Während das Gros der Erzählungen über das Ende der Apartheid 1990 mit der Freilassung Nelson Mandelas beginnt, so Christopher J. Lee in seiner Einleitung zu Alex La Gumas „A Soviet Journey“, sei die drei Jahre später erfolgte Ermordung Chris Hanis, des Generalsekretärs der Südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP), das passendere Bild für die politischen Weichenstellungen im Post-Apartheid Südafrika. Hanis Ermordung durch weiße Extremisten habe die Grenzen des südafrikanischen Transitionsprozesses aufgezeigt: eine sozialistische Umgestaltung der südafrikanischen Wirtschaft wie die 1955 in der „Freedom Charta” noch geforderte Verstaatlichung von Schlüsselindustrien wurde aufgegeben und ein radikaler Internationalismus, der den Kampf gegen die Apartheid entscheidend mitgeprägt hatte, marginalisiert (S. 1f.). Die Bedeutung der zu diesem Zeitpunkt bereits aufgelösten Sowjetunion für diesen Internationalismus bildet den breiteren Rahmen von „A Soviet Journey“. Der Reisebericht erschien erstmals 1978 im Moskauer Verlag Progress Publishers, war lange vergriffen und wurde nun – passend zu hundert Jahren russische Oktoberrevolution – von dem US-amerikanischen Historiker Christopher Lee neu herausgegeben.
Die Neuausgabe beginnt mit einem Vorwort von Ngũgĩ wa Thiong’o, der La Gumas politisches Sendungsbewusstsein und den Einfluss englischer Literatur auf dessen schriftstellerisches Werk betont (S. xi–xii), sowie einem zweiten Vorwort von Blanche La Guma, der Witwe des Autoren; neben dem familiären Exil hebt sie den Einfluss von La Gumas berühmtem Vater hervor, einem der frühesten afrikanischen Kommunisten (S. xiii).1 Auf die editorialen Anmerkungen folgt dann die exzellente Einleitung Christopher Lees (S. 1–60), die den im Wesentlichen unverändert belassenen, nur durch erläuternde Endnoten ergänzten Originaltext La Gumas (S. 61–241) mit den Epistemologien des 21. Jahrhunderts in Einklang bringt. Lee verweist auf die zahlreichen Leerstellen selbst in den kritischeren Strömungen der westlichen Wissensproduktion, was die vielfältigen Beziehungen zwischen der „Zweiten“ und „Dritten Welt“ anbelangt, und bemerkt, dass Fragen der Ökonomie immer ein wichtiges, nur eben gering geschätztes Element postkolonialen oder allgemeiner: schwarzen politischen Denkens gewesen sind. In diesem Sinne stelle „A Soviet Journey“ eine willkommene Intervention dar und verweise auf die Relevanz eines südlichen Marxismus (S. 4f., 34).
Alex La Guma war ein südafrikanischer Journalist und Schriftsteller, Mitglied des African National Congress und der SACP sowie für einige Jahre Vorsitzender der Afro-Asian-Writers-Association; 1925 in Kapstadt geboren, starb er nach gut zwanzigjährigem Exil 1985 im kubanischen Havanna. Neben journalistischen Arbeiten besteht sein preisgekröntes Werk aus Erzählungen, in denen er die südafrikanischen Lebensrealitäten unter den Bedingungen der Apartheid durchspielt. Als teils im Agitprop-Stil gehaltener und entsprechend schwer zu lesender Reisebericht – eine Auftragsarbeit für den sowjetischen Schriftstellerverband – nimmt „A Soviet Journey“ in La Gumas Werk eine Sonderrolle ein. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass es Teil einer langen Reihe von Zeugnissen Intellektueller ist, die die Sowjetunion bereisten und ihre Eindrücke darüber zu Papier brachten. Die Zahl an schwarzen, zumeist aus den USA stammenden „Pilgern“ bzw. „Pilgerinnen“ wird allein für die 1930er-Jahre auf mehrere Hundert geschätzt (S. 14). „A Soviet Journey“ ragt in diesem heterogenen Korpus als einer der längsten Reiseberichte eines Afrikaners heraus und zeichnet ein rein affirmatives Bild der Sowjetunion. Ohne den Gulag oder die anfangs verheerenden Folgen der Kollektivierung zu erwähnen, verweigert sich La Guma einer kritischen Diskussion der stalinistischen Periode. Lee veranlasst das zu der Frage, warum dystopische Realitäten im Namen utopischer Träume so oft verheimlicht und hingenommen würden, und beantwortet sie damit, dass La Guma als überzeugter Kommunist und Gast der Sowjetunion nicht für ein Publikum des 21. Jahrhunderts geschrieben habe: ihm sei es um das Problem einer zukünftigen Welt gegangen, wie es sich vor dem Hintergrund des südafrikanischen Befreiungskampfes und der Politiken des Kalten Krieges stellte (S. 39–40). Um diesen Blick aus heutiger Sicht verständlicher zu machen, greift Lee auf Überlegungen des Kulturanthropologen David Scott über den Verlust alternativer Zukunftsentwürfe nach dem Ende des Kalten Krieges zurück (S. 46–47).2
