C. Leggewie u.a. (Hrsg.): André Gorz und die zweite Linke

Cover
Titel
André Gorz und die zweite Linke. Die Aktualität eines fast vergessenen Denkers. Mit Übersetzungen aus dem Französischen von Eva Moldenhauer


Herausgeber
Leggewie, Claus; Stenke, Wolfgang
Reihe
Wagenbachs Taschenbuch 785
Erschienen
Anzahl Seiten
172 S.
Preis
€ 13,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Luks, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Dieser schöne kleine Band lädt dazu ein, über Probleme nachzudenken, die in der Zeitgeschichte seit einigen Jahren intensiv diskutiert werden. André Gorz’ philosophisch-soziologische Analysen seit den späten 1950er-Jahren oder seine Reportagen im „Nouvel Observateur“, den er 1964 mitbegründete – der vorliegende Band versammelt vor allem eher journalistische Texte der Jahre 1976 bis 2005, oft in deutscher Erstübersetzung –, lassen sich als laufender Kommentar zum Strukturwandel westlicher Gesellschaften lesen. Dabei begegnen der Leserin oder dem Leser die Herausforderungen dieser Transformation für die „Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus“ ebenso wie der „Abschied vom Proletariat“ (so die Titel zweier Gorz-Bücher aus den Jahren 1964 bzw. 1980). Es begegnen uns außerdem die (neuen) Zwänge der Konsumgesellschaft, die Wachstumskritik und der Versuch der Begründung einer Politischen Ökologie, später dann Probleme der Wissensgesellschaft und der immateriellen Arbeit. Gorz’ Überlegungen zum „Wissenskommunismus“ als Gegenmodell eines drohenden „Techno-Totalitarismus“ oder seine Utopie einer „Ökonomie der unentgeltlichen Leistungen und der gemeinschaftlichen Teilhabe“ (S. 38) haben, so schreibt Otto Kallscheuer, „für mindestens zwei Jahrzehnte die Diskussionen einer intellektuellen unabhängigen Linken in (West-)Deutschland, Frankreich und auch Italien geprägt. […] Das Netz seiner intellektuellen Einflüsse und persönlichen Freundschaften war zwar nicht dicht, aber es reichte weit: Manch große und kleine Denker und Politiker der europäischen Linken haben mit ihm korrespondiert oder besuchten ihn und seine Frau Dorine. Heute entdecken Zeitgenossen, die den Namen ‚Gorz‘ nie gehört hatten, seine Entwürfe und Einwürfe als Herausforderung.“ (S. 47)

So verwundert es nicht, dass die kommentierenden Essays, die die hier versammelten Texte von André Gorz (1923–2007) jeweils begleiten, der „Aktualität eines fast vergessenen Denkers“ (Untertitel) besondere Aufmerksamkeit widmen. Die Herausgeber schreiben im Vorwort: „Nachhaltiges Leben, Sanfte Medizin, Energiewende, Grundeinkommen, Wissensgesellschaft – es ist geradezu unheimlich, wie viel Gorz seit den 1970er Jahren vorhergesehen hatte. Und wie sehr sein Denken andererseits in eine sozialistische (und lebensphilosophische) Tradition eingebunden war, die heute völlig abhandengekommen zu sein scheint.“ (S. 8) Bevorzugtes Stilmittel dieses Aktualisierungsgestus ist das Zitat mit anschließender Enthüllung des Entstehungszeitpunkts, etwa in Karena Kalmbachs Essay zu Gorz’ Analyse der französischen Atomwirtschaft: „Auch wenn man es vermuten könnte: Das Einleitungszitat entstammt nicht einem Thesenpapier des Weltsozialforums. Ebenso ist es kein zeitgenössisches Zitat aus einem attac-Positionspapier […]. Und auch wenn dieser Satz so wirkt, als sei er frisch der aktuellen Debatte über De-Growth und Entschleunigung entsprungen, die nicht nur Bio-Supermärkten, sondern auch Yoga-Studios derzeit zu bisher nicht dagewesenen Umsatzzahlen verhilft: Er stammt aus einer anderen Zeit, um genau zu sein: aus dem Jahr 1976.“ (S. 150)1 Aus zeithistorischer Perspektive, also im Bemühen, die Frage der Aktualität um diejenige der Historizität zu ergänzen, ist die Überraschung freilich gar nicht so groß. Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker dürften sich weniger darüber wundern, was Gorz alles „vorhergesehen“ hat, sondern eher bestätigt finden, dass mit dem Strukturbruch der 1970er-Jahre unsere Gegenwart „Nach dem Boom“ beginnt. Gorz wirkt auf uns – heute – in vielen Punkten so aktuell, weil wir gelernt haben, unsere Gegenwart mit Begriffen zu erfassen, die in zahlreichen zeitgenössischen Diagnosen dieses Wandels geprägt wurden und werden. Ein noch zu schreibender Band zur „Historizität eines fast vergessenen Denkers“ könnte helfen, angesichts der „unheimlichen“ Nähe dieser Diagnosen etwas Distanz zu gewinnen.2

