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Titel
Mediterranean Incarnate. Region Formation between Sicily and Tunisia since World War II


Autor(en)
Ben-Yehoyada, Naor
Erschienen
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
$ 32.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich van Loyen, Medienwissenschaftliches Seminar, Universität Siegen,

Um trennen zu können, muss man vermischen, um nationale Souveränität zu erhalten, muss man transnational kooperieren – diese Erkenntnis begleitet selbst die Praxis der jüngsten Versuche, das „Mare nostrum“, einen der größten Friedhöfe der Welt, in Einflusssphären mit ihren jeweiligen Verantwortlichkeiten aufzuteilen, die beispielsweise den Transfer von Flüchtlingen verunmöglichen sollen. Die auf teilnehmender Beobachtung basierende Studie von Ben-Yehoyada setzt historisch und systematisch im Vorfeld dieser unreinen Bereinigungsversuche an, sie behandelt das Mittelmeer als Medium für Aushandlungsprozesse, die man nicht einfach verweigern kann, sondern von unten nach oben oder umgekehrt skalieren muss, um eine relative Handlungsautonomie zu erreichen. Aber der Reihe nach.

Für seine sozialanthropologische Dissertation hat der an der Columbia University in New York lehrende Forscher anderthalb Jahre in Sizilien verbracht, in der durch ihre Fischflotte berühmten Stadt Mazari, die zugleich die südlichste Stadt der westlichen Welt ist. Sein Forschungsprogramm gilt der „region formation“, wobei er von den klassischen Resultaten der Mittelmeerethnologie ausgeht, die einen durch Konnektivität, Agonalität und Nischenhaftigkeit ausgezeichneten Komplex annimmt.1 Modern im nordwesteuropäischen Sinn ist dieser Raum nicht, da er seine politische Ordnung durch Patronage, seine individuellen Rechtfertigungen anhand der Dichotomie von Ehre und Schande gestaltet, und dazu, vor allem an seinen Küsten, alles andere als national organisiert ist, sprich: die Kongruenz von Sprache, Geschichte und Territorium verweigert. Inwiefern diese drei Elemente – das soziostrukturelle, das ethisch-religiöse, die politische Geographie – einander bedingen, ist die Frage, auf welche die mediterranen Studien sich bis heute konzentrieren und zwar unabhängig von ihrer disziplinären Herkunft.2 Ethnologische Studien erklären den dritten Aspekt vor allem durch die ersten beiden (oder auch durch die rituelle Anverwandlung umweltlicher Gegebenheiten) und das heißt, dass sie ihre Relevanz verstärken, indem sie nachweisen, wie transnationale, auf segmentärer Organisation beruhende Verbünde – „regions“ – eingesetzt werden, um Vorteile gegenüber dem jeweiligen Staat zu gewinnen. Es geht dabei weniger um die longue durée historischer Verbindungen als vielmehr um strukturelle Gemeinsamkeiten, aus denen Kooperations- und Wettbewerbssituationen erwachsen, für die wiederum die Geschichte mobilisiert werden kann. Ben-Yehoyada sieht beispielsweise über dem Eingang zur Hauptkirche von Mazari ein Relief mit dem Normannenfürsten Roger, der vom hohen Ross aus einen Araber tötet (S. 144f.), und er vernimmt den Bürgermeister der Partnerstadt in Tunesien, der sagt, Mazari sei eine Stadt, in der Araber ihre Spuren hinterlassen haben. Ben-Yehoyada folgt diesen Diskursen einer weit verzweigten mediterranen Familie, die Christen, Moslems und Juden jeweils als „Cousins“ (und abhängig von der Abstammungslinie – Kreuzcousin oder Parallelcousin – vereint durch Differenz oder durch Gleichheit) qualifiziert, in einem komplexeren Beziehungsfeld jedenfalls als in dem der „Brüder“ (obgleich dieser Terminus wiederum die allgemeine politische Mobilisierung durchzieht und nicht nur die Festtagsreden, S. 143–148).

