Titel
Liturgical Drama and the Reimagining of Medieval Theater.


Autor(en)
Norton, Michael
Reihe
Early Drama, Art, and Music 33
Erschienen
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
£ 80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Ferro, Seminar für Griechische und Lateinische Philologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die 2017 erschienene Monographie des Musikologen Michael Norton ist dem Thema ‚liturgical drama‘ gewidmet, also Texten, die sich durch dramaturgische Elemente wie Sprechrollen, Gebärden oder Kulissen auszeichnen und in einem liturgisch-religiösen Kontext verortet sind. Darunter fallen zum Beispiel Osterfeiern und Osterspiele – wie die Visitatio sepulchri –, dramatische Offizien – wie zum Beispiel das weihnachtliche Officium stellae oder das Officium pastorum –, und als Ludi bekannte Stücke – wie zum Beispiel der Ludus Danielis oder der Tegernseer Ludus de antichristo. Diese liturgischen Dramen werden häufig als Vorgänger des modernen Theaters gesehen und damit als Etappe in der Geschichte jener Entwicklung verstanden, in der das Theater, wie wir es heute kennen, sich von dem religiösen Ritus ablösen und etablieren konnte.

Nortons Buch wendet sich genau gegen eine solche teleologische Auffassung. Vor allem stellt er die Begrifflichkeit des ‚liturgical drama‘ in Frage, da diese die Eigenständigkeit sowie wesentliche Merkmale der mittelalterlichen Riten und Texte verneint. Diesen Begriff und die damit verbundene verzerrte Wahrnehmung des Genres will der Autor als „illusion“ und „improbable fiction“ dekonstruieren (S. 204). Sein Buch versteht Norton als „a comprehensive, albeit not exhaustive, study of the origin and history of the notion ‚liturgical drama‘, of the texts that make up the collection that we now call ‚liturgical drama‘, and of the words that make up the expression“ (S. 10). Darüber hinaus bietet er eine “critical analysis of the Visitatio Sepulchri that places it clearly within its liturgical and theological context“ (S. 11).
Das Buch ist in sechs Kapiteln gegliedert. In Kapitel 1 werden Entstehung und Entwicklung des Begriffes ‚liturgical drama‘ behandelt und zwar von seinem ersten Auftreten in den Dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, als Charles Magnin von einem ‚drame liturgique‘ sprach, bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich die ersten Stimmen gegen diesen Begriff erhoben, deren Darstellung Norton Kapitel 2 widmet. Hier werden die Arbeiten von Autoren wie Cargill, Stumpfl und Hunningher zusammengefasst, die anhand unterschiedlicher Theorien den link zwischen Liturgie und Theater kappten und die Geschichte einer organischen Entwicklung des Theaters aus dem Ritus in Frage stellten. Höhepunkt des Kapitels und, wie Norton selbst betont, maßgebend für das Verständnis und die Methodologie des Autors sind die Positionen des Literaturwissenschaftlers C. Clifford Flanigans und des Musikologen und Kirchenhistorikers Nils Holger Petersen, die Norton hier schildert. Beide Forscher sind der Meinung, dass diese ‚Dramen‘ sich nicht wesentlich von anderen Riten der christlichen Liturgie unterschieden. Sie seien von den Zeitgenossen auch nicht als etwas Besonderes gekennzeichnet und aus dem sonstigen liturgischen Material herausgehoben worden, in dessen Rahmen die Mehrheit dieser Texte überliefert wurde (vgl. S. 74).

Kapitel 3 schildert der Umgang mit dem Genre in 16., 17. und 18. Jahrhundert, also in der Zeit vor der Erfindung des Begriffes ‚liturgical drama‘. Beiläufig erwähnt der Autor auch einige mittelalterliche Autoren (wie Gerhoch von Reichersberg und Herrad von Landsberg), die zeitgenössische theatralische Darstellungen kritisierten. Norton möchte damit zeigen, dass in solchen Fällen die Kritik gegen das Spektakel und nicht gegen die von der modernen Forschung als ‚liturgische Dramen‘ bezeichneten Riten gerichtet war, da diese von den Zeitgenossen als Liturgie empfunden wurden: „The critics of the Middle Ages were clear on this. Spectacles were condemned, while liturgical acts – no matter how dramatic they might one day appear – were left untouched” (S. 101).

In Kapitel 4 geht der Autor ans mittelalterliche Material und bietet einen sehr nützlichen Überblick aller überlieferten Texte, die bisher als ‚liturgische Dramen‘ bezeichnet worden sind. Dabei unterteilt er das Material in zwei Gruppen und zwar in representational rites und religious plays/representations. Diese Unterteilung wird nicht, wie in überblicksartigen Werken zum Thema üblich1, nach Inhalt und Gegenstand der Werke, sondern nach Überlieferungszusammenhang vorgenommen. Im ersten Fall, den representational rites, handelt es sich klar erkennbar um liturgische Riten, die in liturgischen Handschriften überliefert und als Feier in das liturgische Jahr eingegliedert wurden (zum Beispiel die Visitatio sepulchri). Diese stellen die deutlich umfangreichere Überlieferungsgruppe dar (S. 112). Im zweiten Fall, den religious plays/representations, handelt es sich um Texte, die bloß vage einem liturgischen Kontext zuzuordnen sind, weil die Überlieferung (Predigtsammlungen, exegetische Werke) keine oder lediglich ambigue Hinweise auf eine liturgische Verwendung bietet (S.119). In diesem Kapitel werden darüber hinaus Informationen über die einzelnen Texte in den jeweiligen Kategorien, wie Nutzungs- und Überlieferungskontext sowie neuere Forschungsergebnisse (vornehmlich aus der Musikwissenschaft) gegeben. Außerdem wird die gesamte Überlieferung anhand von tabellarischen Darstellungen in den genannten Gruppen gegliedert, es werden Informationen über das Medium der Überlieferung (Datierung, Provenienz, Typus des Buches, vorhandene oder nicht vorhandene musikalische Notation) gegeben. Dieses Kapitel ist sehr gut gelungen und bietet sehr wichtige Informationen über die Überlieferungsträger, Überlieferungszusammenhänge und liturgische Einbettung der Riten. Es stellt ein äußerst nützliches und gut zugängliches Mittel für all diejenigen dar, die zum Thema forschen oder es in die universitäre Lehre einbinden möchten.

