D. Bultmann: Kambodscha unter den Roten Khmer

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Titel
Kambodscha unter den Roten Khmer. Die Erschaffung des perfekten Sozialisten


Autor(en)
Bultmann, Daniel
Erschienen
Paderborn 2017: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
265 S., 16 SW-Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Großheim, Universität Passau

Mit seiner Studie liefert Daniel Bultmann einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Schreckensregimes der Roten Khmer von 1975 bis 1979. Seine Hauptthese ist, dass die Gewaltherrschaft Pol Pots nicht als ein „archaisch-pathologischer Steinzeitkommunismus“ (S. 8), sondern als Ausfluss einer „kollektivistischen Ordnungsfantasie“ (S. 8) interpretiert werden solle. Die Ideologie und der Gewaltapparat der Roten Khmer seien demnach nicht rückwärtsgewandt, sondern von einer „grundlegenden Modernität“ (S. 8) gekennzeichnet gewesen.

Der Autor stützt sich neben der einschlägigen Sekundärliteratur auf eine Reihe von Primärquellen des Documentation Center of Cambodia, hierbei handelt es sich in erster Linie um Originalquellen der Roten Khmer, Materialien der Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia (ECCC), des Gerichtshofes, vor dem sich einige wenige Führer der Roten Khmer für ihre Verbrechen verantworten mussten, sowie einige Akten der Behörde des Beauftragten der Stasi-Unterlagen (BStU). Letztere umfassen Einschätzungen des Ministeriums für Staatssicherheit sowie deutsche Übersetzungen von interessanten Analysen des vietnamesischen Geheimdienstes.

Das Buch besteht aus insgesamt sechs Kapiteln. Im ersten Kapitel „Wir und die Roten Khmer“ gibt Bultmann einen Überblick über verschiedene Interpretationsmuster der Herrschaft der Roten Khmer und distanziert sich vor allem von der Charakterisierung der zwischen 1975 und 1979 begangenen Gewalttaten als „archaisch-anarchistisch“ (S. 20) und irrational. Kapitel zwei bietet eine Darstellung der Entwicklung Kambodschas seit der Etablierung als französisches Protektorat 1863, der relativ späten Entwicklung des kambodschanischen Nationalismus sowie der Herausbildung der kommunistischen Bewegung in Kambodscha. Letztere wurde anfangs noch stark von Vietnamesen dominiert und erst ab Anfang der 1960er-Jahre von der Gruppe um Pol Pot bestimmt.

Die folgenden zwei Kapitel befassen sich dann im Detail mit der Funktionsweise des Regimes von 1975 bis 1979. Das Verdienst der Arbeit liegt sicher darin, zum ersten Mal systematisch das landesweit bürokratisch operierende Sicherheitsnetzwerk der Roten Khmer mit Gefängnissen und Umerziehungszentren analysiert zu haben. In der bisherigen Forschung zum Herrschaftssystem Pol Pots lag der Hauptschwerpunkt auf dem bekannten Zentralgefängnis in Phnom Penh Tuol Sleng, das auch unter dem Codenamen S-21 bekannt geworden ist. Dies ist auch der Quellenlage geschuldet, weil das Tuol Sleng-Gefängnis mitsamt seiner umfassenden Dokumentation Anfang 1979 von den vietnamesischen Truppen besetzt wurde, zu den anderen Lagern aber zunächst wenig Quellen zur Verfügung standen. Mittlerweile liegen jedoch Detailstudien des kambodschanischen Documentation Center of Cambodia über das gut organisierte Lagersystem unter den Roten Khmer vor, die Bultmann ausgewertet hat. Er macht die Arbeitsweise der Umerziehungs- und Sicherheitszentren deutlich, die hierarchisch organisiert waren und an die jeweilig höhere Instanz Bericht erstatten mussten. Auffällig ist jedoch, dass letztlich doch wieder das Zentralgefängnis S-21 als konkretes Beispiel dienen muss, um die Abläufe in dem Gefängnissystem der Roten Khmer zu verdeutlichen. Bultmann verweist in diesem Zusammenhang auch kurz darauf, dass die Kambodschaner von chinesischen Beratern „beim Bau und bei der Verwaltung der Gefängnisse“ (S. 234) unterstützt wurden. Dass es bei diesen wenigen Hinweisen auf einen Export des chinesischen Gefängnissystems nach Kambodscha bleibt, mag an der Quellenlage liegen; zudem liegt diese Fragestellung nicht im Zentrum der vorliegenden Studie. Die Frage nach der Anlehnung der Roten Khmer an chinesische Modelle und der Informationsaustausch mit den chinesischen „Genossen“ in diesem Zusammenhang wären aber sicher ein lohnender Forschungsansatz für die Zukunft.

Im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen die „Eskalationslogiken“ im Zeitraum von 1976 bis 1979. In dieser Phase – so der Verfasser – eskalierte die Verfolgung real existierender und imaginierter Feinde (S. 127). Das wichtige Moment ist hier, dass es zumindest in der ersten Phase nach der Machtübernahme der Roten Khmer noch tatsächlich Differenzen innerhalb der Partei gab. Bultmann macht in überzeugender Weise deutlich, wie nach und nach gemäßigte Kader auf der zentralen und den lokalen Ebenen ausgeschaltet wurden und die Suche nach „Feinden“ immer mehr eine Eigendynamik gewann. Die radikale Ausmerzung von Gegnern und die Gewaltmaßnahmen gegen große Teile der Bevölkerung können nach Ansicht des Verfassers aber eben nicht als „Steinzeitkommunismus“ verstanden werden, sondern als Ausdruck einer „Ordnungsfantasie“ (S. 169). „Die Roten Khmer agierten dabei […] nicht ohne Staat – im Gegenteil.“ (S. 169) – so die prägnante These von Bultmann.

Die beiden letzten Kapitel befassen sich mit dem „zweiten Leben“ der Roten Khmer nach der Besetzung Kambodschas durch die Vietnamesen 1979 sowie dem Ende der Bewegung in der Phase von 1991 bis 1999. Für die Hauptthese der Studie sind diese beiden Kapitel strenggenommen ohne größere Relevanz, doch bieten sie eine wichtige chronologische Abrundung der Geschichte der Roten Khmer. Kleinere inhaltliche Fehler wie die Verlegung des chinesischen „Erziehungsfeldzugs“ von 1979 auf 1980 (S. 172) fallen dabei nicht weiter ins Gewicht.

Daniel Bultmann ist auf der Grundlage neuer Quellen eine überzeugende Studie des Schreckensregime der Roten Khmer gelungen, die diese nicht als „blutrünstige, wild gewordene Zombiehorden“ (S. 19) darstellt, sondern als ausführende Organe einer radikalen sozialistischen Ordnungsfantasie. Es bleibt zu wünschen, dass diese Studie in überarbeiteter englischsprachiger Version ein noch größeres Publikum erreicht.

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