Aber der Autor will diese Diskurse auch „in action“ sehen, also dort, wo sie unmittelbar auf Praktiken bezogen werden oder diese sogar formen, und er sucht dafür den am klarsten definierten Raum, nämlich einen, aus dem man sich nicht einfach zurückziehen kann in eine Privatsphäre oder die höhere Welt geschichtsphilosophischer Reflexion. Diese Engführung erfolgt auf der Naumachos, einem Fischtrawler, mit seiner Besatzung aus Mazaresi und Tunesiern, beim Hochseefischen zwischen der sizilianischen und der nordafrikanischen Küste. Die dort verbrachte Zeit beträgt einen Monat, aber es hat den Autor mehr als ein Jahr gekostet, um als „deckhand“ und etwas überforderter Aushilfskoch engagiert zu werden. Die ethnographischen Passagen an Bord – die aus der Beobachtung der eigenen und der fremden Rollen und ihrer jeweiligen emischen Interpretationen gezogenen Schlüsse – sind präzise und „to the point“, zumindest im Hinblick auf die gängigen Motive der Mittelmeerethnologie (besonders die Kapitel „One Big Family“ und „Pissing Rage“). Schönes Englisch, das muss der Rezensent einschränken, liest man indes andernorts.

Die Naumachos fungiert wie ein „unveränderbares, mobiles Objekt“ im Sinne Latours: sie verbindet Personen, Dinge und Zeichen, sie mobilisiert sie und vor allem erlaubt sie, diese Mobilisierungen maßstabsgetreu zu projizieren.3 Und zwar deshalb, weil die Naumachos als Mikrokosmos eingebunden ist in die Geschichte des nördlichen und des südlichen Mittelmeers, in die des „Fischerkrieges“ von 1973, in die Geschichte der zugunsten einer von den Blockstaaten autonomen Energieversorgung geplanten Pipeline Transmed zwischen Algerien und Italien oder noch viel weiter zurück in die Geschichte der Flotte von Mazari. Die Naumachos ist ein Agent verschiedener Handlungsstränge und bündelt diese zugleich; sie gestattet den Beteiligten eine „Kooperation ohne Konsens“ (E. Schüttpelz), wobei die Beziehungen zwischen Schiffseigner, Kapitän, Mechanikern, Deckarbeitern und Fischern von den jeweiligen Akteuren als „Familie“ oder als „Klasse“ gerahmt werden. Diese Rahmungen sind interessegeleitet und agonal, sie haben ihre spezifischen Orte (Schiffsmesse, Achterdeck) und Gelegenheiten (gemeinsame Mahlzeiten, Sortieren des Fangs) und sie leben davon, dass etwas als gemeinsame Substanz markiert und in Bezug zu einer spezifischen Person oder Gruppe gebracht wird. Der Schiffseigner kann klassenbezogene Spannungen auszugleichen suchen, indem er als generöser pater familias die Mahlzeit für alle zubereitet; aber diese Theatralisierung einer Verwandtschaftsbeziehung ist weit zweifelhafter als die „performance“ des Patrons, der das „Als-ob“ einer Familienbeziehung mitspielt, versteckte Ressourcen heranzieht und dadurch mitunter als sozialer Magier fungiert, der den kollektiven Optimismus stärkt. Dass das soziale „framing“ an Bord nicht unabhängig ist von Dingen – von Shrimps, Messern, Plastikbechern, Kaffee, Olivenölvorräten – arbeitet Ben-Yehoyada eindrucksvoll heraus, ebenso wie er diese Mensch-Ding-Beziehungen in die Ontologie mediterraner Vergesellschaftung zurückübersetzt (aber dies ohne selbstgewiss aufzutrumpfen und offen für Gegenproben, S. 160f.). Mitunter wäre eine methodologische Rahmung wünschenswert gewesen, die die Übersetzungsketten von Personen, Zeichen und Dingen mit dem Medium, durch das sie verläuft, zusammenführen würde – beispielsweise die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours.

