S. Schneider: Geschichte einer Schweiz unter Strom

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Title
Elektrisiert. Geschichte einer Schweiz unter Strom


Author(s)
Schneider, Steven
Extent
216 S.
Price
€ 39,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jonas Schädler, Historisches Seminar, Universität Zürich

Wie stellt man eine Sache zur Schau, die nicht unmittelbar sichtbar ist? Vor diesem Problem stand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein ganzer Wirtschaftszweig: Die Elektrizitätsindustrie mit ihrem Produkt, dem elektrischen Strom. Die Elektrifizierung brachte zwar Licht in Hotels, Bahnhofshallen, Fabriken und später in Privathaushalte, sie ermöglichte es Reisenden, nun mit der „Elektrischen“ zu fahren und auf diese Weise dem Russ und Lärm der Dampflokomotiven zu entfliehen. Trotzdem blieb die Funktionsweise des Stroms für die Konsumentinnen und Konsumenten im Dunkeln. Dem waren sich Kraftwerkbetreiber und die elektrotechnische Industrie durchaus bewusst, und so wurde die Industriearbeit schon seit ihren Anfangsjahren eng von ihrer Inszenierung begleitet1: Mit einprägsamen Zurschaustellungen auf Messen, mithilfe imposanter Kraftwerkarchitektur und durch die wirkungsvolle photographische Dokumentation dieser Momente entstand im Verlauf des 20. Jahrhunderts umfangreiches Bildmaterial, das die Elektrifizierung der Schweiz festhält.

Steven Schneider hat sich für sein neues Buch Elektrisiert. Geschichte einer Schweiz unter Strom dieses Bildfundus bedient und die Geschichte der Elektrifizierung nachgezeichnet, indem er eine beachtliche Menge von teilweise unveröffentlichtem Bildmaterial zusammengetragen und durch übersichtlich gehaltene Essays und mit passenden Quellenzitaten ergänzt hat. Die Aktualität des Themas wird damit begründet, dass die Schweiz derzeit vor einer Energiewende stehe und sich daher ein Blick zurück lohne (S. 2). Das Buch hat ein hochgestecktes Ziel: die Darstellung von über 125 Jahren Elektrifizierungsgeschichte. Anhand von 187 Bildern wird ein weiter Bogen zwischen dem Funken der ersten elektrischen Lampe 1879 in St. Moritz bis hin zu elektrisch betriebenen Autos im Jahr 2017 gespannt. Aufgrund dieses äusserst umfangreichen Zeitrahmens und einer Darstellung, die sich auf Bilder konzentriert, vermittelt das Buch lediglich einen Überblick.

Steven Schneider bemüht in seinem Buch eine Erfolgsgeschichte des Stroms, wenn er die Geschichte der Elektrifizierung der Schweiz mit einem klassischen Narrativ beginnt, demgemäss vor allem die „kühnen Pioniere“ die elektrische Kraft zu nutzen wussten und den „Triumphzug der Elektrizität“ einläuteten (S. 22). David Gugerli hat allerdings bereits 1996 aufgezeigt, dass die komplexe Geschichte der Elektrizität keineswegs nur durch eine Aufwärtsbewegung geprägt gewesen war, sondern dass gerade in ihrer Frühzeit teils heftige Debatten um den Strom ausgefochten wurden.2 Trotz des verkürzten Erfolgsnarrativs, das sich weitgehend durch das Buch zieht, stellenweise aber auch Brüche aufweist, liegt mit Elektrisiert ein illustrativ umfangreiches und schön komponiertes Buch vor. Der Band ist in 14 übersichtliche Kapitel unterteilt, die ein facettenreiches Ganzes aufzeigen: Licht, Kraft, Werke, Mächte, Züge, Alltag, Opfer, Achsen, Ikonen, Eifer, Gräben, Sparen, Märkte und schliesslich Ende und Wende.

Die ersten vier Kapitel skizzieren in groben Zügen die Anfangsjahre der Elektrifizierung, die mit dem Aufkommen elektrischer Beleuchtung begann und den Bau von Kraftwerken erforderlich machte. Dass die Realisierung von Kraftgewinnungsanlagen oftmals auf Kosten der Natur ging, illustrieren verschiedene Photographien: Von Hochleitungen dominierte Landstriche (Abb. S. 24) und drastisch umgestaltete Flusslandschaften und Täler (Abb. S. 26) zeigen ein imposantes Wechselspiel von Naturbändigung und Naturzerstörung auf. Die nutzungsorientierten Bauten brachten eine eigene Kraftwerkarchitektur zutage, die von Steven Schneider durch ein stimmungsvolles Zusammenspiel von Text und Bild vermittelt wird.

