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Title
Eine Fotografie. Über die transdisziplinären Möglichkeiten der Bildforschung


Editor(s)
Ziehe, Irene; Hägele, Ulrich
Series
Visuelle Kultur. Studien und Materialien 12
Published
Münster 2017: Waxmann Verlag
Extent
372 S.
Price
€ 38,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Nic Leonhardt, Department für Kunstwissenschaften, Institut für Theaterwissenschaft, ERC-Projekt Developing Theatre, Centre for Global Theatre History, Ludwig Maximilians Universität München

Bilder sind (all-)gegenwärtig. Es mag mit Fug und Recht behauptet werden, dass sicherlich zu keiner anderen als der gegenwärtigen Zeit so viele Menschen, seien sie professionelle Fotografen oder private „Knipser“, so viele Bilder verfertigten wie heute; auf vielfältige Weise, apparativ und stilistisch divers, in einer Distribution mit schier ins Unendliche mäandernder Reichweite. Nun hat jede Zeit ihre Bilder und jede Zeit ihre Bilder der Zeit, Bilder haben ihre Zeiten. Das haben nicht nur die Kunst- und Mediengeschichte, sondern auch die jüngeren Inter-Disziplinen der Bildwissenschaft und Visual Culture-Forschung herausgearbeitet. Es ist kaum auszudenken, wie gewaltig ein Archiv all der Bilder wäre, die allein in diesem Jahrzehnt erschaffen werden. Nur: lohnt es sich, die unzähligen Fotos zu archivieren? Wer hätte ein Interesse daran? Wem könnten sie zum Nutzen gereichen? Und wie werden künftige Wissenschaftler, Sammler, Kuratoren, Restaurateure ihren wissenschaftlichen, epistemologischen Wert bestimmen? Vor allem, wenn von den Bildern der Gegenwart nichts bleibt als ihr Bildgehalt.

Die Frage nach der wissenschaftlichen „Validität“ einer Fotografie steht im Fokus des von Irene Ziehe (Museum Europäischer Kulturen. Staatliche Museen zu Berlin) und Ulrich Hägele (Zentrum für Medienkompetenz, Universität Tübingen) herausgegebenen Sammelbands, der aus der achten Tagung der Kommission Fotografie der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (http://www.d-g-v.org/kommissionen/fotografie) mit ihrem Kooperationspartner, den Staatlichen Museen Berlin, (Berlin 2016), hervorgegangen ist. Im Fokus steht die Erprobung bildwissenschaftlicher, kunsthistorischer und kulturhistorischer Methoden sowie von Ansätzen aus der visuellen und Kultur-Anthropologie, um singulären, zumeist ohne Kontext überlieferten Fotografien („namenlose Fotografien genauso wie visuelle Artefakte aus den Tiefen privater und öffentlicher Archive“, S. 10) annähernd präzise Einordnung und Zuschreibung zu verleihen. Die allen Beiträgen zugrundeliegende Offenheit und Lust am wissenschaftlichen, historiographischen und bildpraktischen Explorieren von Fotografien eint die 27 Verfasserinnen und Verfasser ebenso wie das Bildverständnis: Fotografie wird, wie die Herausgeber eingangs betonen, nicht „(beziehungsweise nicht nur) [als] reines Illustrationsmedium“ verstanden, „sie ist Quelle, sie ist Dokument, sie ist selbst Forschungsgegenstand.“ (S. 9)

Die Autorinnen und Autoren vertreten eine Bandbreite an sowohl praktischen Berufsfeldern, in denen Bilder eine Rolle spielen (Verlagswesen, Archiv, Museum, Kunst, Fotografie, Restauration, Kuration), wie auch Disziplinen, die Bilder als (historische) Quellen wertzuschätzen begonnen und eigene methodische Verfahrensweisen entwickelt haben, um sie in ihre je spezifischen Erkenntnisziele einzubinden, darunter Geschichts-, Bild-, Medien-, Religions-, Kommunikations- und Politikwissenschaft, Kunst- und Kulturgeschichte sowie Kulturanthropologie, Soziologie und Ethnologie. Die Verfasser machen unterschiedliche Fundorte für die „eine Fotografie“, aus, seien dies Antiquariate, Schubladen, Dachböden, eBay oder andere online-Portale, Flohmärkte oder private Sammlungen. Zeitlich fallen die diskutierten Aufnahmen in die gesamte Spanne seit den Frühjahren der Fotografie bis zur Gegenwart. In den wenigsten Fällen stammen die Bilder aus Werkstätten namhafter Fotografen, meist handelt es sich um „Knipser“-Fotografien, Amateur-Bilder.

