Cover
Titel
Alien policy in Belgium, 1840-1940. The creation of guest workers, refugees and illegal immigrants


Autor(en)
Caestecker, Frank
Erschienen
New York, Oxford 2000: Berghahn Books
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
£47,-
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Fahrmeir

1976 erschien ein Buch mit dem etwas verwirrenden Titel ”Why Switzerland?” 1. Die Überschrift sollte eine ganze Reihe von Fragen zugleich aufwerfen - unter anderem nach dem besonderen Erfolg der Schweiz. Eine weitere Frage sollte sein, warum die Schweiz für ein englischsprachiges Publikum von besonderem Interesse sein könnte. Der Titel von Frank Caesteckers Buch über die belgische Ausländerpolitik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts läßt gewiß bei manchem die analoge Frage ”Warum (ausgerechnet) Belgien?” aufkommen.

Gewiß, keiner bezweifelt, daß die Geschichte der Ausländerpolitik ein hochinteressantes Thema mit vielen aktuellen Bezügen ist. Aber da selbst die historische Genese der Ausländerpolitik der ‘großen’ europäischen Länder noch nicht besonders gut untersucht ist, scheint der ’Fall’ Belgien vor allem für die belgische Nationalgeschichte von Interesse zu sein, so daß man eigentlich eine Publikation auf Flämisch oder Französisch erwartet hätte, die ihr Dasein am Rande der Europa immer noch als Dreiheit von Deutschland, Frankreich und Großbritannien definierenden Mainstream-Historiographie zu fristen hätte. Aber der Eindruck, daß man sich in besonderem Maße für die Geschichte Belgiens interessieren muß, um aus der Darstellung der ”Alien Policy in Belgium” Gewinn ziehen zu können, trügt. Denn erstens stellt Caestecker mit seiner Untersuchung manche in der ‘revisionistischen’, archivorientierten neueren Forschung zur Ausländerpolitik verbreitete Annahmen in Frage. Zweitens erweist sich Belgien insofern als paradigmatischer Fall, als die besonders detaillierte belgische Archivüberlieferung Aspekte der Ausländerpolitik nachvollziehbar werden läßt, die sich in anderen Ländern allenfalls erahnen lassen. Das gilt vor allem für die Ausweisungs- und Abschiebungspolitik.

Caestecker begibt sich auf die Spur der ‘liberalen’ Ausländerpolitik und untersucht Gründe für ihr Scheitern. Ein Kerninteresse seines engagiert, klar und anschaulich geschriebenen Buchs richtet sich auf die ständig und scheinbar unumkehrbar wachsende Verfügungsgewalt des Staates über Ausländer. Er setzte zehn Jahre nach der belgischen Unabhängigkeit ein, als die Frage der Zugehörigkeit zum belgischen Staatsangehörigenverband so gut geklärt war, wie das möglich und im 19. Jahrhundert üblich war. Die Jahre vor 1861 charakterisiert Caestecker als Ära der ”brutalen Ausländerpolitik” (1), in der Zuwanderer einem allmächtigen Staat, der sie jederzeit ausweisen konnte, hilflos ausgeliefert waren. Die formalen Härten des Ausländerrechts wurden aber durch eine erheblich liberalere bzw. chaotischere Praxis deutlich gemildert. Einerseits waren die Grenzen zwischen In- und Ausländern nicht systematisch gezogen. Wem es gelang, die Grenze zu überschreiten, hatte zumindest die Aussicht darauf, ein unter Umständen sogar einklagbares Bleiberecht zu ersitzen. Andererseits achtete auch der in der Tendenz repressive belgische Staat des 19. Jahrhunderts darauf, bestimmte Grundrechte nie zu verletzen. Dabei erhielt das Recht, die Grenze zu wählen, über die man Belgien verlassen wollte, besondere Bedeutung, denn es verhinderte, daß eine Abschiebung zur Auslieferung werden konnte.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Belgien - wie auch im übrigen West- und Mitteleuropa - manche Beschränkungen der früheren Phase abgebaut. So war es nicht mehr nötig, Pässe oder Visa zu beantragen, um nach Belgien reisen zu dürfen. Allerdings erwies sich die Ausländerpolitik vor dem Ersten Weltkrieg als nur teilweise liberal. Sie war insofern offen, als allen Ausländern die Einreise nach Belgien zunächst erlaubt wurde, und ‘erwünschte’ Ausländer bleiben durften. Die einzige Erwägung vor der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis war, ob Zuwanderer dem Staat direkt zur Last fielen. Der Schutz inländischer Arbeitnehmer oder Unternehmer vor ausländischer Konkurrenz spielte keine Rolle. Das Gegenstück dieser ’Liberalität’ war eine härtere Haltung gegenüber ‘unerwünschten’, d. h. mittellosen, Zuwanderern. Die Wahl der Grenze, die Auszuweisende überschreiten wollten, wurde zugunsten einer systematischen Rückführung ins Heimatland - die Mehrzahl der Zuwanderer stammte aus den an Belgien angrenzenden Ländern - aufgegeben. Dem immer stärker wahrgenommenen Ausländerproblem konnte die harte Linie angesichts der offenen Grenzen aber nicht Herr werden.

