„Soll also weiterhin im Unterricht über das Dritte Reich nicht nur Faktenwissen vermittelt, sondern Betroffenheit und daraus folgend demokratisches Engagement geweckt werden, so wird es nötig sein, Erfahrungsräume historisch zu rekonstruieren, Erfahrungen didaktisch zu erschließen.“1 Als Detlev Peukert in den 1980er-Jahren im Rahmen seiner Forschung zur Sozialgeschichte des Nationalsozialismus den Begriff der ‚Volksgemeinschaft’ aufs Tableau hob, konnte von einer pädagogisch-didaktischen Bearbeitung des NS-Alltags in den (west-)deutschen Klassenzimmern kaum die Rede sein – sie fand schlicht nicht statt. Dies lag nicht zuletzt daran, dass auch die damalige Zeitgeschichtsforschung kaum einen Begriff von einer sozialen Praxis der Vergemeinschaftung hatte.2 Seither hat sich allerdings einiges getan. Gerade die in den vergangenen etwa zehn Jahren geführte Diskussion um den Nutzen und die Anwendung des ‚Volksgemeinschafts’-Begriffs als geschichtswissenschaftliches Analyse-Konzept hat erheblich „zur Horizonterweiterung für die Untersuchung von NS-Gesellschaft und NS-Herrschaft“ (S. 8) beigetragen.
Die sinnvolle Nutzung des ‚Volksgemeinschafts’-Begriffes in der schulischen sowie außerschulischen Geschichtsvermittlung steckt dabei noch in den Kinderschuhen. So ist der von den Geschichtsdidaktiker/innen Uwe Danker und Astrid Schwabe herausgegebene Sammelband ein erster Beitrag zum fachdidaktischen Diskurs über die Potentiale und Grenzen des „Volksgemeinschaftskonzepts für das historische Lernen“ (S. 10). Die drei thematischen Blöcken zugeordneten Beiträge resultieren aus einer im Mai 2015 vom Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte an der Europa-Universität Flensburg veranstalteten Konferenz zum „Vermittlungspotential der ‚NS-Volksgemeinschaft’“.3
Der erste Block zu fachwissenschaftlichen Diskursen versammelt drei Aufsätze, die den Blick auf die geschichtswissenschaftliche Analysekategorie ‚Volksgemeinschaft’ eröffnen. Frank Bajohr beschreibt zunächst die „‚Vorgeschichte’ jener historiographischen Debatten, die sich mit dem Begriff der Volksgemeinschaft verbinden“ (S. 25). So gingen seit den 1980er-Jahren nicht nur von der maßgeblich durch Peukert beförderten Alltagsgeschichte methodisch-theoretische Impulse aus, sondern ebenso von der Oral History und hier insbesondere dem LUSIR-Projekt Lutz Niethammers, der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie schließlich einer Gesellschaftsgeschichte der Verfolgung. Sie legten den Grundstein dafür, den Begriff der ‚Volksgemeinschaft’ für die NS-Forschung zu operationalisieren. Mit den verschiedenen Bedeutungsschichten dieses Quellen- und Analysebegriffs befasst sich der Aufsatz von Martina Steber und Bernhard Gotto. Ein „Masterkonzept“ ließe sich mit dem ‚Volksgemeinschafts’-Begriff nicht präsentieren, doch stelle er „ein geeignetes Instrument“ dar, „um den soziokulturellen Wandel während der NS-Diktatur zu analysieren“ (S. 38). So werden fünf Dimensionen ausgemacht, die die ‚Volksgemeinschaft’ bestimmt hätten: ‚Volksgemeinschaft’ als „gedachte Ordnung“, als „strahlende Zukunft“, als „dichotomisches Zuschreibungssystem“, als „Referenz und Begründungsstrategie“, als „eindringliche[r] Appell“ (S. 41–44).
