Seit gut 10 Jahren existiert nun die 'neuere Gestapoforschung', wie sie maßgebend von den Herausgebern des vorliegenden Bandes, Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul, entworfen, vorangebracht und gefördert wurde: als Alternative zur früher üblichen perspektivisch beschränkten Organisations- und Institutionengeschichte, als empirisch fundierte "Sozialgeschichte des NS-Terrors", die entscheidende Erkenntnisse für das Gesamtverständnis des Regimes liefert.
Wesentliche Ergebnisse dieses Ansatzes stellte bereits der 1995 publizierte Sammelband "Die Gestapo - Mythos und Realität" vor. Er hielt dem bis dahin auch in der Fachöffentlichkeit populären Mythos einer "allmächtigen" Geheimpolizei, die durch ein dichtes Netz von Mitarbeitern und Spitzeln eine lückenlose Kontrolle der deutschen Gesellschaft organisiert habe, das aus den Akten belegte Bild einer personell eher schwach besetzen, oftmals "reaktiven" Behörde entgegen, die in ihrer alltäglichen Arbeit entscheidend von der Denunziationsbereitschaft der Bevölkerung und der bereitwilligen Kooperation anderer staatlicher Behörden profitierte. Die bis dahin übliche Projektion des NS-Terrors auf das Schreckbild 'Gestapo' wich der Erkenntnis, daß ein Großteil der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen wie auch die 'Verfolger' selbst aus der "Mitte der Gesellschaft" kamen. 1
Nachdem an der scharfen Akzentuierung des Ansatzes gelegentlich Kritik geübt wurde, 2 nutzen die Herausgeber den neuen Band nun zur Differenzierung und Präzisierung ihrer Position (vgl. S. 2, 612f., 625ff., 631). In erster Linie nehmen sie jedoch eine konsequente Erweiterung der bisherigen Perspektive vor: Hatte man sich 1995 überwiegend mit der Praxis der lokalen Gestapobehörden im sogenannten "Altreich" und der Zeit bis 1940 beschäftigt, so liegt das Gewicht nun auf der sicherheitspolizeilichen Tätigkeit in den Kriegsjahren und den vom NS-Regime besetzten Gebieten. Insgesamt 27 kenntnisreiche Beiträge versammelt "Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg" dazu, Beiträge überwiegend jüngerer Forscher/innen, die meist auf größeren Monographien, häufig Dissertationen, beruhen und sich ihrem Thema in der Regel über einen lokal- oder regionalspezifischen Ausschnitt nähern. Daneben finden sich synoptische Darstellungen und Analysen der Herausgeber, die das inhaltliche 'Rückgrat' des Sammelbandes deutlich markieren.
Im ersten thematischen Block des Bandes - "Organisation und Personal" - wird die Gestapo aus Sicht der Zentralbehörden, insbesondere des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), charakterisiert. Die Autoren beschränken sich dabei nicht auf eine dürre Rekonstruktion organisatorischer und personalrechtlicher Entwicklungen, sondern bemühen sich um eine differenzierte und prozeßorientierte Analyse der 'NS-Sicherheitsarchitektur' und eine fundierte Darstellung des vom Regime geschaffenen, Sicherheitspolizei und SD verbindenden "Staatsschutzkorps".
So nehmen Michael Wildt und Jens Banach das Personal des RSHA genauer in den Blick und führen die seit Ulrich Herberts Best-Studie unternommenen biographischen Erkundigungen zur sicherheitspolizeilichen Führungsschicht des 'Dritten Reiches' auf breiter Datenbasis fort. Bei aller Zurückhaltung gegenüber unzulässigen Verallgemeinerungen (S. 5) bestätigen die Autoren doch das bereits bekannte Bild einer überwiegend jungen, aufstiegsorientierten und akademisch gebildeten Elite, die weltanschaulichen Radikalismus mit einer betont 'sachlichen' und zielgerichteten Handlungsorientierung verband (S. 24, 87ff.).
