Cover
Titel
Threads of Empire. Loyalty and Tsarist Authority in Bashkiria, 1552–1917


Autor(en)
Steinwedel, Charles
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 382 S.
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Hausmann, München

Um die Erforschung von modernen Nationen und von Nationalismus ist es in den letzten Jahren in der historischen Forschung merklich stiller geworden, zumindest im Vergleich zu den 1990er- und 2000er-Jahren, als die konstruktivistische Wende und eine aktuelle politische Bedeutung dem Thema einen erkennbaren Auftrieb verliehen hatten. Zum Teil verlagerte sich das Interesse auf die historische Imperienforschung, deren Aufschwung in den letzten Jahren aber ebenfalls nachgelassen hat. Für die osteuropäische Geschichte sind beide Themenfelder wichtig gewesen und bis heute relevant, mit Bezug auf das Zarenreich und die Sowjetunion, aber auch die Habsburgermonarchie und das Osmanische Reich. In einigen Teilbereichen wie der Erforschung politischer, kultureller und wirtschaftlicher Eliten, von Religionen und anderen Zivilisierungsmissionen oder der Frage nach Kolonialismus und regionalen und globalgeschichtlichen Transfers und Verflechtungen hat sich das Interesse bis heute erhalten. Zu fundamentalen Kontroversen hat das allerdings in den letzten Jahren für das Zarenreich und die Sowjetunion nicht geführt. Die angesprochenen Themenkonjunkturen bedeuten selbstverständlich nicht, dass der Forschungsstand als ausreichend beurteilt werden kann. Auch aktivieren aktuelle Bezüge wie der russisch-ukrainische Konflikt das Nachdenken über historische Hintergründe.

Die Monographie von Charles Steinwedel über die Baschkiren, eine turksprachige und bis ins 19. Jahrhundert weitgehend halbnomadische Bevölkerungsgruppe islamischen Glaubens, die östlich der Wolga und südöstlich der Kama lebte, lässt sich in diesen allgemeineren Forschungskontext einordnen. Es handelt sich um eine gut strukturierte Studie, die in sieben chronologisch und thematisch angelegten Kapiteln die Geschichte der Baschkiren von ihrer Eroberung durch den Moskauer Staat bis hin zum Kollaps der zarischen Ordnung im Jahr 1917 darstellt. Steinwedel gelingt es dabei, die Geschichte der Baschkiren von den Geschichten der benachbarten sesshaften Wolgatataren (oder Kazantataren) und der nomadisierenden Kasachen abzugrenzen, aber auch die nötige Binnendifferenzierung vorzunehmen, indem er zum Beispiel die Subgruppen der Meščerjaken / Mischären, Teptjaren und Bobylen einbezieht, deren genaue Bestimmung seit dem 19. Jahrhundert in der Forschung umstritten ist. So öffnet er in jedem Kapitel einen breiten Fächer, der vom Lokalen („this book […] emphasizes the local“ S. 8) ausgeht und die gewonnenen Erkenntnisse jeweils abschließend in die Geschichte der südlichen Grenzregion („borderland“ S. 9) Russlands, die Geschichte Russlands als Imperium und in die Globalgeschichte der Imperien einordnet. Die im Titel genannten Begriffe Loyalität und zarische Autorität verweisen darauf, dass die verschiedenen Kapitel Governanceaspekte und die Frage nach der Herausbildung einer loyalen regionalen imperialen Elite verknüpfen. So kann Steinwedel vor dem Hintergrund der Imperienforschung der letzten drei Jahrzehnte mit dem vorliegenden Buch einen eigenen substantiellen Beitrag zur Geschichte des Zarenreiches vorlegen.

