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Titel
Der gedachte Krieg. Vom Wandel der Kriegsbilder in der militärischen Führung der Bundeswehr im Zeitalter des Ost-West-Konflikts


Autor(en)
Reichenberger, Florian
Reihe
Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland 13
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 498 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Sebastian Rojek, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Die Bundeswehr befindet sich seit Jahren in einem Transformationsprozess, der auch damit zusammenhängt, dass die Streitkräfte sich auf neue Aufgaben einstellen müssen. Auf welche Einsätze soll die Truppe zukünftig ausgerichtet werden? Es ist augenscheinlich, dass viele der Probleme, mit denen die Bundeswehr derzeit konfrontiert ist, mit gewandelten Herausforderungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Verbindung stehen.

Florian Reichenberger greift in seiner gelungenen Potsdamer Dissertation gewissermaßen diese aktuelle Frage auf und historisiert sie. Er fragt danach, inwiefern der Krieg „als Vorstellung einer möglichen Zukunft, als Erwartungshorizont“ (S. 4) in der Bundeswehr von 1955 bis 1990 entworfen worden ist. Innerhalb dieser Fragestellung ergeben sich weitere Fragenkomplexe, die sich darauf richten, zu eruieren, inwiefern überhaupt von einem einheitlichen Kriegsbild gesprochen werden könne, wie und warum sich die jeweiligen Vorstellungen während des „Kalten Kriegs“ wandelten und welche Kontinuitäten und Brüche sich innerhalb dieses Prozesses nachweisen lassen. Der Schwerpunkt der Studie liegt dabei auf dem Zeitraum von 1945 bis 1990, wenngleich ein längeres Kapitel die Vorgeschichte entsprechender Zukunftsvorstellungen seit der Reichsgründung in den Blick nimmt. So wird es möglich, längerfristige Entwicklungen aufzuzeigen, zumal die Kriegsbilder nach dem Zweiten Weltkrieg ja nicht im luftleeren Raum entstanden sind. Insgesamt reiht sich die Untersuchung in die zeithistorische Erforschung des deutschen Militärs ein, die nun schon seit einigen Jahren insbesondere am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr betrieben wird. Mit seiner kulturhistorisch orientierten Studie bereichert der Autor dieses Forschungsfeld, indem er zeigt, dass sich durch das Prisma des Kriegsbildes eine Vielzahl von Beeinflussungsfaktoren einfangen lassen. Denn Kriegsbilder, so macht die Studie immer wieder transparent, entstehen keineswegs allein aus strategischen oder operativen Überlegungen unter Berücksichtigung der potentiellen eigenen und gegnerischen Kräfte. Vielmehr liegen sie im Zentrum eines komplexen Geflechts unterschiedlicher Bedingungsfaktoren aus technischen Entwicklungen, geographischen Gegebenheiten, innen- und außenpolitischen Konstellationen sowie – nicht zuletzt – den Eigeninteressen der militärischen Institution und ihrer Teilstreitkräfte.

Um sein Untersuchungsfeld sinnvoll einzugrenzen, beschränkt sich Reichenberger darauf, „das maßgebliche militärische Spitzenpersonal der Organisation Bundeswehr“ (S. 7) ins Zentrum der Analyse zu rücken. In Kultur und Gesellschaft kursierende Vorstellungen über den nächsten Krieg bleiben also weitgehend außen vor, beziehungsweise werden nur insofern berücksichtigt, als sie in die Überlegungen der professionellen Militärs eingegangen sind. Die Quellenlage kann insgesamt als günstig bezeichnet werden, zumal es dem Autor gelungen ist, zahlreiche Akten für die Zeit nach 1970 erstmals freigeben zu lassen und damit der Forschung zugänglich zu machen.

Was aber bietet das Buch nun im Einzelnen? Nach einer längeren Einleitung, in der die Fragestellung umrissen sowie Forschungsstand, Quellenlage und Methodik offengelegt werden, reflektiert der Verfasser eingehend über den Begriff des Kriegsbildes. Ein kurzer historisch-semantischer Abriss enthüllt die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs, der erst nach 1945 die dominante Bedeutung als „hypothetisches Konstrukt im Sinne einer Vorstellung von einem gegenwärtig oder zukünftig möglichen Krieg“ (S. 35) annahm. In analytischer Hinsicht existieren bisher nur einige wenige Definitionsangebote, da ein Großteil der Literatur, der zudem dem Zeitalter der Weltkriege gewidmet ist, den Begriff ohne klare Abgrenzung verwendet. Deshalb wartet Reichenberger mit einer eigenen Definition auf, wonach unter einem Kriegsbild „eine Grundvorstellung vom Wesen eines zukünftig möglichen Krieges, das heißt von dessen Erscheinungsformen sowie von den Zwecken, den Möglichkeiten, den Mitteln, der Ausdehnung, der Intensität und den Auswirkungen der Kriegführung“ (S. 50) zu verstehen sei. Mit dieser Begriffsbestimmung wird man sich wohl einverstanden erklären können, zumal sie dem impliziten Verständnis, das bisher in der Forschung vorherrschte, weitgehend entsprechen dürfte.