Nachdem in Kapitel 5 nochmals über den Terminus ‚liturgical drama‘ und die Etymologie seiner Bestandteile reflektiert wird, führt der Autor in Kapitel 6 als Beispiel seiner Untersuchungsmethode die Analyse einer Visitatio sepulchri durch. Diese möchte Norton weder als eine Form von Theater (also mit vornehmlich literaturwissenschaftlichen Methoden), noch als bloße Gesangskompositionen (also mit traditionellen musikologischen Methoden) untersuchen (S. 186). Stattdessen analysiert er die Visitatio sepulchri auf mehreren Ebenen: er untersucht die musikalische Aufmachung sowie den Text des Ritus und bezieht die einzelnen Aspekte jeweils auf einander. Hierbei schließt er Hinweise aus den Rubriken der Handschriften mit in die Analyse ein und bietet auch eine theologische Interpretation des Werkes an: demnach soll der Ritus nicht nur die Vermittlerrolle der Kirche und ihrer Vertreter sowie die Analogie zwischen diesseitigen und himmlischen Klerus betonen, sondern auch die Verbindung zwischen dem Sakrament der Messe und ihrem biblischen Ereignis deutlich machen (S. 200).

Das Buch muss unter vielen Aspekten gelobt werden: es bietet ein umfangreiches und gründliches wissenschaftshistorisches Resümee der Forschung zum ‚liturgical drama‘ sowie einen detaillierten Überblick der Gesamtüberlieferung der ‚representational rites‘ und ‚religious representations‘ des Mittelalters. Auch das besondere Augenmerk auf den Überlieferungskontext und die liturgische Einbettung der Texte ist nicht nur für jede weitere Arbeit zum Thema nützlich, sondern auch sehr zu begrüßen, vor allem, weil diese ansonsten gerne übersehen werden. Darüber hinaus macht Norton, wie vor ihm Flanigan und Petersen, vor allem auf einen entscheidenden Aspekt in der Auseinandersetzung mit diesem Genre, aufmerksam. Er betont, dass eine dem Gegenstand wirklich angemessene Erforschung nur interdisziplinär geschehen kann. Weder eine ausschließlich literaturwissenschaftliche, noch eine musikologische oder theologische oder theaterwissenschaftliche (und so weiter) Untersuchung kann den ‚representational rites‘ und ‚religious representations‘ wirklich gerecht werden. Vielmehr verlangt der Gegenstand nach einer anderen Herangehensweise, welche Grenzen, traditionelle Fragestellungen und etablierten Methoden der einzelnen Disziplinen überschreitet. Es ist sehr zu wünschen, dass Nortons Plädoyer Gehör findet, und nicht – wie im Falle von Flanigans Einspruch geschehen – weithin ignoriert wird.

Zwei Aspekte des Buches von Norton bieten allerdings auch Anlass zur Kritik: Zum einen die Tatsache, dass die methodisch gelungene Arbeit mit dem mittelalterlichen Material insgesamt viel zu kurz ausfällt. Vor allem im Vergleich mit den ausführlichen und umfangreichen begriffsgeschichtlichen und methodologischen Diskussionen der Kapitel 1, 2, 3 und 5 spielt die im Kapitel 6 auf gerade einmal fünf Seiten durchgeführte Analyse einer Visitatio sepulchri eine viel zu marginale Rolle. Zum zweiten scheint auch die Platzierung von Kapitel 5 verfehlt. Nicht nur ergeben sich inhaltliche Wiederholungen mit den vorhergehenden Kapiteln, auch die wichtige Auseinandersetzung und Untersuchung der Primärquellen, die in Kapitel 4 begonnen und Kapitel 6 vollbracht wird, wird durch Kapitel 5 störend unterbrochen.

Ärgerlich sind auch einige Fehler, die sich im Text und im Glossar eingeschlichen haben. Zum einen stellt sich die Frage, ob ein solches Glossar in einem Buch, das sich, wie der Autor selbst sagt, an ein mit der Materie vertrautes Publikum richtet (S. 16), wirklich nötig ist. Zum zweiten erscheint auch der Rückgriff auf die lateinischen Begriffe der Quellen oberflächlich; beispielsweise wird der lateinische Begriff für Vesper nicht im Nominativ (vesper), sondern im Ablativ (vespere) zitiert. Darüber hinaus hätte ein sorgfältigeres Lektorat verhindern können, den englischen Begriff für Evangeliar (evangelary) konsequent als evangialary zu verschreiben.

Note:
1 Karl Young, The drama of the medieval church, Oxford 1933, S. 111.

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