Der Autor beschreibt anschliessend einleuchtend, dass das Ringen zwischen den Kantonen und privaten Unternehmen um die Konzessionen für die Wassernutzung weitreichende Folgen hatte. Der Kanton Aargau gründete 1916 ein Kantonswerk und steuerte damit massgeblich seinen eigenen Aufstieg zum Industriestandort. Aargau wurde früh zum « Energieherz der Schweiz » mit dem Zentrum Baden, wo sich wichtige Akteure der Elektrizitätswirtschaft ansiedelten (S. 53).

Den Folgen des steigenden Bedürfnisses nach Strom, mit dem ein kontinuierlicher Ausbau der Netze einherging, widmet sich Schneider in den Kapiteln 5 bis 9. Mit der 1922 vollständig elektrifizierten Gotthardlinie sei die Elektrifizierung zum national verbindenden Element aufgestiegen (S. 67). Auch das Stromnetz wurde immer dichter, was einen massiven Ausbau der Stromgewinnung nötig machte. Schneider thematisiert überblicksartig die emotional geführten Debatten, die Mitte des 20. Jahrhunderts rund um den Ausbau der Wasserkraft geführt wurden, als zahlreiche Bergdörfer verschiedenen Stauseeprojekten geopfert wurden. Bilder von verwaisten, teils rückgebauten Dörfern, die kurz darauf in den Wassermassen der Stauseen untergingen, zeigen die Kehrseite des Fortschritts auf (Abb. S. 98–107).

In den 1950er-Jahren erreichte die Wasserenergiewirtschaft ihren Höhepunkt. Die symbolische Aufladung der Wasserkraft zum nationalen Mythos, die Steven Schneider in verschiedenen Quellen aufspürt, übernimmt er relativ unkritisch und verklärt sie auf romantische Weise: « Die Elektrifizierung durch die Wasserkraft ist die erfolgreiche Verschmelzung schweizerischer Werte wie Ausdauer, Präzision und Verantwortungsgefühl mit einer urmächtigen Landschaft von Bergen, Gletscherwasser und Wildbächen. » (S. 126)

In den anschliessenden Kapiteln werden die veränderten Bedürfnisse der Konsumgesellschaft und die Neuerungen der Elektrizitätswirtschaft ab den 1950er-Jahren thematisiert. Mit dem Bau von Atomkraftwerken in den 1960er-Jahren begann ein neues Kapitel der Energiewirtschaft. Schneider schildert die anfängliche Begeisterung über den Atomstrom, die zu Beginn vielen Seiten als erfolgsversprechend gegolten habe (S. 143). In den Protesten gegen die neue Atomkraft, die sich 1975 in Kaiseraugst zuspitzten, zeigte sich erstmals ein Umdenken im Fortschrittsglauben um die Elektrifizierung. Auf die weltweiten Diskussionen um das Wachstum der Menschheit und die Energieknappheit, die im Bericht des Club of Rome kulminierten,3 wird an dieser Stelle nicht eingegangen, obwohl dieser Bericht auch in der Schweiz durchaus auf grosse Resonanz stiess. In knappen Zügen werden in den letzten Kapiteln das Umdenken im Energieverbrauch sowie die Veränderung des Strommarktes seit den 1990er-Jahren beleuchtet. Die Bilder, die hier den Text illustrieren, kommen nicht mehr an die Anschaulichkeit der vorangehenden Kapitel heran und scheinen bisweilen zufällig platziert.

Der Bild- und Essayband Elektrisiert. Geschichte einer Schweiz unter Strom versammelt eine Vielzahl von Photographien mit hoher ästhetischer Qualität, die allesamt das Thema Strom sichtbar machen. Während Schneiders Elektrifizierungsgeschichte in Gestalt einer Erfolgsgeschichte insgesamt einen eher populären denn kritisch-wissenschaftlichen Ansatz verfolgt, sprechen die Bilder für sich und führen historische Formen der Inszenierung von Strom vor. Es ist gerade diese Zurschaustellung des Stroms, die bei vielen Bildern augenfällig ist. Hier schlummert einiges, worüber man mehr schreiben müsste, zeigen die Bilder doch ein handfestes Interesse verschiedener Akteure auf, die ihre Kraftwerke im besten Licht darstellten, die Bezwingung der Alpen durch riesige Strommasten beweisen wollten oder die Implementierung des Stroms im Haushalt dokumentierten. Diese Bildvielfalt ist attraktiv und zeigt anschaulich, wie einschneidend der Strom die Schweiz verändert hat – in der Auswahl der Photographien liegt die Leistung des Buchs.

Anmerkungen:
1 Alf Lüdtke, Industriebilder – Bilder der Industriearbeit? Industrie- und Arbeiterphotographie von der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 394–430.
2 David Gugerli, Redeströme. Zur Elektrifizierung der Schweiz 1880–1914. Zürich 1996.
3 Dennis Meadows, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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