Im Hauptteil seiner Arbeit folgt der Verfasser vorwiegend chronologisch der Entwicklung der Kriegsbilder. Das erste inhaltliche Kapitel zu den Kriegsbildern innerhalb des Großen Generalstabs, der Marine sowie der Luftwaffe des Deutschen Reiches stützt sich dabei zum großen Teil auf die bestehende Forschung, während der Teil zur Bundeswehr dicht an den archivalischen Quellen entlang erzählt wird. Jenseits aller empirischen Ergebnisse zeigt die Studie vor allem auf, in welch starkem Maße die jeweils vertretenen Kriegsbilder von ihrem Kontext und nicht zuletzt auch von den Erfahrungen der Personen abhängig waren, die sie vertraten. Während in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg durchaus „Wunschvorstellungen unter Idealbedingungen“ (S. 84) die Planungen dominierten, habe sich kurz vor und in der Frühphase des Zweiten Weltkriegs ein realistischeres Bild entwickelt (S. 114, 423f.). Die frühen Akteure der nachherigen Bundeswehr – insbesondere Adolf Heusinger und Hans Speidel – waren in starkem Maße durch diese Kriegserfahrungen und -leitbilder des Zeitalters der Weltkriege geprägt. Von daher dominierten in den frühen Planungskonzepten zu einem eigenen deutschen Verteidigungsbeitrag in einem möglichen dritten Weltkrieg zunächst die Kontinuitäten, die auch durch die Entwicklung von Atomwaffen kaum erschüttert wurden. Im Zentrum stand bis Mitte der 1950er-Jahre das Bild eines weitgehend konventionell geführten Krieges, in dem der deutsche Beitrag als entscheidend dargestellt wurde, um gegen die Sowjetunion gewinnen zu können. Dieses Kriegsbild erwies sich als „ein auf die Bedürfnisse Adenauers zurechtgeschnittenes politisches Programm“ (S. 143). Die anschließend vorherrschende düstere Aussicht eines allgemeinen Nuklearkrieges wurde erst ab 1965 überwunden, als der neue Generalinspekteur Heinz Trettner sein Amt antrat. Er hielt ausgehend von Impulsen seitens der Kennedy-Regierung einen begrenzten Krieg für wahrscheinlich. Nun begann eine „Rekonventionalisierung“ (S. 428) der Kriegsbilder, die bis Ende der 1970er-Jahre vorherrschte. Seitdem schlugen sich neuere technologische Entwicklungen, insbesondere die Mikroelektronik, immer stärker in den Zukunftsvorstellungen nieder. Interessanterweise lässt sich an diesem Wandel in den 1980er-Jahren ablesen, dass die Rüstungsspirale zwischen Ost und West einen Punkt erreicht hatte, an dem die ökonomische und technologische Leistungsfähigkeit der Sowjetunion nicht mehr mithalten konnte.

Tatsächlich macht Reichenberger im Verlauf seiner Untersuchung immer wieder deutlich, dass die jeweiligen Akteure ihre propagierten Kriegsvorstellungen an politische Interessen anpassten (z.B. S. 149, 151, 165, 172, 297). Ähnliches gilt für die verfolgten Strategien (z.B. S. 243). Dabei zeigt sich, dass die Bundeswehr kein „monolithischer Block“ (S. 297) war, sondern dass durchaus unterschiedliche Entwürfe existierten, die sich auch an den Interessen der jeweiligen Teilstreitkräfte ausrichteten, die danach strebten, „selbst die Königsrolle im Krieg der Zukunft“ (S. 236) zu übernehmen. Die unterschiedliche Führungskultur und das jeweilige Rollenverständnis sorgten dafür, dass die Luftwaffe eher technisch dachte, während das Heer taktisch-operative Ansätze bevorzugte und die Marine am Leitbild des unabhängigen Schiffskommandanten festhielt. Hier arbeitet der Autor klar heraus, dass Kriegsbilder intern „nicht nur Streitobjekte, sondern Streitmittel“ (S. 425) waren, denen international wiederum eine „Drohfunktion“ (S. 399) zukam, die der Abschreckung dienen sollte.

Im Ergebnis hat Florian Reichenberger eine gründliche Untersuchung vorgelegt, die gut lesbar und klar organisiert ist. Zum Abschluss wagt der Autor noch einen Ausblick auf die Zeit nach 1990 und zeichnet nach, dass die komplexe und dynamische Sicherheitslage, der die Streitkräfte gegenwärtig gegenüberstehen, dazu geführt habe, dass im Grunde kein dominierendes Kriegsbild mehr erkennbar sei oder entwickelt werde. Parallel dazu zeichnen sich ganz neue Dimensionen der Auseinandersetzung ab, die sich immer weiter von einem konventionellen Krieg entfernen (Cyberkriege). Neben dem Gewinn, den das Buch für die Geschichte der Bundeswehr, des Ost-West-Konflikts und der militärischen Ideengeschichte darstellt, vermag es auch der aktuellen Debatte Impulse zu vermitteln, die gegenwärtig entworfenen Szenarien kritisch zu hinterfragen und diejenigen Bedingungsfaktoren zu reflektieren, die Reichenberger für den Wandel der älteren Kriegsbilder identifiziert hat.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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