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Title
Am Beispiel Leo Koflers. Marxismus im 20. Jahrhundert


Author(s)
Jünke, Christoph
Published
Extent
329 S.
Price
DM 29,80
Reviewed for H-Soz-Kult by
Hedeler, Wladislaw

Das anhaltende Interesse an den im Deutschland des 20. Jahrhunderts beheimateten Marxismen, den Einzelgängern und Schulbildnern sowie den Institutionen in Ost und West widerlegt die These vom Verschwinden des Theoriegebäudes und dem Aussterben seiner Repräsentanten. Ausdruck und Spiegelbild dieses Interesses war der wissenschaftliche Kongreß, den die Leo-Kofler-Gesellschaft e.V. mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung sowie zahlreicher Bildungswerke und der IG Metall vom 29. April bis 1. Mai 2000 an der Ruhr-Universität Bochum veranstaltete.

17 Referenten folgten der Einladung, zwei schickten einen schriftlichen Beitrag zu. In stark überarbeiteter Form sind 16 Beiträge in das Buch eingegangen. Ungeachtet der empfindlichen Leerstellen ein erster Versuch, sich dem Gesamtwerk aus linkssozialistischer Sicht zu nähern. Der dabei vorherrschende Blickwinkel ist der von im Westen Deutschlands lebenden, arbeitenden und forschenden Philosophen, Soziologen und Historikern. Der Osten Deutschlands kommt als Fluchtpunkt und der "Ostblock" - Prager Frühling, Perestroika und China seien stellvertretend genannt - als Denkstoff vor.

"Mit ihren Themen", heben der Herausgeber und der 1. Vorsitzende der Leo-Kofler-Gesellschaft, Günter Brakelmann, hervor, "haben sich die Referenten einigen der noch andauernden großen gesellschaftswissenschaftlichen Diskussionen genähert. Im ersten Teil finden sich Analysen und Kommentare zur Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Was läßt sich von Koflers historischem Blick auf dieselbe noch lernen? Und an welchen Punkten hat der Zahn der Zeit kräftig genagt?

Im zweiten Teil steht das schwierige Verhältnis von Marxismus und Anthropologie im Mittelpunkt. Was zeichnet Koflers sozialistischen Humanismus aus und wie entfaltet er seinen Versuch der erkenntnistheoretischen Grundlegung einer marxistischen Anthropologie? Der dritte Teil versammelt unterschiedliche Beiträge zu verschiedenen Themen der marxistischen Theorie. Von der Reflexion zentraler Begriffe wie Entfremdung und Verdinglichung, Praxis und Ideologie geht es über die kritische Theorie, über Adorno, Marcuse, Bloch und Lukács zu Problemen der Ästhetik.

Im vierten Teil finden sich schließlich Beiträge zur sozialistischen Praxis und den sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, zum Koflerschen Antistalinismus, zu seiner Konzeption der Bildungspolitik sowie zum Verhältnis Koflers zur Neuen Linken." (S. 8)

Wolfgang Fritz Haug fragt im einleitenden Beitrag nach den Aufgaben und Aussichten einer marxistischen Renaissance. Seine Antwort beginnt mit der Feststellung, daß das von ihm angestoßene und vorangetriebene Projekt des pluralen Marxismus unerledigt geblieben ist. "Marxismus existiert seitdem fast nunmehr in Gestalt seiner Intellektualbestandteile, überwiegend als akademischer Marxismus mit einem Sektor freier Theoriewarenproduktion, der sich über den Markt erhalten muß. Statt Teilnahme am gemeinsamen Kampf herrscht weithin Kampf um Stellen oder Marktanteile.

Es hat aber keinen Sinn, diesen Zustand zu betränen, wenn er nun einmal unvermeidlich ist. Man muß ihm seine möglichen Stärken abgewinnen." (S. 19) Neben der "Befindlichkeit" dieser Produzenten, die Haug vor Opportunismus warnt, kommen schließlich auch die Adressaten ins Bild, die marxistisches Denken benötigen. Im Begriff des Parteiintellektuellen spiegelt sich das Problem: "Gift und Heilmittel", faßt der Dialektiker Haug zusammen, "unterscheiden sich oft nur durch die Dosis". (S.25)

