Titel
Politischer Widerstand. Allgemeine theoretische Grundlagen und praktische Erscheinungsformen in Nationalsozialismus und Kommunismus


Herausgeber
Zehnpfennig, Barbara
Erschienen
Baden-Baden 2017: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 74,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Marco Brödel, Universität Leipzig

In diesem Jahr wird in vielfältiger Form des Aufbegehrens in der ehemaligen Tschechoslowakei, dem sogenannten „Prager Frühling“, gedacht. In diesem Zusammenhang werden Fragen nach den Motiven, Zielen und Mitteln der zum Teil widerständischen reformistischen Gruppen und der repressiven sowjetischen Staats- und Parteiführung diskutiert. Eben jene Fragen spielen eine zentrale Rolle in dem bereits 2017 im Nomos Verlag erschienenen und von Barbara Zehnpfennig, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau, herausgegebenen Sammelband zum politischen Widerstand. Die geschichtswissenschaftliche Forschung zu diesem Topos ist unüberschaubar groß. Dies gilt besonders für den Widerstand im Nationalsozialismus1, aber auch für den im sowjetischen Machtbereich.2 Hinzu kommen die unzähligen Beiträge angrenzender Forschungsbereiche.

Der Band beginnt mit einem ideengeschichtlichen Kapitel. Stefan Schick, tätig am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie der Universität Regensburg, beschäftigt sich mit den mittelalterlichen Anfängen eines modernen Widerstandsrechts, welche er vor allem anhand der Überlegungen Thomas von Aquins aufzeigt. Dies führt der Historiker Robert von Friedeburg weiter, indem er sich mit der Widerlegung der These beschäftigt, dass Aufstände und Revolutionen in der Frühen Neuzeit auch im Hinblick auf das Widerstandsrecht den Weg in die Moderne geebnet haben. Die Politologin Frauke Höntzsch beschreibt in ihrem Beitrag das kollektive Widerstandsrecht als Übergangsphänomen an der Schwelle von der Frühen Neuzeit zur Moderne, indem sie auf die Überlegungen von Locke, Hobbes und Kant näher eingeht und den Bogen bis zum Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht 1956 spannt. Abschließend erläutert der Rechtswissenschaftler Rolf Gröschner das Widerstandsrecht im Grundgesetz, dessen Ursprünge und Veränderungen. Er kontextualisiert dieses durch Vergleiche mit den Verfassungen anderer EU-Staaten und einzelner Bundesländer. Sein Verweis auf die Symbolfunktion des Widerstandsrechts für eine wehrhafte Demokratie könnte begründen, weshalb der Widerstand von Kommunisten im Nationalsozialismus im vorliegenden Band nur am Rand erwähnt wird, da diese nicht für eine freiheitlich demokratische Ordnung eintraten.

Der zweite Teil des Sammelbandes zum Widerstand im Nationalsozialismus öffnet mit einem Beitrag des Militärhistorikers Winfried Heinemann zur Motivlage des militärischen Widerstands. In sehr stringenter Art und Weise behandelt er die zentralen militär-fachlichen und ethisch-moralischen Motive der Akteure rund um das Attentat vom 20. Juli 1944. Dabei arbeitet er heraus, dass es sich um einen klassischen Militärputsch gehandelt habe, der, entgegen vieler Stimmen, kompetent geplant und durchgeführt worden sei. Auch der Historiker Peter Steinbach widmet sich dem 20. Juli 1944, genauer gesagt Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Er plädiert dafür, bei der Betrachtung von Stauffenberg und seiner Mitstreiter die Spannungsverhältnisse wie Kooperation/Opposition und Dienstfunktion/Widerstand in den Blick zu nehmen. Als jemand, der einen maßgeblichen Anteil an der Erforschung des Widerstandes im Nationalsozialismus und dessen Rezeption hat3, gelingt es ihm plausibel darzustellen, wie Empörung zu Verweigerung und innere Opposition zum Widerstand führte. Peter Steinbach kritisiert die moralisierende Deutung durch die Geschichtswissenschaft, die dabei den historischen Kontext außer Acht lasse. Seine berechtigten Einwände sind allerdings nicht immer lückenlos untermauert – als Beleg für die demokratische Gesinnung Stauffenbergs führt er beispielsweise einen Lobesbrief Theodor Heuss‘ an die Witwe Stauffenbergs von 1952 an. Dem religiös motivierten Widerstand nähert sich der Theologe Gerhard Ringshausen durch einen Vergleich der Biografien Martin Niemöllers und Hans Bernd von Haeftens. Seine Darstellung baut Ringshausen um die private Korrespondenz von Haeftens und die Predigten Niemöllers auf, verknüpft das Schicksal der beiden miteinander und bettet es in das Zeitgeschehen ein. Die Problematik des Tyrannenmords, der sich von Haeften angesichts seiner Beteiligung am Hitler-Attentat und der seines Bruders gegenübersah, soll hier als Beispiel für die an vielen Stellen sehr gut funktionierende Verknüpfung von Theorie und Praxis durch die Zusammenstellung der Beiträge genannt werden.

