildproduzenten bisweilen doch nicht die notwendige Distanz finden.

Dekonstruiert werden beispielsweise durch eine multiperspektivische fotografische Annäherung die nach dem Krieg noch in diversen Reportagen genutzte Büste des vermeintlichen Verbrechers und dessen „Mörderhand“, die den Lesern nun in unterschiedlichsten Blickwinkeln und Variationen dargeboten werden: Dadurch gelingt es, sie als Trophäen zu dechiffrieren, die den ihnen einst zugeschriebenen Schrecken schnell verlieren. Dass aber einige stigmatisierende Polizeifotos aus ethischen Gründen mit einem Raster verdeckt werden (S. 8), um die Gewalt der Bilder nicht zu reproduzieren, evoziert die Frage, ob hier nicht eine zeittypische Pietät waltet, die tatsächlich mehr verdeckt als offenlegt – und die zugleich nicht verzichten möchte. Denn wenn der Beitrag der Fotografie zur Konstruktion von Verbrechern und Tatopfern reflektiert werden soll, kann man sicherlich nicht davor zurückschrecken, die Dehumanisierung des Menschen in polizeilichen Nacktdarstellungen zu thematisieren. Das wirft dann aber zugleich die Frage auf, ob es überhaupt nötig ist, derart aufwendig das letztlich von der NS-Kriminalpolizei hergestellte und dann von einer sensationshungrigen Nachkriegspresse verwendete Material nochmals zu publizieren. Hätte man statt der Rasterung dieser Bilder diese nicht gleich weglassen können – um sie stattdessen mit Worten zu umschreiben?

Nun sind das natürlich Fragen, die die beiden Autoren mit ihrem Buch aufwerfen möchten. Während man über den Umgang mit rassistisch konnotierten Täterfotografien und Trophäen weiter diskutieren muss, ermöglicht das Buch auch eine Diskussion darüber, wie sich die Geschichts- und Medienwissenschaften in der Wahl und Präsentation ihrer Dokumente von den Evidenzstrategien historischer Tatsachenberichte abgrenzen müssen, sollen und können. Am Schluss der Lektüre der umfänglichen Studie mag man jedenfalls fast zu der Auffassung gekommen sein, dass der Fall nun als abgeschlossen zu den Akten gelegt werden kann. Zumindest vorerst – bis nämlich verschobene Sichtpunkte neue Fragen aufwerfen, neue Re-Medialisierungen die Rezeptionsgeschichte weitergeschrieben haben, oder sich Historiker und Historikerinnen vielleicht doch noch auf die Spuren der tatsächlichen Täter der Lüdke zugeschobenen Morde machen. Man weiß ja nie.

Anmerkungen:
1 Susanne Regener, Das Phänomen Serienkiller und die Kultur der Wunde, in: Irmgard Bohunovsky-Bärnthaler (Hrsg.), Von der Lust am Zerstören und dem Glück der Wiederholung, Klagenfurt 2003, S. 75–95; dies., Mediale Transformationen eines (vermeintlichen) Serienmörders. Der Fall Bruno Lüdke, in: Kriminologisches Journal 1/01 (2001), S. 7–27.
2 Johannes Albertus (Jan) Blaauw, Kriminalistische Scharlatanerien. Bruno Lüdke – Deutschlands größter Massenmörder? in: Kriminalistik 48 (1994), S. 705–712. Siehe auch: Patrick Wagner, Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Polizei und der Nationalsozialismus, München 2002, S. 7–13.
3 Achim Saupe, Der Historiker als Detektiv, der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, Berlin 2009, S. 377ff.

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