Titel
Moderne Muslime. Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte 1883


Autor(en)
Schäbler, Birgit
Erschienen
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Flores, Hochschule Bremen

Der Islam wird heute äußerst intensiv und kontrovers diskutiert. Viele sehen ihn als gefährlich und glauben, seine Anhänger seien in ihrer Eigenschaft als Muslime unfähig, sich mit der Moderne zu arrangieren. Der Verdacht ist nicht neu. Bereits Anfang 1961 behandelte Maxime Rodinson in einem Vortrag an der Sorbonne die Frage, ob der Islam eine Doktrin des Fortschritts oder der Reaktion sei. Er wies auf verbreitete antiislamische Urteile hin, und als historischer Vorläufer einer solchen Haltung fiel ihm als erster der im 19. Jahrhundert enorm populäre Religionshistoriker Ernest Renan ein.1 Der hatte 1883 in einem Vortrag ebenfalls an der Sorbonne ein äußerst negatives Bild des Islam gezeichnet. Da heißt es: „Jede Person, die nur einigermaßen an dem Geistesleben unserer Zeit teilnimmt, erkennt deutlich die gegenwärtige Inferiorität der muslimischen Länder, den Niedergang der vom Islam beherrschten Staaten, die geistige Nichtigkeit der Rassen, die einzig und allein ihre Kultur und ihre Erziehung jener Religion verdanken.“2

Und so geht es weiter. In der Antwort auf die Frage, woher denn dieser Defekt der Muslime rührt, schwankt Renan zwischen einer ethnischen Zuschreibung (den Ausdruck „Rasse“ benutzt er ohne jede Zurückhaltung) und einer Kulturprägung, nämlich der Wirkung des islamischen Dogmas, verstärkt durch die angebliche Ungeschiedenheit der religiösen und der weltlichen Sphäre im Islam. Den größten Teil seines Vortrags widmete Renan der Wegerklärung des für ihn peinlichen Umstands, dass der Islam die zivilisatorische Blüte der muslimischen Weltregion etwa unter den Abbasiden keineswegs verhindert hat.

Rodinson wies auch darauf hin, dass der bekannte muslimische Intellektuelle Dschamal al-Din al-Afghani sehr rasch auf Renan antwortete, indem er ihm im Hinblick auf die misslichen Wirkungen der Religion (jeder Religion, sagte er) durchaus zustimmte, aber gleichzeitig die Hoffnung äußerte, die Muslime würden das ähnlich wie die modernen Christen überwinden. Dies ist der zentrale Satz seines Beitrags: „Ich verteidige hier vor Herrn Renan nicht die Sache der muslimischen Religion, sondern diejenige mehrerer hundert Millionen Menschen, die ihm zufolge verurteilt wären, in der Barbarei und Unwissenheit fortzuleben.“3

Damit sind wir bei dem hier anzuzeigenden Buch: Bei Muslimen erregte Renan mit seinem Urteil Ärgernis; al-Afghani und andere widersprachen ihm öffentlich. Diese Auseinandersetzung wird in dem Buch „Moderne Muslime“ nachgezeichnet. Birgit Schäbler hat in diesem Buch die wichtigsten Dokumente der Debatte zusammengestellt und in einem eingehenden Kommentar Hintergründe und Kontext geliefert. Außer der Kritik von al-Afghani an Renan findet sich hier auch die Entgegnung von Namık Kemal, einem Angehörigen der liberal-reformerischen Gruppe der „Jungosmanen“ (publiziert erst posthum 1908), und die von Ataullah Bajazitov, einem muslimischen Gelehrten tatarischer Herkunft, der in St. Petersburg wirkte (veröffentlicht 1883).