Mit dem manchmal schwierigen Verhältnis zwischen der historischen (Er-)Forschung von Nationalsozialismus und Holocaust auf der einen sowie der medial-öffentlich vermittelten Geschichtskultur auf der anderen Seite befasst sich Astrid Schwabe. Ist es denn so, dass die Geschichtswissenschaft eine Funktion als ‚Zulieferer’ historischen Wissens wahrnimmt (Inhalt), die von einer nicht-akademisierten ‚Public History’ lediglich aufgegriffen und verarbeitet wird (Form)? Tatsächlich muss dieses Bild hinterfragt werden. Stattdessen seien Interdependenzen zwischen gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsspannen, Akteur/innen, Machtverhältnissen und Handlungsspielräumen zu fokussieren.
Uwe Danker leitet mit seinem Beitrag über den geschichtsdidaktischen Zugriff auf den ‚Volksgemeinschafts’-Begriff in den zweiten Block zu Potenzialen und Herausforderungen in geschichtsdidaktischer Perspektive ein. Im Anschluss an seine Diagnose einer defizitären Vermittlung der Erfahrungen des Nationalsozialismus formuliert er Erklärungspotenziale sowie didaktische Qualitätsstandards für die Vermittlung des ‚Volksgemeinschafts’-Konzeptes. Einen etwas anderen Schwerpunkt setzt Detlef Schmiechen-Ackermann in seinem einer „Didaktik der Demokratie“ gewidmeten Aufsatz. Anhand von Fallbeispielen wie dem Gelände der Reichserntedankfeste auf dem Bückeberg oder dem KdF-Komplex Prora, also von originären Täter-Orten, wären Potenziale und Begrenzungen des ‚Volksgemeinschafts’-Konzeptes auszuloten. Eine Systematisierung unterlässt der Autor dabei jedoch; die Aufzählung von Erinnerungsorten scheint beliebig. Auch einen konkreten methodisch-theoretischen Zugang, insbesondere zur pädagogischen Vermittlungsarbeit zum Komplex ‚Volksgemeinschaft’ an Lernorten und Dokumentationszentren, schlägt Schmiechen-Ackermann nicht vor. Nicht überraschend konstatiert Axel Drecoll ein „analytisch-konzeptionelle[s] Defizit“ (S. 106f.) hinsichtlich der Frage von Vermittlungszielen und Ausstellungskonzepten an Gedenk- und Informationsorten. Wie müssen Exponate ausgestellt werden, wenn aus einer quasi immanenten Re-Ästhetisierung nicht eine Auratisierung und damit Faszination für den Nationalsozialismus erwachsen soll? Gegenüber der didaktischen Aussagekraft des ‚Volksgemeinschafts’-Konzeptes bleibt der Autor wegen dessen Deutungsoffenheit skeptisch.
Im dritten Block zu Vermittlungskonkretionen im schulischen Unterricht untersucht Etienne Schinkel in seinem Beitrag die Verwendung des ‚Volksgemeinschafts’-Begriffes in Schulbüchern für den Geschichtsunterricht. Es folgt ein Aufsatz von Christian Mehr über Vermittlungsmöglichkeiten und -grenzen des Terminus im Rahmen der Unterrichtswirklichkeit. Anhand der Unterrichtsstunde einer zehnten Realschulklasse, in welcher der Spielfilm „Napola“ gezeigt wurde, diskutiert Mehr die (ungenutzten) didaktischen Potentiale. Der außerschulischen Arbeit wendet sich der Beitrag von Marcel Mierwald zu. Er beschreibt mithilfe der Emotionsgeschichte und am Fallbeispiel des Alfried-Krupp-Schülerlabors an der Ruhr-Universität Bochum und von Schüler/innen angefertigten Essays, wie sich der didaktische Transfer des ‚Volksgemeinschafts’-Begriffes vom Quellenbegriff und Analyskonzept zum Lerngegenstand vollzieht. Dirk Strohmenger hebt den Wert regionalgeschichtlicher Zugänge und des Besuchs außerschulischer Lernorte für den Geschichtsunterricht hervor. Für eine „‚Verortung’ der Volksgemeinschaft“ (S. 193) in der schulischen Vermittlung der Sekundarstufen I und II plädiert auch Malte Thießen in seinem instruktiven, weil klar strukturierten Beitrag. Die methodischen quellenbasierten Vorzüge der Visual History und der Oral History zu nutzen, wie Thießen vorschlägt, ist dabei nur folgerichtig. Neben die Lokalisierung, mit der neben der Verräumlichung auch eine Kontextualisierung lokaler Traditionen gemeint ist, stellt der Autor zudem die Transnationalisierung. Einmal implementiert sie sich im Zuge der Erforschung von Krieg und Besatzung in Osteuropa, ein anderesmal tritt sie in komparatistischen Ansätzen mit anderen nationalen Vergemeinschaftskonzepten auf. Abgerundet wird der Band durch den Abdruck des Tagungskommentars von Detlef Garbe, der darin die Perspektive der Gedenkstätten einnimmt.
