Der von Anke John herausgegebene Sammelband enthält die Aufsätze von 11 Autoren und einer Autorin und vereinigt deren Beiträge zu einem Symposium, das am 20. und 21. November 2015 in der Aula der Universität Rostock stattgefunden hat. Anlass war ein mecklenburgisches Doppeljubiläum: zum einen die Etablierung des Historischen Seminars der Rostocker Universität 1865 und zum anderen die Wiederbegründung der Historischen Kommission für Mecklenburg im Jahr 1990. Derlei Jubiläen beflügeln oftmals die Erinnerung und die Erinnerungskultur, zumal wenn sie auf der regionalen oder lokalen Ebene stattfinden. Sie bieten aber zugleich einen guten Anlass, um in Zeiten globaler Vernetzung, weltweiter Flüchtlingsbewegungen und angesichts der gegenwärtig zu beobachtenden Renaissance von Heimatbegriff und Heimatgeschichte über die Bedeutung und den Zweck von Landesgeschichtsschreibung nachzudenken. Ausgehend von diesen Überlegungen sowie der generell zu konstatierenden Methodenvielfalt der Landesgeschichtsforschung, der starken Fortentwicklung epochenübergreifender oder interdisziplinärer Ansätze und mit Blick auf ein konstruktivistisches Raumverständnis als historische Kategorie wurde an die Autor/innen die Leitfrage gerichtet, „ob und wenn ja, wie eine auf Mecklenburg bezogene Geschichte heute noch geschrieben werden kann“ (S. 10). Die versammelten Aufsätze fragen also nicht ausschließlich nach der vergangenen und gegenwärtigen Bedeutung der mecklenburgischen Geschichte in Wissenschaft und Öffentlichkeit, sondern versuchen darüber hinaus, ihre künftige geschichtskulturelle Relevanz stärker auszuleuchten. Obgleich der Akzent des nun vorliegenden Tagungsbandes auf der Region Mecklenburg liegt, werden auch andere Bundesländer und die Entwicklung der Landes- und Regionalgeschichtsforschung in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt berücksichtigt.
Im Anschluss an das Grußwort des Rostocker Universitätsrektors führt Anke John in ihrem Vorwort in das Tagungsthema ein, wobei sie noch einmal die wichtigsten Etappen der mecklenburgischen Landesgeschichtsschreibung aufgreift und auch die aktuellen Diskussionen um die Stiftung und Reflexion von Identitäten angesichts des wiedererstarkten Heimatbegriffs nicht ausspart. Hier hätte sich der Rezensent gewünscht, dass die Herausgeberin noch stärker auf die Konstruktion und Herausbildung von Landesidentität und -bewusstsein hinweist, an der verschiedene Akteure mitwirken, die oftmals konkurrierende landesgeschichtliche Identitätsangebote artikulieren. Denn dadurch wird zugleich deutlich, dass es sich bei der Identitätsbildung oftmals um bottom-up-Prozesse handelt, die aus der Gesellschaft heraus entstehen.1 Dies ist kein ungefährlicher Prozess: Schließlich birgt die Rede oder das Bild einer inkludierenden Gemeinschaft eo ipso die Exklusion, die Ausgrenzung und auch die Möglichkeit menschenfeindlichen Potenzials. Identitätspolitik lässt sich somit auch in einer tendenziell totalitären Form denken, die diametral zu der Idee und Anerkennung multipler Identitäten steht.
Den Auftakt markiert Enno Bünz mit einer bewusst sehr weit gefassten Betrachtung der deutschen Landesgeschichtsforschung im 19. und 20. Jahrhundert, die allgemeine Hintergrundbilder liefert, auf die sich die regionalen Einzelstudien beziehen lassen. Konzise zeichnet der Leipziger Historiker die Institutionalisierung der landeshistorischen Forschung nach, ohne dabei einer allgemeinen Krise des Faches das Wort zu reden. Anknüpfend an die Darstellung von Bünz befasst sich Michael North vor allem mit dem Wandel und der Pluralität von Räumen, die er mit der provokanten Frage „Wie mecklenburgisch war und ist die mecklenburgische Geschichte?“ verbindet. Ausgehend von einigen Beispielen, die die gemeinsame Strukturlage der südlichen Ostseeanrainer nahelegen, plädiert North für eine stärkere Einbeziehung der von Bénédicte Zimmermann und Michael Werner entwickelten „Histoire croisée“ im Bereich der Landesgeschichte.2 Mithilfe dieses kulturwissenschaftlichen Ansatzes lässt sich die Verflechtung von politischen, ökonomischen, intellektuellen und künstlerischen Dynamiken, die in kulturellen Austauschprozessen wirken, erschließen.
