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Titel
Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs. Die Lex Salica im Frankenreich


Autor(en)
Ubl, Karl
Reihe
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 9
Erschienen
Ostfildern 2017: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
313 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ludolf Kuchenbuch, Berlin

Das Schlusskapitel der anzuzeigenden Untersuchung ist in vorsichtiger Manier mit „Für eine andere Rechtsgeschichte“ überschrieben. Was nun meint „anders“? An etwas versteckter Stelle (S. 29f.) wird der Verfasser deutlich. Er versteht sein Buch „als einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Rechts. Es beruht auf der Annahme, dass sich die Bedeutung von Normen erst durch die Berücksichtigung der religiösen, moralischen, politischen und kulturellen Überzeugungen einer Gemeinschaft erschließt“. Die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes hatte Ubl bereits 2008 in seiner monumentalen Monographie über die Genese des Inzestverbots im früheren Mittelalter unter Beweis gestellt. Damals hat er im minutiösen chronologischen Durchgang durch alle Zeugnissplitter (300–1100) die instabilen Formulierungen zur Eheillegitimität (samt ihrer impliziten moralischen Vorannahmen) in ihren diskontinuierlichen, ja kontingenten Ausformungen und Steigerungen bis hin zur nicht mehr praktikablen päpstlichen Exogamie-Norm freigelegt. Ähnlich beeindruckend – aber methodisch radikal gedreht – geht es nun um die funktionalen Wandlungen eines jahrhundertelang wortlautstabilen Textes (textus), den des ‚fränkischen’ Rechts. Ubls Programm: „Die Geschichte der Lex Salica und der dazugehörigen Texte werde ich […] dazu verwenden, die Sinnstiftungen von Recht und Gesetzgebung in der politischen Kultur des Frankenreiches zu beleuchten. Im Besonderen beziehe ich mich auf die gemeinschaftsbildende, symbolische und mystische Dimension von Gesetzgebung. Diese Dimensionen setzen nicht voraus, dass die Normen nach der Vorstellung des ‚Buchstaben des Gesetzes‘ umgesetzt, angewandt und eingehalten werden, aber sie können auch nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn die Normen als Normen, d.h. als verpflichtend und mit Autorität versehen, wahrgenommen werden“ (S. 29).

Herausgekommen ist eine höchst lesenswerte „Biographie“ der Lex Salica (S. 12), eines Krondokuments seiner Epoche, von seiner ‚Geburt‘ als Schriftwerk schon vor der fränkischen Eroberung Galliens über die klar erkennbaren und vermutlichen ‚Etappen‘ seines chamäleonartigen politischen Rollenwechsels im fränkischen Reich der Merowinger und Karolinger sowie in den folgenden beiden Jahrhunderten bis zu seinem ‚funktionalen‘ Siechtum und Ableben im Zuge der von Juristen getragenen Rezeption des römischen Rechts (12. Jahrhundert). Diese Erzählung konnte deshalb so trefflich gelingen, weil sie auf der digitalen Aufbereitung der 80 Handschriften der Lex Salica im Verbund mit der gesamten kodikalen Mitüberlieferung (300 Rechtstextzeugen) fußt – bequem aufsuchbar für Jedermann über die Bibliotheca legum Francorum der Uni Köln. Der Verfasser liefert einen mit allen philologischen, überlieferungskritischen und interpretativen Wassern gewaschenen chronologischen Beweisgang dieses Text-Buch-Daseins in den wechselnden politischen Milieus der fränkischen Zeit. Es geht ihm dabei, streng im Sinne seines kulturhistorischen Maßstabs, um die normative Rolle der Lex Salica im Großrahmen der gentil fundierten, weltlichen Reichsherrschaft der Franken inmitten der plurigentilen Rivalitätsdynamik des poströmischen Okzidents, sowie in steter Abarbeitung sowohl am fortwirkenden römischen Recht als auch dem an Terrain gewinnenden synodalen Kirchenrecht.