Denn so bleibt die kulturanthropologische Annahme vom Schiff als Bühne, auf der sich die Repräsentation des sozialen, historischen und ökonomischen Zusammenhangs vollzieht, gelegentlich nur locker mit dem Zusammenhang Schiff als eminentem Akteur eben dessen, was repräsentiert werden kann, verbunden. Ein Zitat veranschaulicht das Problem: „As other theatrical stages (and unlike hyperrealist movies), [the Naumachos] does not represent itself as a seamless window to another world. Rather, it necessarily points to the poetic and rhetorical work of connecting what we see onstage to what we are asked to imagine as the object of representation. [...] We anthropologists share this work with the people we study.“ (S. 29) Diese Unterstellung einer Repräsentation wird entweder ein reiner Glaubensakt oder führt zu sondierenden Abschweifungen in Raum und Zeit, in denen wiederum die konkrete Zusammenführung an Deck aus dem Blick fällt. Der beständige Wechsel zwischen dem Schiff als Ort einer Repräsentation und dem Schiff als (wirtschaftlichem, sozialen, historischen) Akteur innerhalb der repräsentierten Welt überfordert letztlich die Monografie, wenngleich sie ihren großen Reiz ausmacht. Und das Verfolgen des „poetic and rhetorical work of connecting“ wird zum Beispiel jener Empathie, die man auch als unsere Ethnologenreligion bezeichnen kann: als den letzten Glauben, dass wenigstens diejenigen, die man erforscht, einen Glauben haben.

Auch im Hinblick auf die ursprüngliche Intention, nämlich anhand eines Prozesses von „region formation“ die Lücke zwischen „modernity and the Mediterranean“ (S. 12) zu schließen, ist der Eindruck zweischneidig. Es ist sicher richtig, entgegen rezenten Moden in Studien zur Migration und Cross-Border-Beziehungen darauf zu insistieren, dass nicht ausschließlich das Nationale und das Globale gültige Referenzgrößen darstellen, sondern transnationale Beziehungen „in broader and more complex terms of relatedness“ (S. 12) verhandelt werden. Dafür bieten sich mediterrane segmentäre Gesellschaften auf den ersten Blick an, aber man darf auch fragen, inwiefern hier überhaupt von „relatedness“ zu einem Nationalstaat die Rede sein kann. Die Sizilianer, mit denen Ben-Yehoyada zur See gefahren ist, die Tunesier, mit denen er den täglichen Fang sortierte, waren es gewohnt, ihre Zugehörigkeiten vor allem über das Gegensatzpaar „cristiano – turco“, oder „abaad – yahoodi“ (S. 141) auszudrücken, das heißt über universalistische Definitionen, während sie ihre „Cousins“ ethnisch identifizieren. Der Rezensent erinnert, dass Sizilianer ähnlich gegenüber dem Nationalstaat verfahren: „Sizilianer sind gute Menschen, Italiener sind gute Bürger,“ wie ein Anwalt aus Messina dem Hauslehrer seiner Kinder gleich zu Anfang einschärfte. Im Gegensatz zu anderen nationalistischen Redeweisen wird der andere nicht als Un- oder Untermensch disqualifiziert, sondern als jemand, der nicht versteht, wie Gemein- und Eigensinn zusammenhängen. Die anderen, das sind entfremdete Menschen. Man selbst ist dagegen Teil einer Gesellschaft, die sich im Staat gegen diesen definiert, ihn mobilisiert oder auch gegen andere Zugehörigkeiten (z.B. transnationale Regionen) ausspielt bzw. mit diesen kombiniert. Die daraus bestehenden Überlagerungen ergeben dann das „Mediterranean Incarnate“.

Trotz mancher kritischen Rückfrage ist das Buch lesenswert, überaus detailreich, und wer sich für maritime Ethnologie interessiert, für die Geschichte des mittelmeerischen Fischfangs oder für die transnationalen Dynamiken einer sizilianischen Gemeinde, wird reich belohnt.

Anmerkungen:
1 Vgl. die klassischen Positionen in u.a. David D. Gilmore (Hrsg.), Honor and Shame and the Unity of the Mediterranean, Washington DC 1987; sowie Peregrine Horden / Nicholas Purcell, The Corrupting Sea. A Study in Mediterranean History, Oxford 2000.
2 Vgl. auch die Analyse der mit dem Mittelmeerraum befassten Epistemologien angesichts der jüngeren Entwicklungen von Thomas Hauschild, Ritual und Gewalt. Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften, Frankfurt am Main 2008.
3 Vgl. Bruno Latour, Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in: Andréa Belliger / David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 259–307.