J. Paulmann: Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube

Cover
Titel
Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850–1914


Autor(en)
Paulmann, Johannes
Reihe
C.H. Beck Geschichte Europas
Erschienen
München 2019: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
486 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Goebel, Graduate Institute Geneva

Mit diesem Band zum Zeitraum zwischen 1850 und 1914 vervollständigt Johannes Paulmann, Direktor des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, C.H. Becks „Geschichte Europas“ für die gesamte Neuzeit. Der 1914 gebrochene Fortschrittsglaube und die gelegentlich beängstigende Erfahrung globaler Interdependenz, die er darin beschreibt, dominieren den Grundton seines Buches, haben aber in Zeiten von Corona auch einen erheblichen Wiedererkennungswert.

Wie bei anderen mehrbändigen Überblicksdarstellungen besteht auch für Paulmann die zentrale Aufgabe im Aufspüren der richtigen Balance zwischen Rahmenvorgaben und eigenem gestalterischem Spielraum. Um eine eingehende Rechtfertigung der vermutlich angeordneten Periodisierung etwa, die sich wohl eher aus Kosellecks Sattelzeit – also der Vorgängerepoche – als aus der Einheitlichkeit der Periode von 1850 bis 1914 erschließt, bemüht er sich vernünftigerweise erst gar nicht. Abgesehen vom nicht ganz gelungenen Anfangsversuch, sich der Größe Europa über eine etwas unhandliche und heterogene Beschreibung von Meerengen zu nähern (S. 11–37), sieht Paulmann dankenswerter Weise auch von ermüdenden Grundsatzdiskussionen ab, ob Europa denn eine für ein solches Buch sinnstiftende Einheit besessen habe. Der Verlag hat es ja bereits dekretiert. Stattdessen vertraut er zurecht auf die induktive Kraft seiner darstellerischen Souveränität und auf die Kohärenz des Gesamtbildes, die sich aus seiner diskreten, aber argumentativ entscheidenden Kombination von Themenbereichen und Perspektiven ergibt.

Während Paulmann somit den Auftrag eines für ein breites Publikum zugänglichen (und mit 19,95 Euro auch erschwinglichen) Überblicks ohne aufdringliche These erfüllt, vermag er durch subtile Akzentsetzung zugleich eine historiografische Intervention zu liefern. Der programmatische Titel, der sich nicht besser hätte versinnbildlichen lassen als im Umschlagsbild des entstehenden Eiffelturms, gibt den Ton an: Mehr als bei vergleichbaren früheren Werken geht es in diesem Buch um Europas Rolle in der Welt, um den imperialen Ausgriff und seine Rückwirkungen auf das europäische Selbstverständnis. Robert Koch etwa erscheint nicht ausschließlich als ein deutscher oder europäischer Forscher, sondern als jemand, der seine epidemiologischen Einsichten aus einem „Imperien übergreifenden Forschungsraum“ (S. 291–292) ableitete. Trotz der zahlreichen globalgeschichtlichen Anleihen kommt Paulmann dabei indes sein Werdegang als genuiner Historiker Europas zugute. Seine tiefe Sachkenntnis der Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte vor allem Deutschlands und Großbritanniens bildet ein gesundes Korrektiv gegenüber der Versuchung einer gebetsmühlenartigen Wiederholung der Aussage, dass der Kolonialismus die europäische Geschichte geprägt habe. Paulmann verabreicht seine Kernargumente in wohltuend zurückhaltender Dosierung.

Statt sein Material, wie früher üblich, nach einzelnen Nationalstaaten oder supranationalen Regionen zu gliedern, unterteilt der Autor sein Buch in vier große Themenblöcke: Gesellschaft, Kultur, Staatlichkeit und zwischenstaatliche beziehungsweise imperiale Beziehungen. Obschon Deutschland, Frankreich und Großbritannien am meisten Beachtung zukommt und die illustrativen Beispiele bestimmter Thesen oft auf deutschsprachiger Forschung fußen, widmet Paulmann auch den Peripherien die gebührende Aufmerksamkeit. Er wechselt dabei reibungslos zwischen verschiedenen nationalstaatlichen sowie sub- und supranationalen regionalen Ebenen, geht vielfach verflechtungsgeschichtlich, noch häufiger aber vergleichend vor. Der darstellerische und letztlich argumentative Clou ergibt sich indes aus der treffsicheren, aber unaufdringlichen, Verschränkung verschiedener Themenbereiche in den Unterkapiteln. Ganz besonders gelungen sind etwa die Diskussionen zum Zusammenhang zwischen Industriekapitalismus, Arbeit und Konsum (S. 121–130) und zur Verzahnung der „Ressourcen der Ordnung“: Verwaltung, Finanzen und Staatsgewalt (S. 315–328).