Die im vorliegenden Band versammelten Texte lassen sich als Testfall der Debatte um den Analyse- und Quellenwert sozialwissenschaftlicher Diagnosen für die Zeitgeschichte lesen; exemplarisch durchzuspielen beispielsweise an Gorz’ Text „Was uns fehlt, um glücklich zu sein“ vom September 1978. Darin diagnostizierte er eine fundamentale Krise nicht nur des Kapitalismus, sondern auch der Versuche, ihn zu überwinden – eine Krise des Fortschrittsglaubens und der Zukunftshoffnung als solcher. Der jahrzehntelange Konsens über die wichtigsten Werte der Gesellschaft (Produktivität, Wachstum, Arbeit, Urbanisierung) sei aufgekündigt, und kollektive Interessen taugten nicht mehr zur politischen Mobilisierung. Mehr noch: Die Krise „erschüttert die Vorstellung, die sich jeder von sich selbst und seiner Stellung in der Gesellschaft, der Welt, der Geschichte machte. Sie setzt sich in einer kulturellen Krise der individuellen Identität fort, denn alles, was diese Identität stützte, ist im Begriff sich aufzulösen: die Nationen, die sozialen Klassen, die Familie; die Beziehungen zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern; die Natur“ (S. 62). Das Bestreben nach individueller Souveränität sei an die Stelle der alten politischen und sozialen Auseinandersetzungen getreten. Der Radikalismus junger Menschen, so Gorz, „besteht genau darin, nicht mehr von den Problemen der Regierung und der Gesellschaft auszugehen, sondern von den Problemen der Existenz, hier und jetzt, die keine Regierung und keine Gesellschaft an unserer statt wird lösen können“ (S. 65). Vorangetrieben und ermöglicht werde das durch enorme Produktivitätssprünge und die damit greifbare Reduzierung der Arbeitszeit bei dennoch leichterer Befriedigung der Bedürfnisse, ohne Verschwendung und Zerstörung. „Das einzig vernünftige Ziel für die 1990er Jahre ist die Zwanzig-Stunden-Woche für alle sowie das garantierte soziale Einkommen für alle auf Lebenszeit als Gegenleistung für zwanzigtausend Arbeitsstunden, die in beliebiger zeitlicher Aufteilung zu verrichten sind; – die Herausforderung, die zu meistern der Kapitalismus unfähig ist, besteht nicht im Maximum an Arbeitsplätzen und im Maximum an Konsum und Produkten, sondern im Maximum an Zufriedenheit bei einem Minimum an Arbeit, Produkten und Zwängen“ (S. 65f.).

Ganz ähnliche Verknüpfungen finden sich in Gorz’ längerem Essay „Wer nicht arbeitet, soll trotzdem essen“ (1986), in dem er die Entkopplung von Einkommen und Arbeitszeit (nicht von Einkommen und Arbeit) angesichts einer voranschreitenden Automatisierung forderte; oder auch in seinem „Plädoyer für die sanfte Medizin“ (1980), einer Kritik der „Apparatemedizin“, die daran hindere, „wieder von uns selbst Besitz zu ergreifen, uns von der herrschenden Lebensweise zu lösen, um den Mittelpunkt unsere Körpers, den Sinn unseres Lebens und die Wurzeln wiederzufinden, die in die Vorgeschichte unserer Gattung zurückreichen und von denen wir eine verworrene Erinnerung in Form unterdrückter Bedürfnisse, verschütteter Instinkte und unaussprechlicher Sehnsüchte bewahren“ (S. 133f.). Kämen Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker, die sich mit historischen Subjektivierungsweisen, Selbst- und Körpertechniken, der Geschichte von Sorgearbeit usw. beschäftigen, auf die Idee, ihre Quellen selbst zu schreiben – oder dürften sie sich Quellen wünschen, mit denen sich ihre Thesen bestätigen ließen –, dann ähnelten diese wohl einigen Texten von Gorz. Allerdings ist es gerade die Suggestivkraft solcher Quellen, die die Beharrungskräfte und die Eigenlogik sozialer Strukturen und Formationen mitunter eher verdeckt als ausleuchtet. Ein sinnvoller Umgang mit dieser Ambivalenz im Quellenwert kann daher nur darin bestehen, Schriften wie diejenigen von Gorz als Gesellschaftsbeobachtungen zu historisieren, deren ‚dokumentarischer‘ Gehalt fraglich ist. Nähert man sich ihnen mit sozial- und diskursgeschichtlichen Zugängen, dürfte der Erkenntnisgewinn beachtlich sein.