Die Vielzahl der Beiträge macht ihre detaillierte Besprechung unmöglich, weshalb vor allem die methodischen Gehversuche herausgestellt seien, die im Untertitel anvisierten „transdisziplinären Möglichkeiten“. Dass eine zeitgenössische Erforschung von Bildern, im Besonderen der „vernacular images“ (Mirzoeff) nur transdisziplinär und methodenpluralistisch zu bewerkstelligen ist, wird in allen Aufsätzen offenkund. Die Befragung von Bildern als Quellen zieht die Befragung weiterer Quellen nach sich. Abenteuer, Punctum und Studium, um mit Barthes zu sprechen, sind allen versammelten Interrogationen inhärent. Als rekurrente methodische Zugänge lassen sich die historische ideologische, medienhistorische Kontextanalyse herausstellen, die dekontextualisierte, bildimmanente Befragung ebenso wie die kontextualisierte und auf schriftlichen Kommentaren basierende. Gilt der Schluss, dass, wenn ein Bild keine Beschriftung hat, es auch keine Bedeutung besitzt? Dies eruieren in ihren Beiträgen Thomas Abel, Angelika Friederici, Agnes Matthias, Elmar Mauch, Karl-Robert Schütze, Michalis Valaouris und Hannes Wietschel. Wie sich mit ex post-Zuschreibungen zum Bild verfahren lässt, wenn sie das einzige sind, das mit dem Bild überliefert ist, etwa auf eBay, spielen Franziska Kunze und Ingo Niebel klug durch. Welchen Aufschluss Segment- und Sequenzanalyse über Fotografien, ihre Aussage und Gestaltung erlauben, sezieren etwa T. Abel, Silke Müller oder Martin Radermacher. Die Rekonstruktion von Bildentstehungsprozessen erkunden exemplarisch Olli Kleemola, F. Kunze, Stephan Sagurna und Daniel Samanns. (In)Wie weit noch die in der Tradition von Panofsky und ihrer Erweiterung angelegten ikonographisch-ikonologischen Betrachtungen von Fotografien tragen, dies untersuchen Karin Bürkert, Norbert Haase, Christiane Hoth, Andrea Hurton, F. Kunze und I. Niebel in ihren Fallstudien. Die Semiotik des Bildes dekodieren Ch. Hoth, A. Hurton und I. Niebels in ihren fotografischen Betrachtungen. Was lässt sich lernen durch komparative Ansätze, basieren sie nun auf Bild-zu-Bild-Vergleich, dem Anlegen unterschiedlicher individueller oder disziplinärer Perspektiven oder der Zuhilfenahme von Software, digitalen Tools und Semantic Web? Solche vergleichenden Strategien legen Julia Bärnighausen, Stefanie Klamm, Petra Wodtke und Franka Schneider in ihrem kollaborativen Werkstattbericht an; auch K. Bürkert, Johannes Großewinkelmann, Norbert Haase sowie Thomas Tunsch schlagen einen komparatistischen Ansatz in ihren jeweiligen Blickwechseln vor.

Das vorgelegte Konvolut der Tagungsbeiträge ist gleichsam ein „Markt der Blicke“ mit einer großen disziplinären und bildpraktischen Skalierung und einer angenehm neugierig machenden Offenheit gegenüber Nicht-Wissen und Fragen, die aus dem bekannten Diktum Roland Barthes’, dem „Es-ist-so-gewesen“ der Fotografie ein „Je ne sais quoi“ werden lässt, ein „es-könnte-so,-aber-auch-anders-gewesen-sein“ einer Fotografie. Einen Markt- oder auch Werkstattcharakter vermittelt der Band deswegen, weil er auf eine Einordnung verzichtet, die Pluralität der Fragen und Perspektiven nicht in Sektionen unterteilt. Kritisch betrachtet ließe sich dies so auslegen, dass den Lesern damit die Orientierung erschwert wird; positiv formuliert, ist die Dramaturgie des Bandes damit dem unverhofften Finden und Befragen von Objekten angeglichen, wie sie dem weiter oben genannten Flohmarkt eigen ist. Die zahlreichen Abbildungen, die den Verfassern Ausgangspunkte ihrer Betrachtungen sind, sind überdurchschnittlich hochwertig, selbst bei älteren Vorlagen beeindruckend scharf. Wenn auch nicht alle der jeweils „einen“ selektierten Fotografien final bestimmt werden können, machen doch die vorgelegten Aufsätze deutlich, dass allein die Operationen der Interrogation des Bildes erkenntnisfördernd sein können.

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