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Titel
Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Medialisierte Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und Nachkriegsdiskurse in Japan (1914–1919)


Autor(en)
Schmidt, Jan
Erschienen
Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Eichleter, Zentrum Ostasienwissenschaften, Universität Heidelberg

In der Forschung galt der Erste Weltkrieg lange als ein Krieg, in den Japan nur peripher involviert war und den die dortige Regierung lediglich als Vorwand nutzte, um ihre politische und ökonomische Vormachtstellung in Ostasien auszubauen. Diese Annahmen hinterfragt Jan Schmidt in Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. In seiner Dissertation stellt sich Schmidt die Fragen: Wie wurde der Erste Weltkrieg in Japan medial wahrgenommen und welchen Einfluss hatte die medialisierte Kriegserfahrungen auf die sozialen und politischen Diskurse im Land?

Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel. In seiner kurzen Einleitung erläutert Jan Schmidt die drei Schwerpunkte seiner Studie. Erstens wird die mediale Kriegserfahrung von 1914 bis 1918 durch eine Auswertung eines breiten Spektrums an Massenmedien analysiert (S. 19). Im zweiten Teil wird die gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung Japans mit der bereits während des Krieges weitläufig diskutierten Nachkriegszeit herangezogen, um darzulegen, wie medialisierte Erfahrungen bestimmte Diskurse in Japan veränderten (S. 20). Schlussendlich werden im dritten Teil des Buches die Studien der staatlichen Ministerien zum Krieg einbezogen und analysiert, wie diese gemeinsam mit den medialen Diskursen zur Nachkriegszeit politische Entscheidungen beeinflusst haben (S. 20).

Nach der Einleitung folgt im zweiten Kapitel ein Überblick über den Forschungsstand mit einem detaillierten Überblick über die Historiographiegeschichte zu Japan und dem Ersten Weltkrieg. In älteren Narrativen wurden hauptsächlich die wirtschaftlichen, militärischen und außenpolitischen Auswirkungen des Krieges für Japan betrachtet, beispielsweise in Bezug auf die Einundzwanzig Forderungen an China. Alle weiteren Einflüsse, besonders auf das Gros der japanischen Bevölkerung, wurden dagegen lange als bloßes „Hintergrundrauschen“ angesehen (S. 44ff.). Erst in den letzten zwei Jahrzehnten wurde neuen Forschungsansätzen nachgegangen, die den Einfluss des Ersten Weltkriegs auf Japan neu bewertet haben (S. 67ff.).1 Im dritten Kapitel erfolgt schließlich eine knappe Zusammenfassung der Politik Japans in den Jahren von 1914 bis 1918.

Der Hauptteil der Arbeit beginnt in Kapitel vier, in dem die medialisierte Kriegserfahrung Japans analysiert wird. Jan Schmidt greift dabei auf ein breites Spektrum an Massenmedien zurück das Zeitungen, Populärliteratur, visuelle Darstellungen in illustrierten Zeitschriften und Kinoprogramme umfasst. Als repräsentative Beispiele sollen hier lediglich die großen Tageszeitungen Tōkyō asahi shinbun und Yomiuri shinbun sowie die illustrierte Zeitschrift Ōshū sensō jikki genannt werden, auch wenn viele weitere japanische Quellen bei Schmidt ebenfalls Beachtung finden. Durch deren Analyse zeigt er auf, dass das Thema Krieg in Japans medialer Alltagswelt allgegenwärtig war und große Teile der Bevölkerung fortwährend damit konfrontiert waren. Schmidt unternimmt dabei sowohl qualitative Untersuchungen anhand von repräsentativen Zeitungen und Zeitschriften, als auch quantitative Analysen durch die Auswertung von bisher nur wenig erforschten Artikeltitel-Datenbanken. Er unterstreicht dabei, dass die bloße Anzahl der publizierten Artikel zum Ersten Weltkrieg nur eine begrenzte Aussagekraft über die Rezeption der Zeitungsartikel habe (S. 132). Dennoch gibt es starke Indizien, wie etwa eine große Leserschaft (S. 153f.) oder die Besucherzahlen von Kinoaufführungen (S. 249), die darauf hindeuten, dass eine medialisierte Kriegserfahrung von vielen Personen rezipiert wurde. Ebenso verdeutlicht die Verbreitung von Bildern des Krieges in Kinofilmen und illustrierten Zeitungen – wie Schmidt am Beispiel der Rekishi shashin zeigt – dass visuelle Eindrücke des Krieges Einzug in das Alltagsleben der Japaner fanden (S. 194ff). Daraus erkläre sich auch die Tatsache, dass nach dem verheerendem Kantō-Erdbeben 1923 viele Kommentatoren die Zerstörung in Japan mit dem Anblick der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieg verglichen (S. 236f.).

Im fünften Kapitel wird auf die Schaffung von Nachkriegsdiskursen und von Zukunftsvorstellungen eingegangen. Durch die mediale Kriegserfahrung entstanden einerseits neue Diskurse, andererseits wurden alte gesellschaftliche Debatten neu bewertet. Ein Strang der Debatten drehte sich etwa um die „Frauenfrage“ und die Rolle der Frau in einem zukünftigen totalen Krieg. Durch Beispiele aus Europa wurde anerkannt, dass die Beteiligung der Frauen an der Heimatfront in einem modernen Krieg wichtig war und dass die Rolle der Frauen in der Gesellschaft daher nach dem Krieg aufzuwerten sei, um dieser neuen Realität gerecht zu werden (S. 265ff.). Wie Schmidt im nächsten Kapitel schildert, mussten aufgrund des veränderten Diskurses selbst konservative Politiker diese Tatsache eingestehen und so wurde Frauen kurz nach dem Krieg beispielsweise die Beteiligung an politischen Veranstaltungen gestattet, was bis dahin gesetzlich verboten gewesen war (S. 362ff.).