Die Organisation des RSHA selbst entsprach keineswegs den Idealvorstellungen des SD und der SS-Führung (S. 15, 43f.), sondern stellte - wie Gerhard Paul zeigt - zunächst nur einen "schwache[n] Kompromiß" (S. 43) dar, der Sicherheitspolizei und SD nebeneinander bestehen ließ und auch von der Organisationskultur her Elemente des SS-Systems und der Ministerialbürokratie kombinierte. Zudem konterkarierten Mängel in Arbeitsorganisation und Personalausstattung, Spannungen zwischen bürokratischem und personenorientierten Führungsstil, zentralistischer Regelungswut und lokaler Initiative (S. 62ff.) den 'Allmachtsanspruch' des Gestapo-Apparates.
Diese 'Doppelstruktur' blieb jedoch nicht verbindlich, noch 'schwächte' sie den Apparat entscheidend, sie wurde dynamisch weiterentwickelt und aufgehoben in der gemeinsamen politisch-ideologischen Zielbestimmung von Polizei und Partei. So formierte sich der Sipo/SD-Komplex vor allem im konkreten 'Einsatz' des Personals außerhalb des Reiches. Wie Michael Wildt anhand der Einsatzgruppen in Polen zeigt, wurden in den gemeinsamen Verhaftungs-, Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen während des Zweiten Weltkrieges nicht nur die Unterschiede zwischen Kripo, Gestapo und SD verwischt, sie schufen darüber hinaus ein spezifisches Selbstverständnis innerhalb des gesamten Führerkorps, das von einer fortschreitenden weltanschaulichen Radikalisierung getragen wurde. Die einmal gemachten Erfahrungen einer rassistischen Vernichtungspolitik wurden nach und nach in die Organisation eingeschrieben, da das Personal der Einsatzgruppen auch die Dienststellen in den besetzten Gebieten aufbaute, an zentralen Punkten im "Altreich" eingesetzt wurde oder vom RSHA aus neue Radikalisierungsimpulse setzte. Das RSHA erscheint aus dieser Perspektive nicht nur als politische Führungsinstanz des Regimes und bürokratische Steuerungszentrale, sondern - wie Gerhard Paul anhand des Amtes IV (Gestapo) zeigt - als flexibel operierende "Task force" (Michael Wildt, S. 56) für die jeweils aktuellen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge des Regimes.
Schließlich erwies sich auch der bürokratische 'Unterbau' des RSHA nicht nur als 'kontraproduktiv'. Die bürokratischen Traditionen und Normierungen, Fragmentierung der Arbeitsschritte und -gebiete verschafften vielmehr dem Gestapoterror insbesondere bei den älteren, vornehmlich im 'Altreich' eingesetzten Polizeibeamten Legitimität (S. 618); sie sicherten nicht nur die alltägliche Verfolgungspraxis, sondern auch Aktionen wie die Deportation der Juden oder die 'Aussonderung' der sowjetischen Kriegsgefangenen ab. Der organisatorische 'Kompromiß' erzeugte somit eine 'funktionale' Kombination verschiedener Organisationskulturen, Handlungsmodi und Ausgrenzungspolitiken.