Abgerundet wird dieses Thema durch einen Beitrag des Historikers Hans-Christof Kraus. Er setzt sich in erster Linie mit den zentralen Vorwürfen Theodor S. Hamerows auseinander, die der US-Historiker Ende der 1990er-Jahre gegenüber den Akteuren des 20. Juli 1944 formulierte.4 Kraus entkräftet diese, während er einigen Argumenten Hamerows ihre Berechtigung zugesteht. Mittels der Darstellung dreier Fallbeispiele zeichnet Frank Lothar Kroll, ebenfalls Historiker, den Widerstand von Intellektuellen und Wissenschaftlern im Dritten Reich nach. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf die Ambivalenz der Lebenswege Werner Bergengruens, Gertrud Fusseneggers und Heinrich Lützelers, bei dem Kroll einst seine Magisterarbeit schrieb. Hervorzuheben ist hier die umfangreiche Literaturliste, die dem Beitrag zu Grunde liegt. Der Beitrag Armin Fuhrers, Journalist und freier Publizist, kann als Plädoyer verstanden werden, den beiden Juden Herschel Grynszpan und David Frankfurter größere Aufmerksamkeit bei der Widerstandsforschung einzuräumen. Er zeigt auf, dass beide, gemessen an der Widerstandsdefinition des Historikers Wolfgang Benz, der das bewusste Handeln in den Mittelpunkt stellt,5 als aktive Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus einzuordnen sind.

Der Widerstand im Kommunismus ist das Themenfeld des dritten Abschnitts. Er beginnt mit einer Mikrostudie des Historikers Günther Heydemann zum Widerstand der Evangelischen Studiengemeinde an der Universität Leipzig und ihres Leiters, des Pfarrers Georg-Siegfried Schmutzler, in den 1950er–Jahren. Die sehr anschauliche und übersichtliche Darlegung dieses Fallbeispiels, die von der Expertise Günther Heydemanns über den Studentenwiderstand in Leipzig zehrt6, hätte allerdings durch eine Diskussion der Begriffe ‚politischer‘ und ‚religiöser‘ Widerstand aus der Überschrift stärker in den Sammelband eingebettet werden können. Der Historiker und Journalist Sven Felix Kellerhoff untersucht in seinem Beitrag anhand einzelner Persönlichkeiten und Gruppen, vornehmlich aus der West-Berliner Studentenschaft, die Fluchthilfe als eine Form von Widerstand gegen das SED-Regime. Um das Verhalten der jeweiligen Fluchthelfer einordnen zu können, unterscheidet er zwischen einem die Motive und das Selbstverständnis der Widerständler ignorierenden, analytisch-wissenschaftlichen und einem an eine freiheitlich-demokratische und rechtsstaatliche Grundhaltung gebundenen, politisch-moralischen Widerstandsverständnis. Kellerhoff ordnet die Akteure seiner Untersuchung nachvollziehbar in dieses Modell ein. Im Hinblick darauf, dass er Kommunisten wegen ihrer Rolle in der SBZ/DDR nur im analytisch-wissenschaftlichen, aber nicht im politisch-moralischen Sinne als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus anerkennt, stellt sich die Frage, inwiefern sich die Hauptakteure des 20. Juli 1944, denen er einen politisch-moralischen Widerstand attestiert, in eine freiheitlich-demokratisch Ordnung eingepasst hätten, oder wie man beispielsweise Robert Havemann mit seiner Wandlung vom überzeugten Stalinisten hin zum SED-Gegner7 anhand dieser Überlegungen einzuordnen hätte.