In Kapitel sechs werden schließlich Studien japanischer Ministerien und des Militärs zum Krieg vorgestellt. Die Erkenntnisse, die aus den ministerialen Studien gewonnen wurden haben, gemeinsam mit medialen Debatten in der Nachkriegszeit, Politiker und Beamte in ihrer politischen Entscheidungsfindung geprägt und schlussendlich entscheidend Einfluss auf die Gesetzgebung in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs gehabt (S. 303). Die Gesetzte zur Mobilisierung der Rüstungsindustrie von 1918 im Falle eines zukünftigen Krieges sowie der neue Reichverteidigungsplan von 1920 sind dabei nur zwei der Beispiele, die angeführt werden, wie die ministerialen Studien und die mediale Kriegserfahrung der Zeit von 1914 bis 1918 die Nachkriegspolitik geprägt haben.

Zusammenfassend stechen in Jan Schmidts Buch drei Ansätze als wissenschaftliche Neuerungen heraus: Erstens, dass der Erste Weltkrieg in Japan durchaus in großem Stil wahrgenommen wurde und die medialisierte Kriegserfahrung in Japan verbreiteter war als bisher angenommen. Die Berichterstattung und die Bilder vom Krieg in Europa wurden von einem breiten Spektrum an Massenmedien während des gesamten Krieges an ein interessiertes japanisches Publikum vermittelt und von diesem rezipiert. Zweitens zeigt Schmidt auf, wie diese mediale Kriegserfahrung Diskussionen zu Massenmobilisation und zur Zukunft Japans in einer Welt nach dem Krieg befeuerten, die gleichzeitig auch immer als eine Welt vor dem (nächsten) Krieg dargestellt wurde, und neue Rahmenbedingungen für politische sowie gesellschaftliche Diskurse schuf. Drittens zeigt Schmidt, dass auch medialisierte, „indirekte“ Kriegserfahrungen einen großen gesellschaftlichen Einfluss haben können. Dabei wird durchaus betont, dass die medialisierte Kriegserfahrung Japans eine andersartige Erfahrung war als die Kriegserfahrung derjenigen in Europa und in den europäischen Kolonien. Dennoch ist diese mediale Kriegserfahrung dadurch nicht weniger relevant für die Betroffenen, oder weniger wertvoll als Forschungsperspektive (S. 20).

Trotzdem dieser Befunde ist das Buch von Jan Schmidt nicht ohne Schwächen. Ein Kritikpunkt betrifft die mangelnde Berücksichtigung japanischer Zeitungen, die in Fremdsprachen publiziert wurden. Diese Zeitungen werden in Jan Schmidts Buch, wie auch sonst in Betrachtungen der japanischen Medienwelt oft vernachlässigt.2 Im Vergleich zu auflagenstarken japanischsprachigen Tageszeitungen spielten sie wegen der limitierten Zahl ihrer Auflagen und ihres kleinen internationalen Publikums sicherlich nur eine geringe Rolle am japanischen Zeitungsmarkt. Jedoch waren die fremdsprachigen Zeitungen Japans darauf ausgelegt, als Vermittler zwischen Japan und dem Rest der Welt zu agieren sowie japanische Diskurse an ein internationales Publikum zu tragen und dienten damit als wichtige Schnittstellen des internationalen Informationsaustausches.3 Durch ihr Studium könnte sowohl der Diskurs in Japan genauer erfasst werden, als auch Verknüpfungen zu globalen Debatten zur Rolle der Frau als Teil der Massenmobilisation in einem zukünftigen totalen Krieg oder Zukunftsvorstellungen nach dem Krieg analysiert werden.4 Gerade bei einem global relevanten Thema wie der medialen Kriegserfahrung Japans im Ersten Weltkrieg wäre die Auswertung der fremdsprachigen Zeitungen aus Japan daher wünschenswert. Insgesamt ändert diese Kritik jedoch nichts daran, dass Jan Schmidt eine bemerkenswerte Analyse der medialisierten Kriegserfahrung Japans im Ersten Weltkrieg gelungen ist, die sowohl Japanologen als auch Medienhistorikern zu empfehlen ist.

Anmerkungen:
1 Siehe beispielsweise Hiroaki Nakayama, Dai-ichiji taisen no „kage“. Sekai sensō to Nihon bungaku [Der „Schatten“ des Ersten Weltkreiges. Japanische Literatur und der Weltkrieg], Tōkyō 2012.
2 Siehe zum Beispiel James Huffmann, Creating a Public. People and Press in Meiji Japan, Honolulu 1997, oder Marc Löhr, Allgemeine Tageszeitungen in Japan. Eine Momentaufnahme der Grundmuster und des Spektrums ihrer Formen und Themen, phil. Diss. Universität Trier 2007, https://doi.org/10.25353/ubtr-xxxx-c1d7-8e00 (06.08.2022).
3 Yukiko Ogasawara, Rising to the challenges ahead, und Toshiaki Ogasawara, Committed to our mission, in: Japan Times, o.D., https://info.japantimes.co.jp/info/jt_anniversary.html (06.08.2022).
4 Siehe Alison Fell / Ingrid Sharp (Hrsg.), The Women’s Movement in Wartime. International Perspectives, 1914–19, Basingstoke 2007.

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