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Titel
Topographien des Alltags. Bologna und Straßburg um 1400


Autor(en)
Arnaud, Colin
Reihe
Europa im Mittelalter
Erschienen
Berlin / Boston 2018: de Gruyter
Preis
€ 109,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Gussone, Historisches Institut, Universität Mannheim

In seiner unter dem eigentlich präziseren Titel Bude, Markt und Haus im Spätmittelalter. Eine vergleichende Topographie der Wohn-, Arbeits- und Verkaufsräume in Bologna und Straßburg um 1400 eingereichten Dissertation befasst sich Colin Arnaud mit zwei europäischen mittelgroßen und aus diesem Grund repräsentativen Städten, die um 1400 regionale Zentren waren, beide an einem überregionalen Fernstraßennetz lagen, über Wasserwege und eine starke politische Führungsschicht verfügten.

Die Arbeit setzt sich zusammen aus einem ausführlichen Inhaltsverzeichnis, das einen raschen Überblick über die einzelnen Kapitel und Unterpunkte vermittelt, gefolgt von der Einleitung, in der Arnaud seine Fragestellung und seine Quellen wie auch bereits vorhandene Studien zu Bologna und Straßburg vorstellt, auf deren Ergebnisse zurückgegriffen werden konnte, auch wenn sie den Zeitraum zwischen 1350 und 1500 kaum behandeln. Neben der Definition der verwendeten Begriffe begründet Arnaud seine Entscheidung für die zu vergleichenden Städte und die Untersuchungsmethode, erläutert, an welche Debatten er anknüpfen und welche als allgemeingültig angesehenen Forschungsmeinungen er überprüfen möchte. In den sechs Großkapiteln der eigentlichen Untersuchung werden die angerissenen Fragen im Detail untersucht, zunächst die „offenen“ Märkte (keine dauerhaften Verkaufsstellen), dann der „feste“ Markt (ortsfeste Buden, mehrheitlich nicht den Marktregeln unterworfen). Es werden die Orte des Wohnens und Arbeitens (Kap. 4) und die Dynamiken der Nachbarschaft (Kap. 5) in den Blick genommen, schließlich der Stadtrand mit den dortigen Zwischenmärkten (Kap. 6) sowie die Zentralmarktbereiche beider Städte (Kap. 7), bevor die Ergebnisse in den Schlussfolgerungen zusammengefasst werden. Der Autor betrachtet Straßburg und Bologna durchgängig gemeinsam und stellt sie in jedem Abschnitt und jedem Einzelaspekt direkt nebeneinander.

Ergänzt werden die im Text verschränkten Aussagen durch die Abbildung vieler untersuchter Einzelaspekte, getrennt in jeweils einer Karte für Straßburg und für Bologna (insgesamt 80 Karten). Diese Karten sind ungemein hilfreich, aber gerade weil sie ein höheres Maß an Zuverlässigkeit suggerieren als die Quellen hergeben, weist der Verfasser auf die Aussagegrenzen von Karten im Allgemeinen und die Notwendigkeit hin, sie nicht unabhängig von der textlichen Darstellung zu nutzen. Die mangelhafte Druckqualität dieser gut durchdachten Karten ist dagegen sehr zu bedauern, da insbesondere kleine Symbole in unterschiedlichen Farben teils kaum zu unterscheiden sind (erheblich störend etwa auf Karte 10, S. 85, Karte 12, S. 94, Karte 17, S. 104, oder Karte 80, S. 451). Beleglisten zu den Karten gleichen diesen Mangel mit ihren ausführlichen Informationen jedoch ein wenig aus und ermöglichen zudem die Überprüfung der Einträge. Eine Übersicht über diese Listen und über die Tabellen erlaubt eine Nutzung auch unabhängig vom Hauptteil. Weiteres Material im Anhang veranschaulicht die Stadttopographie, beispielsweise das Verzeichnis der 99 Pfarrkirchen in Bologna. Der Band schließt mit Verzeichnissen der verwendeten Quellen und Literatur, Bilder und Karten, Tabellen und Beleglisten, der Siglen, der Personen und Orte. Sie hätten vielleicht noch durch ein Sachregister ergänzt werden können.