Ulrich Brieler und Michael Krätke wenden sich im ersten Teil Koflers "Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zu". Auch wenn das Buch in vielen Details von der Forschung überholt ist, bleibt der als Hypothesenkatalog präsentierte Marxismus aktuell. Diese These von Brieler greift auch Krätke auf und führt sie weiter aus: "Ohne die marxschen Überlegungen zur historischen Möglichkeit und Kontingenz der Entwicklung des Kapitalismus zu kennen, folgt Kofler mit richtigem Instinkt seiner durchaus offenen, alles andere als deterministischen Konzeption." (S. 53)

Der zweite, mit "Anthropologie und Humanismus" überschriebene Teil enthält Beiträge von Jakob Moneta, Günter Brakelmann und Hartmut Krauss. Krauss vermerkt die "editorisch bedingte" Nichtberücksichtigung der kulturhistorischen Schule sowie der Kritischen Psychologie durch Kofler und weist auf die mögliche "produktive Kommunikation" zwischen Koflers kritisch-humanistischer Marxismusinterpretation und der subjektwissenschaftlichen Konzeption der kritischen Psychologie hin. (S. 130)

Auf den umfangreichsten dritten Teil "Gesellschaftstheorie und Ästhetik" mit Beiträgen von Rüdiger Dannemann, Sebastian Herkommer, Hans Heinz Holz, Wilfried Korngiebel, Horst Müller und Werner Seppmann folgt der vierte Teil "Theorie und Praxis". Christoph Jünke kommentiert Koflers Stalinismuskritik, Reinhard Kößler untersucht Koflers Spätwerk über das Ende der Sowjetunion, Christoph Jünke äußert sich zur politischen Theorie der progressiven Elite. Darunter ist "keine besondere und geschlossene Gruppe, kein homogener Teil einer bestimmten Klasse oder Schicht" zu verstehen, sondern "eine amorphe Masse mit stark fluktuierenden Tendenzen". (S. 303)

Jünke wirft eine ebenso interessante wie zentrale Fragestellung auf: "So offen und unmißverständlich diese methodologische Kritik des stalinistischen Bürokratismus auf theoretischer Ebene auch ist, keine Rechenschaft legt sich Kofler bis hierhin über die historischen Bedingungen und Verlaufsformen der Durchsetzung stalinistischer Theorie und Praxis ab. Erst als Kofler endgültig die Hoffnung aufgeben muß, als Reformator innerhalb des realen Sozialismus zumindest geduldet zu werden, also erst nach seiner Flucht nach Westdeutschland Ende 1950, reflektiert er auch diese Seiten des Stalinismuskomplexes." (S. 241)

Koflers Stalinismuskritik durchläuft mehrere Etappen. Am Anfang standen drei zentrale Kritikpunkte: Ausgrenzung der Dialektik, Reduktion des Historischen Materialismus auf mechanistischen Ökonomismus und Preisgabe des Humanismus. Für das Spätwerk von Kofler konstatiert Christoph Jünke einen "eklatanten Bruch" mit der eigenen Stalinismuskritik (S. 253). Die Implosion des Sowjetsystems, leitet Reinhart Kößler seinen Beitrag ein, zog die Exkommunikation jeglicher Utopie nach sich. (S. 259) Die längst überfällige Selbstvergewisserung der Linken steht auf der Tagesordnung. "Das Projekt der unmittelbaren Vergesellschaftung muß als historisch nicht nur gescheitert, sondern auf absehbare Zeit auch als widerlegt gelten. ... Wenn hinter den Markt nichts zurückführt, so ist dennoch unklar, was über ihn hinausführen könnte." (S. 275/276)

Bei der Suche nach Antworten ist von der Neuen Linken zu den neuen sozialen Bewegungen weiterzugehen. "'Neu beginnen!', dieser alte Kampfruf einer der ersten neu-linken Gruppen trifft die Sache heute noch schärfer als in den 30er Jahren. Die alten politischen und sozialen Milieus und Traditionen, auf die sich eine erneuerte sozialistische Linke stützen könnte, sind heutzutage noch zerstörter als damals, die politische Legitimation der sozialistischen Restgruppen noch geringer. Hinzu kommt, daß eine neue sozialistische Linke wohl kaum Glaubwürdigkeit erlangen wird, wenn sie nicht in der Lage ist, die mit viel Blutzoll und Bewußtseinszerstörung bezahlten politischen Irrwege des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten." (S. 320)

Das Ergebnis des Kongresses liegt in Gestalt der ebenso nüchternen wie ernüchternden Bestandsaufnahme vor. Ein Vergleich mit ähnlich verorteten Rezeptionsversuchen bietet sich geradezu an.

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