Freilich beleuchtet ein solcher Zugriff bestimmte Aspekte der Epoche mehr als andere. Einerseits etwa zieht sich der titelgebende Fortschrittsglaube wie ein roter Faden durch das Buch. Besonders deutlich tritt er in den Passagen zur Wissenschaft (S. 230–257) zutage. Migrationsbewegungen – behandelt in einem langen, erkennbar von den Schriften Dirk Hoerders geprägten Unterkapitel – interpretiert Paulmann ebenso im Zeichen „des in seinen Wirkungen ambivalenten Fortschritts“ (S. 90). Auch der allgegenwärtigen zeitgenössischen Erfahrung der Beschleunigung und des schwindelerregenden Wandels kommt hinreichend Aufmerksamkeit zu, insbesondere in den Abschnitten zur Urbanisierung (S. 130–159). Andererseits verstellt die ausnahmslos thematische Vorgehensweise der ersten beiden Großkapitel den Blick auf die Chronologie gesellschaftlicher und kultureller Umbrüche innerhalb der behandelten Epoche. Das letzte Großkapitel, „Frieden und Krieg“, korrigiert diesen Eindruck dann aber wiederum durch eine stärker an der Zeitachse ausgerichtete Gliederung. Es gipfelt in der einleuchtenden Synthese, dass der Erste Weltkrieg „zugleich vermeidbar und wahrscheinlich“ gewesen sei (S. 445).

Auch einem weiteren potenziellen Problem seiner Grundausrichtung kommt Paulmann letztlich überzeugend bei. In ihrer Kombination bergen die überwiegend thematische Orientierung des Buches und der gleichzeitige Anspruch, stets alle europäischen Länder sowie die überseeischen Kolonialreiche und die white dominions in die Analyse einzubeziehen, das Risiko, Kernaussagen in einer Vielzahl von Beispielen und Exkursen zu verwässern. In seltenen Fällen erliegt die Darstellung dieser Gefahr, zum Beispiel in einem plötzlichen Ausflug von nahezu einer Seite zum Phänomen des white labourism in Südafrika (S. 127), dessen Beitrag zum übergeordneten Thema industrieller Lohnarbeit in Europa nicht vollends klar werden mag. Zumeist aber platziert Paulmann derartige Exkurse, um eine übergeordnete These zu erhellen. Wenn er etwa auf der Grundlage von Ulrike von Hirschhausens Monografie1 über drei Seiten die Überlappungen zwischen ethnischer Herkunft und Schichtzugehörigkeit im lettischen Riga referiert, untermauert das Beispiel ein übergeordnetes Argument: dass „Ethnizität als strukturierendes Merkmal“ noch viel mehr als üblicherweise angenommen „eine europäische Erscheinung“ darstellte (S. 168–169).

Johannes Paulmann hat daher nicht nur ein sehr gelehrtes, lehrreiches und faktengesättigtes Buch für ein breites Publikum geschrieben. Er erfüllt auch den Wunsch nach einem für Fachleute bedenkenswerten Epochenentwurf. Indem er ein von globaler Vorherrschaft, aber auch globaler Interdependenz, geprägtes Europa nachzeichnet, rücken Themenbereiche, die in herkömmlichen Geschichten des Kontinents nur eine Nebenrolle spielten, stärker in den Vordergrund. Besonders deutlich wird dies bei Ethnizität und „Rasse“, einem Bereich, dem Paulmann immer wieder auch eigene Abschnitte widmet (z.B. S. 195–200). Für absehbare Zeit wird es dieses Buch bleiben, zu dem Leserinnen und Leser greifen sollten, wenn sie sich für eine elegante, eingängige, präzise und nuancierte Geschichte Europas im Zeitalter der ersten Globalisierung interessieren, die zugleich umsichtig und kenntnisreich den neuesten Forschungsstand berücksichtigt.

Anmerkung:
1 Ulrike von Hirschhausen, Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914, Göttingen 2006.