Als wichtigste Quellen, deren Schwierigkeiten und Vorzüge dargelegt werden, dienten für Bologna der Liber Signatus (1393) mit Verträgen über die Vermietung kommunalen Besitzes und die Estimi von 1385 mit den Grundsteuererklärungen Bologneser Bürger sowie die Vacchettini des Ufficio del Fango, Berichte über Kontrollen des öffentlichen Raums und Verstöße beispielsweise gegen die Marktordnungen. Für Straßburg wurden die Allmendbücher von 1427 und 1466, in denen die so genannten Allmendherren alle bürgerlichen Übergriffe auf städtischen Grundbesitz verzeichneten, die daraufhin versteuert werden mussten, sowie die Allmendzinsverzeichnisse von ca. 1370 und 1444 ausgewertet. Da keine herkömmliche sozialtopographische Untersuchung mit vollständiger Kartierung der städtischen Vermögensverhältnisse angestrebt, sondern „Vergemeinschaftungsprozesse“ (S. 13) in den Blick genommen werden, sind die lückenhaften Informationen dieser Quellen ausreichend.

Arnaud möchte das (zu) positive moderne Bild von der integrativen Qualität der mittelalterlichen Stadt und ihrer Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung hinterfragen und dazu „sozialräumliche Verhältnisse, die einem Zustand von mehr oder weniger großem Zusammenhalt zwischen den städtischen Einwohnern entsprechen oder die umgekehrt auf eine tiefere Funktionalisierung und Vergesellschaftung der sozialen Beziehungen hinweisen“ (S. 3) identifizieren. Er überprüft in dem Zusammenhang die verbreitete und in der Regel nicht belegte, Otto Brunner folgende Ansicht, in der mittelalterlichen Stadt sei Wohnen (definiert als alltäglicher Aufenthaltsbereich und Schlafstätte) und Arbeiten im „ganzen Haus“ vereint und keine Trennung zwischen Berufs- und Privatleben üblich gewesen. Dass dies pauschal nicht zutreffen kann, belegen – eigentlich auf den ersten Blick – die zahlreichen bekannten Arbeitsformen, die nur außer Haus ausgeführt werden konnten. Daneben weisen aber auch die vielen Buden im städtischen Raum auf getrenntes Wohnen und Arbeiten hin, insbesondere unabhängig vom Wohnhaus existierende Arbeits- und Verkaufsbuden, die bislang nur in der italienischen Forschung Beachtung gefunden haben und noch nicht in Beziehung zum Wohnort ihrer Besitzer oder Mieter gesetzt wurden. Die Untersuchung beschränkt sich dabei auf Handwerker, Arbeiter und profane Dienstleister (Händler, Schreiber, Notare), Klerus und Militär bleiben dagegen unberücksichtigt. Festzustellen war daher zunächst, wo sich im Stadtraum „ganze Häuser“ identifizieren ließen, wo vom Wohnort abgetrennte Arbeits- und Handwerksbuden und wo sich die Wohnungen der Transport- und Bauarbeiter befanden.

Arnaud nutzt die städtische Topographie, um daraus Rückschlüsse auf die Qualität der sozialen Beziehungen in der Stadt zu ziehen: Ihn interessieren die Gestalt und die Verteilung der einzelnen Markträume – Markt wird als „Verdichtung von Tausch- und Verkaufsmöglichkeiten in einem bestimmten Bereich“ (S. 5) definiert – und deren Beeinflussung der Sozialbeziehungen in den Stadtbereichen. Dabei werden zentrale Marktbereiche von Außenmärkten an der Peripherie, „Zwischenhandel“ von „Endhandel“, spezialisierte von gemischten Märkten unterschieden, dabei die städtischen Kaufhäuser, die jährlichen Messen, die Aspekte Groß- und Einzelhandel, Fern- und Nahhandel, Märkte für Rohstoffe und Fertigprodukte einbezogen – Punkte, die sich teils überschneiden, teils ergänzen. Daneben findet die Organisation des Marktgeschehens Beachtung, die Reservierung von bestimmten Verkaufstagen oder die Zuweisung bestimmter Plätze an bestimmte Waren und Händler, die Häufigkeit der Markttage pro Woche, die unterschiedlichen Regelungen für Produzenten und Weiterverkäufer, Vollzeit- und Teilzeitmarktarbeiter.