Der umfangreichste Beitrag stammt von Ernst Münch und beschäftigt sich mit den Hauptetappen und Problemen der mecklenburgischen Landesgeschichtsschreibung. Dazu analysiert er detailliert die Geschichtsauffassungen, die den Gesamtdarstellungen und Panoramen zur Geschichte des Landes im 19. und 20. Jahrhundert zugrunde lagen. In seinem gerafften Überblick bestätigt er für das Beispiel Mecklenburg gleich eine ganze Reihe von allgemeinen Entwicklungstrends der deutschen Gesellschaft und ihrer Geschichte. Eine weitere wichtige Studie in diesem Zusammenhang ist die erste geschlossene Landesbibliographie von Friedrich Bachmann aus dem Jahr 1899. Den Autor des Werkes und dessen Methoden untersucht Karsten Schröder. Wie lohnend die Beschäftigung mit Historiengemälden ist, zeigt der Beitrag von Jakob Schwichtenberg, der die Funktion von solchen als Vermittler mecklenburgischer Landesgeschichte eingängig vor Augen führt. Bernd Kasten rückt im Anschluss daran die Darstellung der Geschichte Mecklenburgs in den Schul- und Lesebüchern des Landes zwischen 1830 und 1918 in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, wobei er sichtbar machen kann, dass der Stellenwert der mecklenburgischen Historiographie in den Lehrwerken stark von geschichtspolitischen Konjunkturen abhing. Nach der Reichsgründung 1871 wurde sie zugunsten der preußisch-deutschen Nationalgeschichte auf fünf von insgesamt dreißig Unterrichtsstunden im Fach Geschichte reduziert.
Wissenschaftliches Neuland betreten Matthias Manke und Niklot Klüßendorf in ihren Aufsätzen: Ersterer leuchtet die mecklenburgische Geschichtsforschung in der DDR aus, Letzterer befasst sich dagegen detailliert mit jener in der Bundesrepublik bis 1990. Während Manke den Durchschlag zentral vorgegebener Intentionen der sozialistischen Geschichtspolitik, die damit eng verbundene Begrenzung des Themenspektrums sowie eine an den DDR-Bezirken ausgerichtete Institutionalisierung deutlich machen kann, arbeitet Klüßendorf in erster Linie das Engagement und die eingeschränkten Optionen jener Historiker/innen der BRD heraus, die auch nach 1945 eine mecklenburgische Geschichtsforschung betrieben. Dass in der DDR auch über die Numismatik durchaus Landesgeschichte erforscht werden konnte, skizziert Torsten Fried am Beispiel des Nestors der DDR-Münzwissenschaft Arthur Suhle, der an der Reorganisation der Großherzoglichen Münzsammlung, die im Krieg ausgelagert worden war und erst 1961 nach Schwerin zurückkehrte, beteiligt war.
Das geglückte Zusammenspiel von geschichtsinteressierten Laien und Fachhistoriker/innen thematisiert sodann Florian Ostrop anhand der Rostocker Geschichtswerkstatt, die 1995 etabliert wurde und seitdem eine „Geschichtsarbeit von unten“ – unter punktuell gebotener Hinzuziehung von sozial- und alltagsgeschichtlichen Ansätzen für „eine engagierte Orts- und Regionalgeschichtsschreibung“ – betreibt (S. 212). Im Fokus der beiden letzten Aufsätze steht die landesgeschichtliche Wissensvermittlung. Wolf Karge zeichnet die Entwicklungsgeschichte landes- und regionalgeschichtlicher Themen in Mecklenburgs Museen nach, die als eine Geschichte verpasster Chancen, über das Planungsstadium nicht hinausgekommener Anläufe sowie Fragmentierungen landeshistorischer Ausstellungen gelesen werden kann. In ihrem lesenswerten Beitrag zur Landes- und Regionalgeschichte im mecklenburgischen Schulunterricht arbeitet Anke John abschließend heraus, dass diese im Bereich der schulischen Vermittlung oftmals nur zur Vertiefung oder Sicherung jener Kompetenzen dient, die zuvor im Rahmen der nationalen Demokratie- und Zeitgeschichte von den Schüler/innen und Lehrenden erarbeitet wurden.3
Summa summarum gelingt es dem Tagungsband, neue Perspektiven auf die Köpfe, Institutionen und Bereiche der mecklenburgischen Landes- und Regionalgeschichte seit dem 19. Jahrhundert zu entwickeln. Dabei lesen sich die einzelnen Aufsätze ebenso informativ wie spannend, wobei kritisch anzumerken bleibt, dass in erster Linie Schlaglichter auf einzelne Phänomene geworfen werden. Eine Synthese liefert der vorliegende Band leider nicht. Es wäre wünschenswert gewesen, dass zumindest der Versuch unternommen wird, die Ergebnisse des Bandes zusammenzufassen. Denn die hier versammelten Beiträge fächern eine breite Palette an Ausformungen, Verbindungen und Praktiken der mecklenburgischen Landes- und Regionalgeschichte auf. Umso positiver fallen dadurch allerdings der reflexive Umgang mit Zeitdiagnosen und deren partielle Historisierung auf. Freilich sollen diese Einwände das Verdienst des Werkes, das insgesamt voll überzeugt, keineswegs schmälern. Hier liegt ein Sammelband vor, der sowohl differenzierte Einzelbeiträge liefert als auch die Gelegenheit offeriert, sich im Sinne einer vergleichenden Landesgeschichte mit den Köpfen, Institutionen und Bereichen im eigenen Umfeld zu beschäftigen.
Anmerkungen:
1 Vgl. dazu die anregende Diskussion in Norbert Kartmann (Hrsg.), Hesse ist, wer Hesse sein will . . . ? Landesbewusstsein und Identitätspolitik seit 1945 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 48, 14 / Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen 46), Marburg 2017.
2 Michael Werner / Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636; Dies., Beyond Comparison. Histoire croisée and the Challenge of Reflexivity, in: History and Theory 45 (2006), S. 30–50.
3 Zu diesem komplexen Themenfeld vgl. Oliver Auge / Martin Göllnitz (Hrsg.), Landesgeschichte an der Schule. Stand und Perspektiven (Landesgeschichte 2), Ostfildern 2018.