La Gumas sechswöchige Reise führte 1975 vom Londoner Exil zuerst nach Moskau und dann nach Leningrad. Von dort ging es in die zentralasiatischen Sowjetrepubliken Kasachstan und Usbekistan und anschließend über Sibirien, Uljanowsk (Lenins Geburtsstadt), Moskau und Litauen zurück nach London. La Guma rahmt seinen Bericht durch einen Prolog, in dem er die Bedeutung der Sowjetunion für die vom Westen kolonisierte Welt hervorhebt (S. 64–65), sowie durch einen Epilog, in dem er Rassismus und nationale Unterdrückung als zentrale Merkmale des Kapitalismus beschreibt (S. 240). Gleich zu Anfang trifft er in Moskau auf einen alten Journalisten, der 1927 bereits seinen Vater interviewt hatte (S. 75). Die späteren Aufenthalte im islamisch geprägten Zentralasien folgen stets dem gleichen Muster: begleitet von sowjetischen Betreuern/innen führen sie über urbane und ländliche Räume zu wirtschaftlich bedeutenden Großprojekten und enden in den Bars und Restaurants der Hotels, in denen La Guma übernachtet. Dabei gilt seine Aufmerksamkeit immer auch den Bildungseinrichtungen, den lokalen Bräuchen und nicht zuletzt der Emanzipation der Frau. La Guma zeigt Sinn für Humor und eine Faszination für Popkultur: die Musikkapellen der Restaurants haben auch Jazzstandards im Repertoire oder intonieren das Theme von „The Godfather“ (S. 86). La Guma, so Roger Field in seiner Biographie, hat anerkannt, dass Kapitalismus auf globaler Ebene zu verstärkter Ausbeutung und Elend führe, die Welt intellektuell aber zugleich erweitere.3
Gleich mehrere Orientalismen werden fortgeschrieben: die Sowjetunion als der Orient des kapitalistischen Westens und die östliche Sowjetunion als der ihres westlichen Teils. Was für La Guma zählt, ist die Partizipation der asiatischen Bevölkerungsteile am sozialistischen Projekt bei gleichzeitiger Anerkennung und Wertschätzung ihrer kulturellen Eigenheiten. Gab die sowjetische Modernisierung der zentralasiatischen Republiken Langston Hughes in den 1930er-Jahren noch Hoffnung für den „Black Belt“ im Süden der USA (S. 35), ist es bei La Guma das Wunschbild eines revolutionär befreiten Südafrikas, das am Horizont erscheint. Am aufschlussreichsten, um La Gumas Blick auf die Sowjetunion zu verstehen, sind seine Ausführungen über Sibirien, dessen jahrhundertelange Stereotypisierung als „Darkest Africa of the Northern Hemisphere” er kritisch aufgreift. Seine Gegenüberstellung des russisch-zaristischen und sowjetisch-kommunistischen Umgangs mit dieser Region klingt wie ein Lehrstück über einen wohlwollenden Imperialismus, dem die koloniale Gewalt und der Rassismus des Westens fremd sind (S. 186f.).
Als irritierendes Zeugnis aus dem afrikanischen Exil – Lee verwendet auch die Bezeichnung eines „fugitive cosmopolitanism“ (S. 23–40) – zeigt diese Neuausgabe von „A Soviet Journey“, dass aus afrikanischer Perspektive die Sowjetunion der stärkste Garant für ein Ende des westlichen Kolonialismus und seiner Siedlerregime sein konnte. Dem Buch ist auch deshalb eine breite Rezeption zu wünschen, weil im Translationsprozess von La Gumas Gesamtwerk die offizielle Unterstützung afrikanischer Befreiungsbewegungen durch die DDR – der jüngste Sohn von Alex und Blanche La Guma studierte und lebt bis heute in Ostdeutschland 4 – und ihr nur auf kultureller und zivilgesellschaftlicher Ebene mögliches Äquivalent der alten Bundesrepublik zusammenkommen: Einige von La Gumas Büchern erschienen im Original bei „Seven Seas Publishers“, einer englischsprachigen Reihe des ostdeutschen Verlags „Volk und Welt“. Letzterer veröffentlichte wiederum eine zuvor in der Bundesrepublik erschienene, deutsche Übersetzung von La Gumas Roman „Time of the Butcherbird“; angefertigt hatte sie der westdeutsche Anti-Apartheid-Aktivist Detlev Theodor Reichel.5
Anmerkungen:
1 Jimmy La Guma war 1910 an der Gründung einer Gewerkschaft im heutigen Namibia beteiligt, nahm 1927 am Kongress der Liga gegen Imperialismus in Belgien teil, bereiste die Weimarer Republik und beförderte in Moskau die „Native Republic Thesis“ der Komintern. Sein Sohn schrieb in den 1960er-Jahren eine Biographie: Alex La Guma, Jimmy La Guma. Cape Town 1997. Von Blanche La Guma gibt es eine Autobiographie: Blanche La Guma / Martin Klammer, In the Dark with My Dress on Fire: My Life in Cape Town, London, Havana and Home Again, Auckland Park 2011.
2 David Scott: Omens of Adversity. Tragedy, Time, Memory, Justice, Durham (NC) 2014
3 Roger Field, Alex La Guma. A Literary & Political Biography, Suffolk 2010, S. 202.
4 „Wir waren hier, weil es Solidarität gab“. Interview mit Bartolomew La Guma und Sacks Stuurman (Bert Seraje), in: Ilona Schleicher / Andreas Bohne, Solidarität gegen Apartheid – für ein freies Südafrika. Reflektieren und Reflexionen über DDR-Solidarität mit dem ANC. Solidaritätsdienst-international e.V.(SODI), Berlin 2012, S. 101–110.
5 Alex La Guma, Die Zeit des Würgers, Verlag Volk und Welt, Berlin (Ost) 1982.