In politischer Hinsicht erweisen sich viele von Gorz’ Überlegungen ebenfalls als ambivalent. Claus Leggewie etwa diskutiert die Frage, wie sich „ein stolzes Milieu“ – das Proletariat – „von rechts kapern ließ“ (so der Untertitel seines Beitrags) und findet zahlreiche Anknüpfungspunkte bei Gorz, vor allem, um einem Gegeneinanderausspielen von Klassen- und Identitätspolitik zu widersprechen. Die „Perspektive der Befreiung“, die Gorz in einem im vorliegenden Band abgedruckten Artikel aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom März 1993 anbot, wirkt mit ihrem Fokus darauf, Menschen „durch ihre Selbstbetätigung und Selbstorganisierung zu Subjekten ihres Handelns“ zu machen (S. 157), wie eine Blaupause (nicht nur) linker Politik seitdem. Gorz postulierte „das Recht jedes Menschen auf die Entfaltung seiner sinnlich-praktischen Fähigkeiten, auf Gefühl, Sinnlichkeit, Besinnung, auf Freude an Selbstbetätigung, an der Verwirklichung gemeinsamer Projekte, an der Selbstorganisierung gesellschaftlicher Zusammenarbeit“ (S. 158). Er formulierte dies explizit mit Bezug auf das Ende des real existierenden Sozialismus und beklagte, dass etwa nach dem Ende der DDR auf den Abbau von Arbeitsplätzen nicht mit der „Förderung von Netzwerken gegenseitiger Hilfe, Kooperativen, Formen selbstorganisierter Eigenarbeit“ reagiert worden sei, „um damit dem ressentimentgeladenen Gefühl der Ohnmacht und Vernachlässigung entgegenzuwirken“ (ebd.).

Man mag über Gorz’ Anrufung der Autonomie des Subjekts als Fluchtpunkt emanzipatorischer Politik geteilter Meinung sein, wird den Hinweisen auf alternative Wirtschaftspraktiken etwa angesichts der neuen Automatisierungsdiskussion aber eine gewisse Aktualität zugestehen müssen. Dass Gorz indes die „Oppositionellen im Osten“ als Vorbilder „einer zukünftigen europäischen Linken“ ins Spiel brachte, da diese gezeigt hätten, wie es gelingen könne, „von sich selbst ausgehend das ‚Leben in Wahrheit‘, wie es Václav Havel nennt, zu üben, um sich seiner selbst als Subjekt zu vergewissern“ (S. 159f.) – das ist dann doch eher Ausdruck einer zu historisierenden Ostmitteleuropa-Euphorie, die sich etwa auch bei Timothy Garton Ash oder Tony Judt fand. Der Werdegang einiger ehemaliger Dissidenten wie auch die Entwicklung der politischen Kultur in verschiedenen Ländern Ostmitteleuropas dürften inzwischen gezeigt haben, dass den Versuchen‚ „sich seiner selbst als Subjekt zu vergewissern“, kein Automatismus in Richtung einer liberalen Zivilgesellschaft innewohnt. Unter bestimmten Umständen können derartige Versuche einseitige ‚antitotalitäre‘ Beißreflexe begünstigen, die eine solche Zivilgesellschaft zerschlagen und mit einem autoritär grundierten Neonationalismus kompatibel sind.

Anmerkungen:
1 Natürlich wird Gorz’ Aktualität in dem Band auch relativiert. So weist Stephan Lessenich darauf hin, dass sich in Gorz’ Idee des Grundeinkommens die „Allüren aus der Welt des wohlstandskapitalistischen Wohlfahrtsbürgertums“ zeigten (S. 128) – blind für die Verlagerung der ‚schmutzigen‘ Produktions- und Reproduktionsarbeit in die außerwestliche Welt und auf ein neues Dienstleistungsproletariat; Sarah Speck ist dagegen zu Recht irritiert von Gorz’ Ausblendung der ungleichen (geschlechtlichen) Verteilung von Reproduktionsarbeit im privat-häuslichen wie auch im Dienstleistungssektor.
2 Als erster Aufschlag einer solchen Diskussion bereits: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 57-89. Gorz wird von Doering-Manteuffel und Raphael in dieser Skizze freilich nicht erwähnt.