Karin Priester, promovierte Historikerin und emeritierte Professorin für politische Soziologie an der Universität Münster, ordnet den Dschihadismus als eine Erscheinungsform des Rechtsextremismus im 21. Jahrhundert ein. Sie widerspricht damit gängigen religionssoziologischen bzw. islamwissenschaftlichen Lesarten des Phänomens, dass Europäer und Europäerinnen für die Errichtung eines islamischen Staats kämpfen, nach Syrien migrieren, Terrorakte verüben oder diese unterstützen. Priester konstatiert: „Die Bezeichnungen ‚religiöser Fundamentalismus‘ oder ‚Radikalisierung des Islam‘ weichen der Frage nach der politischen Stoßrichtung aus“ (S. 7). In einer nicht weiter ausgeführten und im Laufe der Studie unklar bleibenden Anlehnung an Olivier Roys These von der „Islamisierung der Radikalität“ (S. 7) spricht die in der Populismusforschung eingeführte Autorin daher von einem „muslimischen“ bzw. „islamistischen“ Rechtsextremismus“ (S. 7, 10).1 Dieser Rechtsextremismus behaupte, wie auch die europäischen Faschismusformen, „fundamentale[] menschliche[] Ungleichheit und das daraus abgeleitete Recht auf Mord und Versklavung“ (S. 7) und sei durch Antisemitismus, Suche nach Sündenböcken und Verschwörungstheorien strukturiert (S. 10). In soziologischer Hinsicht stellt er in den Augen von Priester erstens das Problem „eine[r] weltweite[n] Jugendbewegung von jungen Muslimen, darunter auch etlichen Konvertiten“ dar, die einen „oberflächlich angeeignete[n] Islam“ mit „ der Gang-Kultur in den Problemvierteln größerer Städte“ verbinde (S. 23). Viele der Anhänger dieses Dschihadismus „hätten sich auch den Autonomen oder den Schwarzen Blöcken anschließen können“ (S. 23). Zweitens stände der „muslimische“ bzw. „islamistische“ Rechtsextremismus für eine neue Form des Internationalismus, der an „die antiimperialistischen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt in den 1970er Jahren“ – also an klassische Topoi der außerparlamentarischen Linken – anschließt (S. 30) und drittens käme in ihm ein Existenzialismus zum Ausdruck, der „ein Ventil für [die] Suche nach Authentizität“ biete (S. 30). Die dreigliedrige, apodiktisch formulierte Problemdefinition, die die Autorin weder mit sozialwissenschaftlichen Diskussionen noch mit sich aus der Literatur ergebenen Forschungsfragen verbindet2, setzt den Rahmen für die Leitfrage des Buchs „Warum Europäer in den Heiligen Krieg ziehen“. Die Antwort auf diese Frage sucht Priester in den „Profile[n] von europäischen Jugendlichen und jungen Männern und Frauen“ (S. 21), die nach Syrien, Irak oder Afghanistan gegangen, wegen Zugehörigkeit zu einer islamistischen Terrorgruppe in einem westeuropäischen Staat verhört bzw. verurteilt worden sind oder aber Anschläge verübt haben. Auf der Basis von einem 550 Personen umfassenden Datenkorpus, der auf Presseberichten und Open-Source-Material im Internet beruht, werden diese „Profile“ auf der Grundlage eines sozialstrukturellen, an Bildungsabschlüssen und Inklusion in den Arbeitsmarkt orientierten Ansatzes und konversionsbiographischer Fragestellungen beschrieben (S. 31, zur vorgenommenen Einordnung der Verbindung dieser Ansätze vgl. Kap. 3 „Erklärungsansätze und Motive für die Hinwendung zum Dschihadismus“) und unter folgenden Gesichtspunkten betrachtet: Bildungsverläufe (Kap. 4 „Lebensläufe im unteren und mittleren Segment“ und Kap. 5 „Das Segment der Studierenden und die geografische Herkunft europäischer Dschihadisten“), Konversion (Kap. 6 „Die Gruppe der Konvertiten), Indoktrination bzw. Manipulation (Kap. 7 „Gurus, Mentoren und Heiler“), psychische Pathologien (Kap. 8 „Psychische Erkrankungen bei Dschihadisten“) und Geschlechterrollen (Kap. 9 „Frauen im Dschihad“). In den Kapiteln 10 bis 11 bezieht Priester ihre Betrachtungen zunächst auf Texte von Salafisten, die sie für ‚den‘ Dschihadismus und seine ideelle, politisch-strategische und staatstheoretische Dimensionen als bezeichnend erachtet. Dann legt sie im Schlusskapitel ihre These vom „Islamofaschismus in statu nascendi“ und vom „präfaschistischen Prozess“ des Staatsaufbaus dar, der die Gruppe des Islamischen Staats vom Netzwerk der Al-Qaida unterscheide (S. 9, kursiv im Original).