Den zweiten Teil des Bandes, der die Tätigkeit der Gestapo an der "Heimatfront" zum Thema hat, leitet ein Aufsatz von Johannes Tuchel ein, der die "politischen Abteilungen" der Konzentrationslager in ihrer doppelten Funktion als Akteur im nationalsozialistischen Lagerkosmos und 'Außenposten' der Gestapo ins Blickfeld der Forschung rückt. Daneben finden sich ein Beitrag zur Repression nonkonformer Jugendlicher und zwei Studien zur Verfolgung der Juden, in denen die staatspolizeiliche Arbeit abseits der Deportationen Berücksichtigung findet, das Zusammenspiel von Gestapo und Finanzverwaltung bei der finanziellen Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung und die gleichsam routinierten wie unerbittlichen Ausgrenzungsmaßnahmen der lokalen "Judenreferate" zur Sprache kommen. Ein Schlaglicht auf die politische Verfolgung wirft ein Aufsatz von Klaus-Michael Mallmann, der darstellt, welche Bedeutung die Spitzeltätigkeit 'altgedienter' Funktionäre für die Zerschlagung der kommunistischen Netzwerke in der Kriegsendphase hatte - und sich so auch als Beitrag zur Historisierung des kommunistischen Widerstandes lesen läßt, wie sie bislang vor allem mit Blick auf die Häftlingsgesellschaft in den Lagern betrieben wurde. Mallmann enthält sich jedoch jedes anklägerischen oder gar denunziatorischen Tons und weist auf die durch staatspolizeilichen Zwang systematisch verengten Handlungsspielräume der Betroffenen hin.
Mit vier Beiträgen (von Andreas Heusler, Gabriele Lotfi, Reinhard Otto, Gerd Wysocki) bekommt die Verfolgung von ausländischen Arbeitern und sowjetischen Kriegsgefangenen die gebotene stärkere Gewichtung innerhalb der Gestapoforschung - zeigen doch alle Studien eindrücklich, welche Bedeutung diese Gruppen innerhalb der Überwachungs- und Erfassungstätigkeit der lokalen Dienststellen, den staatspolizeilichen Sicherheitsszenarien und Feindprojektionen während des Krieges zugesprochen bekamen. Dem entsprach eine beständige Ausweitung der Sanktionsmaßnahmen bis hin zu massenhaften Mordaktionen, in denen der "im Osten" durchgeführte "Rassen-" und Vernichtungskrieg einen deutlichen Widerhall fand. Indes wäre es falsch, die Brutalisierung an der "Heimatfront" allein auf die Eskalationsstrategie des RSHA zurückzuführen, sie läßt sich vielmehr nicht ohne die Initiative der lokalen Stapostellen begreifen, die den zunehmenden Kontrollverlust während des Krieges mit immer wahlloseren Terrormaßnahmen zu 'kompensieren' versuchten (Heusler).
Der dritte und umfangreichste Block des Sammelbandes widmet sich der "Gestapo im besetzten Europa", wobei die Forschung an der 'Polizei' hier naturgemäß zahlreiche Berührungspunkte findet zu anderen historiographischen Feldern: etwa der Wehrmachtsgeschichtsschreibung, den neueren Arbeiten zur nationalsozialistischen Judenvernichtung oder den Bemühungen um eine vergleichende Erforschung der nationalsozialistischen Besatzungsregimes. Zwar ging - wie die insgesamt sieben Länderstudien zeigen - von den Sipo-Funktionären und -Dienststellen stets ein hoher Eskalationsdruck gegenüber den 'Feindgruppen' des Regimes aus, inwieweit dem nachgegeben wurde, hing jedoch von den unterschiedlichen institutionellen Strukturen ab, in denen sich die Sicherheitspolizei im besetzen Europa bewegte. Der Blick auf die personell oft schlecht ausgestatteten Sipo-Verbände führt notwendigerweise zur Analyse eines viel umfassenderen "NS-Sicherheitskomplexes" (S. 8), dem auch die Wehrmacht, die Behörden der Zivilverwaltung, SS-Apparat oder Ordnungspolizei zuzurechnen sind. Auch bei den Massenerschiessungen in Südosteuropa und auf dem Gebiet der Sowjetunion, in den Einsatzgruppen und "Partisanenkampfverbänden", stellten die "Weltanschauungskrieger" des RSHA keineswegs die Mehrheit im Täterkollektiv, sondern die ideologische, strategische und "nachrichtendienstliche" Führung (S. 301ff., 504, 509ff.).