Diese Ergebnisse stimmen mit anderen Studien zur Situation in anderen Ländern weitgehend überein. Mit seiner intensiven Betrachtung der Ausländerpolitik der Zwischenkriegszeit betritt Caestecker jedoch weitgehend Neuland. Er zeichnet im Detail nach, wie sehr die politisch determinierte systematische Anwerbung von Zuwanderern aus weiter entfernten Ländern die Migrationsströme der Zwischenkriegszeit bestimmte. Die Intervention ‘von oben’ - durch belgische Unternehmer, vor allem im Bergbau, belgische Behörden und ihre Partner in den Anwerbungsländern - war weitaus wichtiger als ökonomische ”push”- und ”pull”-Faktoren. Die Verschiebung der Rekrutierungsgebiete nach Ost- und Südeuropa machte freilich die Abschiebung ‘unerwünschter’ Arbeitnehmer immer schwieriger. Dennoch gelang es den Arbeitgebern weiterhin, eine Intervention des Staates gegen die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer und zugunsten belgischer Arbeitsuchender, welche Mitte der 1920er Jahre versucht wurde, zu verhindern.

Wenn Minenbetreiber selbst eine interventionistischere Politik forderten, was Ende der 1930er Jahre immer mehr der Fall war, dann sollte diese ausländische Arbeitnehmer auf Dauer fest an ihre Arbeitsplätze binden und illegale, ‘freie’ Zuwanderung (die bislang eher problemlos in ‘legale’ Zuwanderung überführt werden konnte) möglichst beschränken. Die große Depression führte den endgültigen Übergang zu einer ausländerfeindlichen Politik herbei. Ausländische Zuwanderer wurden von der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen, was sie zugleich leichter in Armut absinken, dadurch ‘unerwünscht’ und ausweisbar werden ließ. Insgesamt handelte es sich um den Versuch, die ‘sozialen Kosten der Depression zu exportieren’. An dieser restriktiven Wende der Ausländerpolitik, die ausländische Arbeitnehmer in immer größere Abhängigkeit von ihren Arbeitgebern brachte, änderte sich bis in die 1940er Jahre grundsätzlich nichts. Im 19. Jahrhundert bestand eine - von einer (drastischen) ökonomischen Erfolgsprüfung begleitete - Zuwanderungsfreiheit. Von diesem Ausgangspunkt war der belgische Staat, begünstigt und unterstützt durch den allgemeinen Ausbau des Überwachungsstaates im Ersten Weltkrieg und Veränderungen der politischen Konstellationen in der Zwischenkriegszeit zu einer strikten Überwachung der Herkunftsgebiete, der Tätigkeit und der Aufenthaltsdauer der Zuwanderer übergegangen. Dieser Prozeß wurde, ebenfalls in der Zwischenkriegszeit, von einer zunehmenden Differenzierung des Aufenthaltstatus von Ausländern und ihrer ‘Gruppenzugehörigkeit’ begleitet. Bezeichnend war, daß Übergänge zwischen dem Status des Staatsangehörigen und dem des Ausländers, ein ”denizen”, ”landed immigrant” oder ”green-card holder” Status, den es im 19. Jahrhundert gegeben hatte, wegfielen. Ausländer wurden nun in die über ein organisiertes Zuwanderungsprogramm ins Land gekommenen Gastarbeiter und in besonderen Schutz genießende, aber auch besonders kritisch überprüfte ”Flüchtlinge” eingeteilt. Wer nicht in eine dieser Kategorien gehörte (oder aus anderen Gründen ’erwünscht’ war), galt nicht mehr als jemand, dessen Fähigkeiten man erst einmal zur Geltung kommen ließ, sondern bereits durch die Tatsache seiner oder ihrer Anwesenheit als ‘illegaler Ausländer’ bzw. als ‘illegale Ausländerin’ - wobei Caestecker bemerkt: ”We consider that (im)migration can be illegal, (im)migrants not” (xix), so daß bereits die Ausbildung der Kategorie der ”illegal aliens” eine fatale Fehlentwicklung darstellte.

Caesteckers sorgfältig dokumentierte und mit reichem Zahlen- und Grafikenmaterial angereicherte Studie läßt kaum eine Frage unbeantwortet. Obgleich seine Sympathien und Antipathien klar zutage treten, läßt er sich nie von politisch determinierter Betroffenheitsrhetorik leiten, sonder zeigt beispielsweise sorgfältig auf, wie die Veränderung der Kategorien, mit der Ausländer beschrieben wurden, mit der Veränderung des Sozialprofils der Zuwanderer im Wechselwirkung standen. Im 19. Jahrhundert waren die Ausländer in Belgien vor allem Grenzgänger aus den benachbarten Ländern ohne besonderes berufsspezifisches Profil; die Zuwanderer der 1920er und 1930er Jahre waren, als Folge der politischen Entscheidungen, vor allem ’Gastarbeiter’ in der Industrie, die systematisch angeworben wurden, um Arbeitskräftemangel in bestimmten unpopulären Wirtschaftssektoren zu mildern.

Im Gegensatz zu manchen Autoren, die vor allem die Prägekraft der ausländerpolitischen Weichenstellungen des 19. Jahrhunderts betonen (und zu denen auch der Rezensent gehört), weist Caestecker nachdrücklich und überzeugend auf die Bedeutung des Bürokratisierungs- und Systematisierungsschubs der Zwischenkriegszeit für die spätere Entwicklung hin. Alle, die sich für die Entwicklung der Ausländerpolitik in Europa interessieren, sollten einen ausführlichen Blick in dieses wichtige Buch werfen.

Anmerkung:
1 Jonathan Steinberg, Why Switzerland? Cambridge 1976, 2. Aufl. 1996.

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