Die Autorin stellt diese These bedauerlicher Weise rückblickend nicht in einen Kontext mit der im zweiten Kapitel dargelegten soziologischen Problemstellung, dass Dschihadisten Teil einer jugendlichen Protestbewegung seien, die einerseits an den antiimperialistischen Befreiungskampf anknüpft und andererseits mit einer bestimmten Form des Daseins verbunden ist. Insofern bleibt der in Untertitel und Aufbau des Buchs angelegte Bezug zwischen „Islamofaschismus“ und „präfaschistische[m] Prozess“ sowie den Motiven der europäischen Dschihadisten bzw. ihren Bildungsverläufen, ihrer Konversion, ihren Geschlechteridentitäten oder auch psychischen Pathologien unklar.
Auf der politisch-theoretischen Ebene verdichtet das Buch mithilfe des Rechtsextremismus-Parameters den Dschihadismus zu einer Alterität, die der Vergewisserung etablierter Wissens- sowie Deutungsformate dient, aber die Handlungen der in den Heiligen Krieg ziehenden Europäer/innen verrätselt. Denn diese Europäer/innen werden in dem Buch zu einer Art unidentified floating objects. Einerseits zeugen ihre von Priester unterschiedenen Motive für die Teilnahme am Dschihad – die „Sinnsucher“ (S. 53f.), die „politisch motivierten Aktivisten“ (S. 55f.), „die Kampffanatiker (S. 56f.), die „Abenteurer“ (S. 57f.), die „Helfer“ (S. 60f.), die „materiell Interessierten“ (S. 60f.) – von der fehlenden Fremdheit ihrer Handlungen. Andererseits schreibt die ethnisierende Sprache, mit der die Autorin ihr empirisches Material in Anschlag bringt, den in den Heiligen Krieg ziehenden Europäer/innen eine wesensbestimmende, mit den Kategorien der Extremismusforschung nicht zu fassenden Andersheit zu. Viele der Erläuterungen essentialisieren unter der Hand die sozialstrukturellen Problemstellungen, die die Autorin vermeintlich mit ihrer Studie zu benennen versucht. Darüber hinaus werden diese Problemstellungen suggestiv zu einer Differenz verallgemeinert, die sich von einer implizit konstruierten Normalität sozialer Beziehungen und Interaktionen absetzt. Über den Attentäter, der im März 2012 drei französische Soldaten, den Lehrer und drei Schüler einer jüdischen Schule in Montauban und Toulouse umbrachte, erfährt die Leserin zum Beispiel, dass er mit seiner Familie „in einem Problemviertel im Norden von Toulouse, wo auch viele Sinti und Roma leben“ wohnte. „Das Milieu gilt als chaotisch und gewalttätig“ (S. 155). Insgesamt gesehen, zeigt das hier rezensierte Buch geradezu paradigmatisch die Verbindungen auf, die zwischen sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und Kategorisierungen einerseits sowie Alteritätszuschreibungen und Normalitätsvorstellungen andererseits bestehen.3 Eine Lektüre des Buchs empfiehlt sich für die Untersuchungen solcher Verbindungen in der Terrorismus- und nicht zuletzt in der Migrationsforschung, jedoch nicht, wenn man eine Antwort auf die Frage sucht, „warum Europäer [und Europäerinnen, NT] in den Heiligen Krieg ziehen“.
Anmerkungen:
1 Olivier Roy, Le djihadisme est une révolte générationnelle et nihiliste, in: Le Monde, 24.11.2015. Vor dem Hintergrund der Attentate 2015 in Paris hat sich eine Debatte unter französischen Politikwissenschaftlern über die Interpretation der Anschläge entwickelt. In diesem Kontext widerspricht Roy mit seiner Formel von der „Islamisierung der Radikalität“, die auf einen Generationskonflikt innerhalb eingewanderter Familien, auf kulturelle disembeddedness religiöser Praxis und auf amok-laufenden Individualismus abhebt, Gilles Kepel, der wiederum die Attentate mit einer Radikalisierung des dschihadistischen Salafismus und insofern als eine Radikalisierung des Islam deutet.
Zur Populismusforschung der Autorin vgl. Karin Priester, Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt am Main 2007; dies., Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt am Main 2012.
2 Für eine sozialwissenschaftlich argumentierende Lesart des auch als „Terror-Tourismus“ bezeichneten Phänomens vgl. Daniel Witte, Bedrohung von innen: »Terror-Tourismus« und Gegenkultur, in: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung 1 (2016), S. 65–78. Witte, der die Zuordnung des Phänomens zu politischen Extremismusformen vermeidet, gibt zudem einen Einblick in verschiedene, gegenwärtig in Anschlag gebrachte Deutungsschemata von Terrorismus.
3 Dazu vgl. auch Claudia Brunner, Wissensobjekt und Sinnformel Selbstmordattentat. Über den Zusammenhang von politischer und epistemischer Gewalt am Beispiel gegenwärtiger Terrorismusforschung, in: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung 1 (2012), S. 72–105.