Die Lektüre wirft jedoch weitere Fragen auf und zeigt verschiedene Leerstellen, die hier kurz benannt sein sollen: Die in den Aufsätzen genannten Fallstudien beleuchten fast ausschließlich, wie Schüler/innen mit NS-Gesellschaftsgeschichte umgehen und diese verarbeiten. Dass die Schwierigkeiten jedoch oft genug schon in der universitären Ausbildung sowie beruflichen Fortbildung von Lehrkräften liegen, wird nicht problematisiert. Schon eine vom Center für Digitale Systeme (CeDiS) an der Freien Universität angefertigte Studie verweist auf die massiven Defizite in der Lehre zu Holocaust und Nationalsozialismus.4 Zu wenig berücksichtigt wird auch der Gegenwartsbezug und die Bedeutung der didaktischen Vermittlung des ‚Volksgemeinschafts’-Konzeptes in der Migrationsgesellschaft. Angesichts der Debatten um Pflichtbesuche migrantischer Schüler/innen in KZ-Gedenkstätten verwundert dies. Auch geschlechtersensible Zugänge werden nicht berücksichtigt, obwohl Ein- und Ausschluss in der ‚Volksgemeinschaft’ gerade auch über Heteronormativität und Konstruktionen von Männlichkeit(en) und Weiblichkeit(en) verhandelt wurden.
Der Sammelband kann nur den Anfang einer konstruktiven Diskussion um die geschichtsdidaktische Anwendbarkeit des ‚Volksgemeinschafts’-Konzeptes bilden. Bisher verwirrt der ‚Volksgemeinschafts’-Begriff mehr als zu erhellen, „da jeder erst einmal sagen muss, was er darunter versteht“ (S. 186f.), wie Dirk Strohmenger in seinem Aufsatz betont. Die didaktische Nutzbarkeit ist damit noch gar nicht bewiesen. Fazit der meisten Beiträge des Bandes: Zwar lasse sich mithilfe einer Praxeologie von NS-Gesellschaft und -Alltag, die der ‚Volksgemeinschafts’-Begriff mit sich bringt, durchaus didaktisch arbeiten. Doch weisen mehrere Autor/innen wiederholt nicht nur auf die Potentiale, sondern im gleichen Atemzug auf Grenzen hin. Somit bleibt die Frage: Lässt sich also die Komplexität des Analyserahmens ‚Volksgemeinschaft’ tatsächlich didaktisch verwerten?
Anmerkungen:
1 Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 23.
2 Zur Pionierarbeit Peukerts hinsichtlich einer Forschungsperspektive auf den ‚Volksgemeinschafts’-Begriff siehe Michael Wildt, Die Volksgemeinschaft nach Detlev Peukert, in: Rüdiger Hachtmann / Sven Reichardt (Hrsg.), Detlev Peukert und die NS-Forschung (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 31), Göttingen 2015, S. 49–68.
3 Stephanie Kowitz-Harms / Anna Menny, Tagungsbericht: Vermittlungspotenzial der „NS-Volksgemeinschaft“ – Der fachdidaktische Gehalt eines wissenschaftlichen Analysekonzepts, 28.05.2015–29.05.2015 Schleswig, in: H-Soz-Kult, 02.07.2015, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6060 (08.02.2018).
4 Zur Studie „Lehre über den Holocaust in Deutschland“ siehe https://www.cedis.fu-berlin.de/services/projektentwicklung/abgeschlossen/studie-lehre-zum-holocaust/index.html (18.02.2018).