Ohne Ausnahme zeigen die Beiträge des dritten Abschnitts überdies die vielfältigen Facetten der Kollaboration: von Denunziationen, Zuträger- und Hilfsdiensten bei der Verfolgung des kommunistischen Widerstands und den Judendeportationen bis zur Tätigkeit der Hilfswilligenverbände, die insbesondere bei den Massenerschießungen "im Osten" eine tragende Rolle übernahmen. Eine der zentralen Thesen der neueren Gestapoforschung, wonach die Polizei vor allem gegenüber 'akzeptierten' Feindgruppen auf Unterstützung aus der Gesellschaft heraus rechnen konnte, gilt mithin nicht nur für die Situation im "Altreich", sondern erschließt auch die Konstellation in den besetzen Ländern.
Über den regionalen Rahmen hinaus greift ein Beitrag von Klaus-Michael Mallmann. Er faßt die verstreuten Forschungen zur Geschichte der Einsatzgruppen zusammen und folgt der Entwicklung dieses Instruments nationalsozialistischer Herrschaft von den organisatorischen 'Testläufen' bei der Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei, über den Beginn der Mordpolitik in Polen und den Massenmord in der Sowjetunion bis zur Ausweitung auf das besetze Europa und die "Universalisierung der Einsatzgruppenpraxis in der Kriegsendphase" (S. 314). In welchem Maße hierbei auch das "Altreich" erfaßt wurde, veranschaulicht eine Studie von Gerhard Paul aus der 4. 'Sektion' ("Das Ende der Gestapo"). Er führt die lokalhistorischen Befunde zu den sogenannten "Kriegsendphaseverbrechen" zusammen und entwickelt daraus das Bild einer spezifischen, von der Auflösung polizeilicher Strukturen und der normativen Entgrenzung der "Katastrophengenesellschaft" geprägten Phase des NS-Terrors. Dabei verdeutlicht er, wie die enorme Brutalisierung der Gestapopraxis an der "Heimatfront" begünstigt wurde durch das Zurückfluten des Polizeipersonals aus den 'auswärtigen Dienststellen', das die organisatorischen und "methodischen" Erfahrungen der Einsatzgruppen ins Zentrum des Reiches zurückbrachte. 3
Der nicht auf die Sammlung biographischer Daten sich beschränkende, sondern unmittelbar handlungsorientierte Zugriff auf die Akteure des NS-Terrors, der zu den besonderen Verdiensten des Bandes gehört, findet sich auch in einigen Beiträgen des dritten Abschnitts. So läßt Klaus-Michael Mallmann hinter den Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen und verstreuten Einsatzorten der Sicherheitspolizei das Bild einer Gruppe von hochmobilen "Annexionsexperte[n]" hervortreten, die in "fliegende[m] Wechsel[] zwischen Schreibtisch und Erschießungsgrube", Berliner Zentrale und Peripherie den nationalsozialistischen Herrschaftsanspruch vertraten (S. 310). Dieser Gruppe stellt Claudia Steur in ihrem Beitrag zu den "Judenberatern" des von Eichmann geleiteten "Judenreferats" des RSHA den Typus des "Deportationsspezialisten" zur Seite, die mit hoher Affinität zum Wertesystem der SS und 'professionellem Ehrgeiz' die Isolierung, Internierung und Deportation der europäischen Juden organisierte (S. 431ff.).