Dies ist die Substanz der Debatte: Renan wertet den Islam ab, indem er sich auf Beobachtungen beruft, ohne sich mit den Inhalten oder Bestimmungen der Religion und den aus ihnen womöglich folgenden Konsequenzen auseinanderzusetzen. Drei muslimische Intellektuelle reagieren darauf, jeder auf seine spezifische Art. Al-Afghani, Philosoph und „öffentlicher muslimischer Intellektueller“, gibt den Islam als Religion preis (jedenfalls hier, ansonsten hat er sich durchaus anders geäußert), verteidigt aber die Muslime gegen die Unterstellung, sie seien kraft ihrer Religion zur Stagnation verdammt. Kemal sucht nachzuweisen, dass Renan und andere europäische Orientalisten wenig von ihrem Gegenstand verstehen, und argumentiert ansonsten weitgehend apologetisch, beinahe frenetisch darum bemüht, die Gleichwertigkeit oder sogar Überlegenheit des Islam über westliche ideologische Systeme zu belegen. Und Bajazitov, muslimischer Theologe, legt positiv die Züge des Islam als Religion dar und bemängelt, dass Renan darauf nicht eingegangen ist, sondern in rein induktivem Vorgehen sein negatives Urteil begründet.

Birgit Schäbler gibt in ihrem Kommentar den zum Verständnis der Debatte nötigen Hintergrund. Sie informiert über die Teilnehmer und geht dabei besonders auf Renan und die wesentlichen Züge seines Denkens ein, die ihn zu einem so prononcierten Feind der Muslime gemacht haben. Und sie verortet die Debatte in ihrem Kontext: als Reibung muslimischer Denker an westlicher Kritik und damit als wichtiger Moment in der Herausbildung des modernen Islam. Dabei betont sie folgende Gedanken:

Die muslimischen Denker waren hinter ihren westlichen Gegnern nicht in irgendeiner Weise zurückgeblieben, sondern standen ihnen auf Augenhöhe gegenüber. Sie kannten den Westen oft besser als ihre Dialogpartner die islamischen Gesellschaften. Sie waren wie diese Bestandteile einer „globalen Moderne“, wie sie im 19. Jahrhundert im Ergebnis der europäischen Expansion und der Auseinandersetzung mit ihr entstand. Allerdings fand die Debatte vor dem Hintergrund eines realen Machtgefälles statt, das ihr seinen Stempel aufdrückte und bei vielen Muslimen „Abgrenzung, Verteidigung, Apologetik und polemische Abwertung“ (S. 122) hervorrief. Obwohl die muslimischen Intellektuellen integraler Bestandteil der Moderne waren, wurden sie und ihre Weltregion von den sich überlegen dünkenden Europäern aus ihr „herausgeschrieben“ (S. 8) und in das „Vorzimmer der Geschichte“ (S. 18f.) verbannt.

Die Debatte ist seitdem weitergegangen. Denkfiguren wie die von Renan finden sich auch heute allenthalben im westlichen Diskurs, und auch bei den Muslimen haben sich Apologetik, Verkrampfung und polemische Reaktion gehalten und oft so weit zugespitzt, dass der Islam „in vielem dem Bild ähnelt, das Renan von ihm hatte“ (S. 124). Das muss aber nicht das letzte Wort bleiben. Birgit Schäbler plädiert nachdrücklich dafür, die globale Moderne als solche, das heißt als umfassend, zu erkennen, die Muslime aus dem Vorzimmer der Geschichte herauszuholen, ihre Abwertung zu überwinden und den Islam in seinen realen Dimensionen zu sehen, was auch heißt, ihn jetzt nicht umgekehrt zu idealisieren. Ein sehr willkommenes und zeitgemäßes Plädoyer!

Und Maxime Rodinson? Wie beantwortet er die Frage nach dem progressiven bzw. reaktionären Charakter des Islam? Er erklärt sie für falsch gestellt. Der Islam, sagt er, bietet von seinen Grundlagen her Anschlussmöglichkeiten für ein breites Spektrum von Haltungen und Handlungsoptionen: progressive, reaktionäre, gewaltsame, friedliche usw. Es ist an den Muslimen, hier eine Wahl zu treffen, und sie werden das immer gemäß dem tun, was sie für ihre besten Interessen halten. Um sich hier für rationale und humane Optionen zu entscheiden, brauchen sie die Zuversicht, einen Platz in der Welt zu haben. Wer sie bzw. den Islam real oder intellektuell marginalisiert, nimmt solchen Optionen die Grundlage.

Anmerkung:
1 Maxime Rodinson, L’Islam, doctrine de progrès ou de reaction? In: ders., Marxisme et monde musulman, Paris: Seuil 1972, 95–129.
2 Ernest Renan, bei Schäbler S. 134.
3 Ebd., S. 154.