In sechs großen Kapiteln handelt Ubl diese überraschend abwechslungsreiche Gebrauchs-Geschichte eines ‚Rechtsbuches‘ ab, dessen sachliche und sprachliche Resistenz, ja Petrifiziertheit von Anbeginn so rätselhaft erscheint. Grundlage seiner Spurverfolgungen bildet nicht ‚der‘ Text, sondern solide datierte und lokalisierte Leithandschriften, in denen die Lex Salica in den verschiedensten Fassungen (A, C, D, E, K), der Verfasser nennt sie auch „Redaktionen“, neben anderen Rechtsaufzeichnungen (Leges anderer Gentes, Ergänzungen, Paratexte, Kapitularien, Synodalakten) überkommen ist. Diese überlieferungskritische Verankerung der Lex in Zeit und Raum bietet dann die Chance, möglichst viele Aspekte der jeweiligen rechtskulturellen Situation zu eruieren und zu diskutieren und der spezifischen Relevanz der Lex Salica im aktuellen politischen Milieu nachzugehen. Welche Gesinnungstat, welche Sinnstiftung also tritt mit bzw. in jeder Neuschrift zutage? Der restituierte Misch-Kodex als heuristischer und hermeneutischer Joker! Wie Ubl ihn nutzt, verlangt hohen Respekt ab. Ein den zahlreichen Einzelergebnissen gerecht werdender Bericht könnte kaum gelingen. Dürre Reformulierungen von Kapitel- oder Abschnittstiteln würden unter dem Niveau der eleganten Darlegungen bleiben, deren jeweiliger Stellenwert im Beweisgang durch vielfältige Reprisen bewusst gehalten wird. Da der Sinn der Kapiteltitel sich erst nach der Lektüre voll erschließt, lese man – vorweg – das hervorragende Buchresumé (S. 30–35).

Hier kann also nur oberflächlich berichtet werden. Im ersten Schritt (Kapitel 2: Warum Barbaren Gesetze erlassen, S. 37–66) erörtert der Verfasser die rechtspolitischen Lösungen, zu denen im Gallien des 5. Jahrhunderts die rivalisierenden westgotischen, burgundischen und fränkischen Machthaber im Zusammenwirken mit ihrer Entourage, ihren Volksgenossen und der romanischen Bevölkerung sowie in Auseinandersetzung mit römischen Rechtspraktiken und -traditionen gefunden haben – für Ubl ein cultural battlefield um politische Hegemonie (S. 30). Erst die genauen Profilierungen der Kompromisse, die die jeweiligen Leges zum Ausdruck bringen – enge oder lockere Anlehnung ans römische Vulgar- bzw. Kaiserrecht, Betonung der Autorität des Königs als Gesetzgeber bzw. Richter im Verhältnis zum ‚Volk‘, Einfluss der christlichen Bekenntnisform und des regionalen Kirchenregiments – erlauben es, die Sonderstellung der Lex Salica zum Zeitpunkt ihrer Entstehung überraschend klar herauszustellen: eine titellose mischsprachliche Bußtaxenkompilation, bezogen auf eine „kleinräumige agrarische Lebenswelt“, voller bizarrer Rechtsrituale, frei von jeglichem Einfluss des Christentums und des römischen Rechts, und last but not least mit einer nur „wenig ausgeprägten gesetzgeberischen Kompetenz des Königtums“ (S. 11). Die Lex Salica: Spiegel einer Randlage vor der Expansion, Angebot an den gentilen Zusammenhalt (Identität). Ein Gegenentwurf zu den kompromisslerischen Lösungen der ‚Anderen‘. Konsequent wird die Lex Salica dann (Kapitel 3) als ein Monument originaler Alterität ausgewiesen, das den Franken – gegenüber den römischen Nachbarn – drei Vorrechte zuerkennt (das doppelte Wergeld, keine Unterordnung unter den Richter, keine sklavistischen Körperstrafen) und von Anfang seine Geltung als identitärer Gründungsmythos. In Kapitel 4 wird dargelegt, wie unterschiedlich die Lex Salica im 6./7. Jahrhundert unter den Merowingern von Chlodwig bis zu Chlothar II. wirkte. Sie wird formal reskribiert, redigiert (umgestellt, gekürzt) und paratextuell ergänzt, inhaltlich zeitweilig ,royalistisch‘ abgeschwächt, dient auch als Vorbild für Neubildung (Lex Alamannorum), besteht im Gefüge des fränkischen Rechtspluralismus als Regionalrecht und wird gegen senatorische (Venantius Fortunatus) und kirchliche Alternativkonzepte (Gregor von Tours) abgeschirmt. Inzwischen als originales Recht der Franken geltend, wird es jedoch weder real noch ideologisch verallgemeinert, verliert rechtspraktisch eher an Boden.