In zwei weiteren Beiträgen zur Rolle der Einsatzgruppen im Prozeß der Judenvernichtung und zur Beteiligung der Sicherheitspolizei am "Bandenkampf" in der besetzen Sowjetunion vertieft Mallmann seine Überlegungen zu Haltung und Verhalten der Täter im Ostkrieg. Er betont neben den weltanschaulichen Prinzipien "Bewährungsdruck", Karrierismus und Profilierungssucht der beteiligten Einsatzgruppenführer (S. 457ff.), die zu einem regelrechten "Säuberungswettbewerb"(S. 448ff.) unter den verschiedenen Mordkommandos geführt habe. Zum anderen unterstreicht er - wie bereits an anderer Stelle zuvor 4 - die Dynamik der im Täterkollektiv eingeprägten Feindbilder des "Kommunisten", "Juden" oder "Partisanen", die aufgrund ihrer Diffusität nicht nur willkürlich eingesetzt wurden, sondern sich auch gegenseitig verstärkten und beständig neue Bedrohungsszenarien generierten, mit der man die Ausweitung der Mordaktionen 'rechtfertigten' konnte. (S. 443ff., 458f., 505ff.). Daraus entwickelt er - im Anschluß an aktuelle Debatten zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik - die Auffassung von den Einsatzgruppen als "Türöffner[n] der Endlösung" (S. 437, 448ff.), die eines dezidierten "Endlösungsbefehls" nicht bedurft hätten, sondern durch fortschreitende Eskalation des Vernichtungskrieges gegen den "jüdischen Bolschewismus" die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung eingeleitet hätten.
Ein Aufsatz der Herausgeber beschließt das Buch. Er resümiert und verzahnt die Ergebnisse der beiden Sammelbände von 1995 und 2000 und bietet einen souveränen und differenzierten Überblick über den derzeitigen Stand der Forschung, die Komplexität des Phänomens 'Gestapo' und seine Bedeutung für eine Gesellschaftsgeschichte des 'Dritten Reiches'.
Der besondere Ertrag der jüngst vorgelegten Forschungen wird dabei gut erkennbar. So ist die Gestapo noch mehr als bisher als dynamische Institution zu begreifen, deren Charakteristikum in der fortschreitenden organisatorischen und personellen, rechtlichen, räumlichen und sachlichen Entgrenzung liegt (S. 610f., 623ff., auch 67ff.). Bei der Analyse der Gestapotätigkeit im Krieg sind zudem stärker die Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen "Zentrum" und "Peripherie", "Zentrale" und "Basis" zu berücksichtigen. Die eindimensionale - verkürzt gesagt: 'intentionalistische' - Ableitung des Gestapoterrors und der Vernichtungspolitik aus den Beschlüssen der NS-Führung hat sich als überholt erwiesen, die neueren Forschungen verdeutlichen dagegen die enormen Handlungsspielräume 'vor Ort' und die eskalierenden Wirkungen von der Peripherie auf das Zentrum (S. 2, 640ff.). Der Blick auf die "Selbstradikalisierung" (Michael Wildt) der Einsatzgruppen zeigt überdies, daß eine allein an Entscheidungsprozessen und Verwaltungsabläufen orientierte Erforschung des Genozids zu kurz greift und durch eine Betrachtung der 'Direkttäter' erweitert werden muß: "denn nicht Strukturen mordeten, sondern Menschen" (S. 644, auch 456).