Den räumlichen Fokus erweitert Andreas Oplatka, Historiker aus Budapest, durch seinen Beitrag über die Langzeitwirkungen des Ungarnaufstandes 1956. Seine Frage nach einem ursächlichen Zusammenhang zwischen den Ereignissen des Jahres 1956 und dem späteren freizügigeren „Gulasch-Kommunismus“ der 1970er und 1980er beantwortet er mittels Kontextualisierung innerhalb der ungarischen und osteuropäischen Geschichte. Dem schließt sich der Beitrag des polnischen Soziologen Michał Kaczmarczyk an, der die Motive und Diskurse innerhalb der polnischen Solidarność-Bewegung in den Fokus nimmt. Der Sammelband schließt mit einer vergleichenden Betrachtung systembedingter Wechselwirkungen zwischen politischem Widerstand und autoritärem Nationalsozialismus sowie totalitärem Kommunismus, die der Politologe Jerzy Maćków anstellt. Er zeigt, dass sich in beiden Diktaturen, aufgrund ihres unterschiedlichen Charakters, unterschiedliche Formen des Widerstands und dessen Bekämpfung herausgebildet haben. Dadurch schärft er nicht nur den Blick für die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus, sondern auch für eine begriffliche Trennung von Widerstand und Opposition sowie Repression und Unterdrückung.

Der Sammelband liefert einen sehr guten theoretischen sowie praktischen Überblick zur Geschichte des politischen Widerstands. Der interdisziplinäre Zugang sorgt für Vielfalt und Qualität und eine Betrachtung bisher vernachlässigter Aspekte. Die Beiträge sind sehr gut herausgearbeitet und ergänzen sich gegenseitig. Die Herausgeberin Barbara Zehnpfennig liefert zudem die Grundlage für eine Erweiterung des Forschungsfeldes um aktuelle Fragen: Geht es um die Legitimität politischen Widerstands, können Fremd- und Selbstwahrnehmung der Handelnden sehr unterschiedlich sein. Durch diese Überlegung ließen sich auch links- und rechtsextremes sowie islamistisches Aufbegehren der jüngeren Geschichte in den Blick nehmen (S. 7).

Anmerkungen:
1 Siehe u. a. Auswahlbibliographie zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2004, https://zeitgeschichte-online.de/thema/auswahlbibliographie-zum-widerstand-gegen-den-nationalsozialismus (23.08.2018).
2 Exemplarisch genannt sei hier die Bibliografie zu Opposition, Widerstand und politischer Repression in der SBZ und DDR des Archivs Bürgerbewegung Leipzig e.V., in: https://www.archiv-buergerbewegung.de/datenbank-bibliografie (23.08.2018).
3 Siehe u. a. Peter Steinbach, Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen. Ausgewählte Studien, Paderborn 1994; ders. / Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945, Berlin 2004.
4 Theodore S. Hamerow, Die Attentäter. Der 20. Juli – von der Kollaboration zum Widerstand, München 1999.
5 Vgl. Wolfgang Benz, Der deutsche Widerstand gegen Hitler, München 2014, S. 8.
6 Siehe u. a. Günther Heydemann, Politische Resistenz und Verfolgung in der Leipziger Studentenschaft 1945 bis Anfang der 1950er Jahre, in: Detlev Brunner / Mario Niemann (Hrsg.), Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung, Paderborn 2011, S. 255–280.
7 Vgl. Arno Polzin, Der Wandel Robert Havemanns vom inoffiziellen Mitarbeiter zum Dissidenten im Spiegel der MfS-Akten, in: BF informiert 26 (2005), S. 21f.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/