Wie Ubl dann ereignisreich, aber in handschriftlicher Perspektivik fortfährt, kann hier nur ganz grob angedeutet werden. Unter König Pippin wird eine reichssymbolische Wiederaufwertung der (inzwischen gerichtspraktisch schwindend relevanten) Lex unter neuen Vorzeichen versucht (Dynastiewechsel, Abgrenzung nach Süden und Osten), was aber formal misslang (Kapitel 5). Karl der Große ließ dann mit zwei neuen Redaktionen nicht nur für ein höheres schriftlateinisches Niveau des Rechts-Textes im Rahmen seiner Bildungsreform sorgen. Weiter erkannte er auch – als hoheitlicher Garant der ursprungsmystischen Geltung des Rechts – den Pluralismus und Eigensinn der gentilen Rechte und ihrer Protagonisten im Reich an und förderte deren Aufzeichnung (Friesen, Sachsen, Thüringer). Aber zugleich ließ er sie durch aktualisierende Korrekturen und Ergänzungen modifizieren, ja schwächen (Kapitularien) (Kapitel 6). Unter Ludwig dem Frommen und Karl dem Kahlen wird nicht nur das Begründungsverhältnis zwischen den Leges und den administrativen Herrschererlassen schrittweise umgekehrt (wozu die Kapitulariensammlung des Ansegis entscheidend beiträgt), es kommt auch zu einer massiven Aufladung des weltlichen Rechtsschriftguts mit dem römischen und mit dem auf Einheit abzielendem kirchlichen. Und als im Zuge der Normannenabwehr jede regional-gentile Identität ihren Sinn verlor, verlor sich auch die ideologische Berufung aufs ‚Recht der Franken‘ (Kapitel 7). Besonders eindrucksvoll ist dem Verfasser Kapitel 8 gelungen, in dem danach gefragt wird, wem denn die vielen Rechts-Handschriften dieser Zeit gedient haben könnten – über die wenigen bei Hofe hinaus. Die Antworten geben nicht die Gerichtsprozesse – die wenigen Urkunden darüber schweigen über die Benutzung von Rechten. Die Antwort bieten indirekt die Handschriften selber. Nur wenige weisen zwar ihre Besitzer namentlich aus. Aber sie enthalten und vereinen so durchweg Kompilationen weltlicher Rechte mit einschlägigen Ergänzungen. Schließlich: Es sind in der Mehrzahl gut hantierbare Kleinkodizes. Und man weiß aus vielen Herrschererlassen, dass die ins Land geschickten Administratoren mit solchem Rechtswissen in Schriftform ausgestattet sein sollten. Die überlieferten Gebrauchs-Handschriften liefern den Beweis dafür, dass es die regionalen administrativen Aristokraten waren, die mit diesen Büchern, und damit auch mit der Lex Salica, unter welchem Normdruck und in welcher Form immer, umgingen. Und dies war auch noch im 9. und 10. Jahrhundert der Fall, das zeigen die vielen Textzeugen dieser Zeit. Die Zeiten der identitären Indienstnahme und der symbolischen Zentralperspektive waren vorbei, aber bei Gericht blieb die Lex Salica im Taschenkodex ‚präsent‘.

In seinem programmatischen Epilog (S. 245–254) ordnet Ubl seine Ergebnisse dann unter die viel weitergehende Frage ein, ob dem früheren Mittelalter eine Rechtskultur eignete, die neben dem spätrömischen ‚Schwund‘ und dem Aufschwung der Rezeption bestehen konnte. Ich bin überzeugt, dass seine Hauptargumente – die Fort-Schreibungen, die Nutznießer, vor allem aber das besondere Normverständnis (eben keine Funktion als sanktionsunterfütterter ‚Gesetzes-Buchstabe’) – tragen. Aber das muss die Diskussion unter den Rechtsgeschichtsspezialisten erweisen, die offen für die kulturalistische Umorientierung des Verfassers sind.

Für mich haben sich zwei Anschlussfragen ergeben. Zum einen: Als Parteigänger der Kritiker der Realitätswirkung ‚des‘ (schriftlichen) Rechts und Befürworter aller Bemühungen um die Konkretisierung partikularer Rechte (primär als Gewohnheiten) kommt mir die These von der identitären bzw. symbolischen Funktion ‚des‘ Rechts wie eine Re-Singularisierung vor, die ein besseres Verständnis des Ineinanderwirkens von symbolischem Herrschaftshabitus und situativem Lösungspragmatismus leistet. Soll damit der Geltungszeit der „Rechte“ (iura) als Gegenstrategie gegen das „Recht“ (ius) nun ein Suchen nach dem Ineinander beider Positionen folgen? Ich wäre dafür! Begrüßen würde ich zum Zweiten, wenn die Indizien, die Ubl für eine frühmittelalterliche Textualisierung und Textualität der Lex Salica im Verbund der textus librorum legum (S. 190) zusammengetragen hat – im Feld sowohl der reskriptiven Differenzierungs- und Klärungsgewinne als auch der ordinativen Positionierung der Lex Salica unter ihresgleichen und den konkurrierenden bzw. begleitenden Gattungen –, an die inzwischen breit entwickelte schriftkulturelle Forschung angedockt würde. Die Gebrauchsgeschichten der frühmittelalterlichen Leges als epochenspezifische Bausteine der umfassenden Textogenese des okzidentalen Denkstils und Schreibgebarens – vor der scholastischen Spaltung von textus und glosa!

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