Bleibt zum Schluß noch die Aussicht auf den zukünftigen wissenschaftlichen und - wenn man so will: 'vergangenheitspolitischen' - Ort der Gestapoforschung. Denn die Veränderung des Forschungskontextes seit Anfang der 90er Jahre läßt sich nicht übersehen. Einmal ist angesichts der - vom vorliegenden Band eindrücklich vor Augen geführten - Qualität und Differenziertheit der 'neueren Gestapoforschung' in nächster Zeit kaum mit fundamentalen Neuentdeckungen oder einem einschneidenden Perspektivwechsel zu rechnen. Zum anderen hat sich der aufklärerische Impetus etwas abgeschwächt, nachdem nicht nur in wissenschaftlichen Zirkeln, sondern auch in den öffentlichen Geschichtsdebatten der letzten Jahre der "gesellschaftliche Rückhalt" (S. 599) des NS-Staates und die 'Normalität' der Täter starke Beachtung gefunden haben. 5
Es verwundert somit nicht, wenn die Herausgeber nun die Zeit für vergleichende und zusammenfassende Darstellungen gekommen sehen (S. 7), und eine Intensivierung und Fortsetzung der Täterforschung in die Nachkriegszeit fordern. 6 Darüber hinaus loten sie die Möglichkeiten aus, die Historiographie der Gestapo an eine vergleichende Diktatur- und Totalitarismusforschung anzukoppeln. Das Resümee des Bandes beschließen Mallmann/Paul mit einem Vergleich von Gestapo und Staatssicherheit der DDR, wobei ihnen Hannah Arendts Theorie der Geheimpolizei als Folie dient (S. 606f., 645ff.). Zwar 'gelingt' dieser Vergleich zunächst, wenn es um die Stellung im politischen System und den totalitären Kontrollanspruch beider Polizeien geht, letztlich aber verdeutlicht er - wie bereits Andreas Sander in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft bemerkt hat 7 - die zahlreichen (und kategorialen) Unterschiede im Zuschnitt des Apparates, bei der Zusammensetzung des Personals, den weltanschaulichen Zielbestimmungen und dem real praktizierten Terror.
So enthalten sich die Herausgeber in ihrem Fazit auch einer einfachen 'antitotalitaristischen Moral', die die beiden deutschen Diktaturen zusammenschließt und in sicherer historischer Distanz verwahrt; der "nähere" Blick auf die Polizeien "in der Diktatur" verdeutliche vielmehr die "Tendenz zur Selbstpolizierung" in der deutschen Gesellschaft ("- doch vermutlich längst nicht nur [in] ihr allein -") und das "dünne zivilisatorische Eis, auf dem die Gesellschaften und vor allem die Institutionen der inneren Sicherheit stehen" (649f.).
Anmerkungen:
1 Einführend Gerhard Paul, Klaus-Michael Mallmann: Auf dem Wege zu einer Sozialgeschichte des Terrors. Eine Zwischenbilanz, in: dies (Hrsg.), Die Gestapo - Mythos und Realität, Darmstadt 1995, S. 3-18. Die Grundlegung der 'neueren Gestapoforschung' findet sich bereits bei Klaus-Michael Mallmann, Gerhard Paul: Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich, Bonn 1991 (Widerstand und Verweigerung im Saarland 1935-1945, Bd. 2).
2 Zur Kritik im einzelnen vgl. die von den Herausgebern in der Einleitung des neuen Bandes (S. 2) genannten Titel von Eric A. Johnson, Norbert Frei und Werner Röhr sowie Bernward Dörner: "Heimtücke": Das Gesetz als Waffe. Kontrolle, Abschreckung und Verfolgung in Deutschland 1933-45, Paderborn u.a. 1998, S. 313ff.; Detlef Schmiechen-Ackermann: Der "Blockwart". Die unteren Parteifunktionäre im nationalsozialistischen Terror- und Überwachungsapparat, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), S. 575-602, hier S. 579f.
3 Vgl. die ähnlichen Überlegungen von Hans-Dieter Schmid: Die Geheime Staatspolizei in der Endphase des Krieges, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (2000), S. 528-539.
4 Vgl. Klaus-Michael Mallmann: Vom Fußvolk der "Endlösung". Ordnungspolizei, Ostkrieg und Judenmord, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 26 (1997), S. 355-392; ders.: Der Einstieg in den Genozid. Das Lübecker Polizeibataillon 307 und das Massaker in Brest-Litowsk Anfang Juli 1941, in: Archiv für Polizeigeschichte 10 (1999), S. 82-88.
5 Vgl. hierzu die Anmerkungen bei Kurt Pätzold: Hinter den Fronten: die Gestapo. Ein Sammelband über die politische Polizei des deutschen Faschismus, in: junge welt vom 06.01.2001.
6 Nach Pätzold (Anm. 5).
7 Andreas Sander, Rezension "Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 380-382.