Beide Städte lassen sich – vor allem den Marktbefunden folgend – in drei Bereiche einteilen, einen Zentralmarktbereich bzw. das Stadtzentrum sowie den intermediären Bereich, wo sich Bevölkerungsschichten, Markttypen sowie Heimarbeiter und Pendler mischten, und die Peripherie mit einer vor allem funktionalen Raumgestaltung, d.h. mit Mühlen, Ziegeleien und anderen industriellen Gewerben mit großem Platz- und Wasserbedarf und mit funktionalen Marktbereichen für Groß- und Zwischenhandel. Spezialisierte Außenmarktbereiche, um die sich Berufscluster (aber keine völlig exklusiven) bildeten, stellten in Bologna am Campus Fori die von der Stadt weitgehend abgeschottete Holz- und Kornverarbeitung dar, während sich die Straßburger Cluster um den Holzmarkt im intermediären Stadtbereich in der Küffergasse und in Hafennähe befanden und somit in die Stadt integriert waren.

Bei der Bestimmung der Distanz zwischen Wohn- und Arbeitsstätte zeigte sich, dass „ganze Häuser“ in Straßburg vor allem im Zentrum konzentriert waren, in Bologna im intermediären Bereich, wo aber auch die Mehrzahl der Pendler lebte. Insgesamt überwog in Bologna die Trennung, in Straßburg die Nähe zum Arbeitsplatz. Transportarbeiter, Bauarbeiter und Tagelöhner wurden in Bologna an die Peripherie verdrängt, in Straßburg konnten sie ihren Wohnort überall in der Stadt frei wählen. Dass in Bologna kaum Wohnhäuser im Zentrum zu finden waren, lag an den monumentalen Verwaltungsgebäuden, Zeichen für „ostentative und repressive Herrschaft“ (S. 291), und an den zahlreichen Kirchen, Patrizierhäusern, Zunfthäusern und der Universität, während in Straßburg die öffentlichen Gebäude kleiner und funktionaler waren und die Patrizier ihre Höfe eher außerhalb des Zentrums errichtet hatten, so dass Raum für Wohnungen blieb und weniger Konkurrenz herrschte.

Die Qualität der Nachbarschaftsbeziehungen wird an der Lage von Kirchen, Wirtshäusern, Zunfttrinkstuben, Bäckereien und Badehäusern in der Stadt abgelesen, die sich als Orte nachbarschaftlicher Begegnung anbieten. Deren gleichmäßige Verteilung über die Stadt (wie in Straßburg) wird als günstige Voraussetzung für die Ausbildung lebendiger, inkludierender Nachbarschaften gewertet, während eine zu hohe oder zu geringe Konzentration (in vielen Kirchspielen Bolognas) kein nachbarschaftliches Bindungspotential entwickeln kann.

Beide Städte unterscheiden sich auch bei näherer Betrachtung des Zentrums: Während auf dem Straßburger Zentralmarkt alle Güter gehandelt wurden und auch Gesamt- bzw. Endproduktion stattfand, sich demnach alle Schichten der Stadtbevölkerung trafen, war der Zentralmarkt in Bologna nicht in gleichem Maß durchmischt. Das Straßburger Zentrum, wo zudem genügend Wohnraum zur Verfügung stand, war demnach, alles zusammengenommen, ein einladender, inkludierender und deutlich durchmischter Ort der Gemeinschaft, zeigte horizontale Zentralität; das Bologneser Stadtzentrum ein Ort hierarchischer, exklusiver und daher vertikaler und eher funktionaler Zentralität. Insgesamt also ließen sich „zwei grundlegend verschiedene Versuche, die sozialen Beziehungen im Stadtraum zu ordnen“ (S. 297), feststellen.

Es handelt sich um ein nicht nur methodisch interessantes Buch, dessen topographischer Städtevergleich zu dem einerseits naheliegenden Ergebnis kommt, dass sich Straßburgs und Bolognas Topographien im Spätmittelalter in manchem ähnelten, beispielsweise gab es in beiden „keine vollständige funktionale Trennung nach Stadtbereichen“ (S. 298), dass sie sich andererseits jedoch in entscheidenden Punkten unterschieden. Arnaud schließt mit der – nicht näher ausgeführten – Anregung, die europäische Stadt weniger isoliert zu betrachten, sondern insbesondere auch die Gemeinsamkeiten mit orientalischen Städten zu untersuchen und zu beachten. Denn das Beispiel Bologna legt nahe, dass, was die Konzentration von wirtschaftlichen Aktivitäten im Zentrum angeht, möglicherweise manche Städte mehr Gemeinsamkeiten mit dem Orient als mit anderen europäischen Städten aufweisen.

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