Das erste Kapitel handelt auf 24 Seiten die fast zwei Jahrhunderte nach der Eroberung durch den Moskauer Zaren in den 1550er-Jahren ab. Die Eroberung wird angesichts der baschkirischen militärischen Schwäche und im Unterschied zur vorangegangenen gewaltsamen Eroberung von Kazan und des Kazaner Khanates durch Moskau als eine eher friedliche und aus Sicht der baschkirischen Clanältesten alternativlose Aushandlung beschrieben, die im Eid auf den Zaren mündete. Das Kapitel betont insgesamt, dass der Moskauer Zar in vielerlei Hinsicht die Politik vorangegangener Herrschaften des Khanates Kiptschak und der Kazaner, Sibirischen und Nogajer Khanate fortsetzte. Die baschkirischen Halbnomaden behielten gegen relativ geringe Tributzahlung und militärischen Dienst das Recht, ihr Land kollektiv und erblich zu nutzen, durften es nicht an Nichtbaschkiren verkaufen und wurden so ein eigener Stand. Versuche, das kollektive Recht auf das Land einzuschränken, führten in den Jahren 1662–64 zu gewaltsamem Widerstand, der schließlich die Bestätigung des Vorrechts durch Moskau erzwang. Der Moskauer Staat war vor Ort kaum präsent, die Zahl der Garnisonen blieb auch im 17. Jahrhundert begrenzt, die Ausübung des islamischen Glaubens wurde nicht eingeschränkt. Steinwedel betont so eine Deutung der Moskauer Politik der Nichteinmischung bei Beachtung der Moskauer Oberherrschaft, ohne sich aber explizit mit der deutlich kritischeren Deutung zarischer Herrschaft an der südlichen frontier durch Michael Khodarkovsky auseinander zu setzen (die nicht auf die Baschkiren bezogen ist). Das zweite Kapitel stellt detaillierter dar, wie im 18. Jahrhundert der Staatsausbau mit seinem Homogenisierungsanspruch diese Traditionen und Rechte angriff und abermals Widerstand hervorrief, vor allem im Zusammenhang mit der Gründung von Orenburg 1734 und dann erneut im Pugačev-Aufstand 1773–1775. Steinwedel stellt die neue regionale Verwaltungselite des petrinischen Staates vor, in der Forschung bekannte Anhänger und Gestalter der neuen „europäischen“ Ordnung wie Kirilov, Tatiščev, Nepliuev, Ryčkov oder Volkov. Er zeigt plastisch, wie der traditionelle kollektive Erbbesitz an Land durch Landverkauf seit 1730 und durch Landvergabe seit 1740 erodierte, der Staat durch die von ihm bestätigte Wahl von Ältesten, durch Garnisonsgründungen sowie eine Salzsteuer ab 1754 (die die Tributzahlungen ersetzte) die Lebensweise der von der europäisierten Elite als „Halbwilde“ angesehenen Baschkiren bedrohte. Gewalt kennzeichnete mehr als in den Kolonien der anderen europäischen Mächte Russlands Politik gegenüber den Baschkiren im 18. Jahrhundert. Der sukzessive Aufbau einer funktionierenden Verwaltung und effektiver Herrschaft kennzeichnete dann nach Steinwedel die weitere zarische Politik bis Mitte des 19. Jahrhunderts (Kapitel 3). Der Autor zeigt das etwa in seiner klaren Darstellung neuer Verwaltungseinheiten und der 1789 eingesetzten Orenburger Muslimischen Geistlichen Versammlung, die das religiöse Leben der Baschkiren kontrollieren sollte. Die Politik der weiteren Integration durch Verwaltung und begrenzte Partizipationsmöglichkeiten zeigte sich auch in der Einführung der Großen Reformen in den 1860er- und 1870er-Jahren (Kapitel 4, die ländliche Selbstverwaltung aber nur im Gouvernement Ufa und erst 1913 im benachbarten Gouvernement Orenburg). Steinwedel führt hier sowohl Beispiele für erfolgreichen Aufstieg an (Mufti Salim-Girei Tevkelev), macht aber auch auf Verarmungsprozesse der baschkirischen ländlichen Bevölkerung, auf Widerstand gegen den Militärdienst und im folgenden Kapitel 5 auf verbreitete Dysfunktionalitäten der neu eingeführten Institutionen aufmerksam. Weniger die Religionspolitik – Ende des 19. Jahrhunderts wurde sowohl das orthodoxe als auch das muslimische religiöse Leben gefördert – als der Bau der Eisenbahn von Samara nach Ufa führten zu Migrationsprozessen und förderten die weitere Sesshaftwerdung und die Verdrängung der halbnomadischen Lebensweise der Baschkiren in die östlichen und südlichen Randgebiete (S. 171). Die Revolution von 1905 (Kapitel 6) beschreibt Steinwedel als ein urbanes Ereignis, das die immigrierte russische Bevölkerung weit stärker als die ländliche baschkirische Bevölkerung erfasste, aber in den Dumawahlen von 1906 und 1907 auch zu einer baschkirischen politischen Mobilisierung führte, die er als neue Form der Loyalität und Integration in das politische System des Zarenstaates interpretiert. Das letzte Kapitel über die Jahre bis zum Ende zarischer Herrschaft im Jahr 1917 relativiert diese Deutung allerdings wieder etwas, indem es die Ausdifferenzierung des politischen Lebens betont und hier bei der baschkirischen wie der anderen Bevölkerung vor allem auf unterschiedliche nationale Orientierungen und auf Bildungskonzepte mit patriotischer Ausrichtung hinweist. Ob sich wirklich vom Aufkommen eines „baschkirischen Nationalismus“ (S. 218) zwischen den Revolutionen 1905 und 1917 sprechen lässt, bleibt wohl angesichts der Kürze der entsprechenden Darstellung (zweieinhalb Seiten) eine offene Frage.

Die Monographie basiert weitgehend auf veröffentlichten Quellenpublikationen. Zum 19. und frühen 20. Jahrhundert hat der Autor auch stärker auf Archivalien aus Regionalarchiven sowie dem Russländischen Staatlichen Historischen Archiv in St. Petersburg zurückgegriffen. Außerdem hat Steinwedel für diese Zeitepoche auch Zeitschriften und Tageszeitungen ausgewertet. Die englisch- und russischsprachige Forschungsliteratur wird breit verarbeitet, vor allem die Arbeiten von Brian J. Boeck, Robert Crews, Michael Khodarkovsky, Willard Sunderland und Paul W. Werth, die deutsch- und französischsprachige Literatur (und die Forschung in weiteren Sprachen) dagegen nicht. Das hat durchaus Nachteile, denn Loyalität und der Loyalitätsbegriff werden zum Beispiel recht allgemein gefasst, zur Vertiefung, näheren Bestimmung und historischen Einordnung wäre die Einbeziehung entsprechender Veröffentlichungen von Martin Schulze Wessel nützlich gewesen. Eine mutigere theoretische oder konzeptionelle Ausrichtung hätte der Monographie insgesamt gutgetan, ohne dass notwendigerweise eine Theorielastigkeit die Folge gewesen wäre. So diskutiert Steinwedel zwar in der Zusammenfassung einiger Kapitel vergleichend die britische und die französische Kolonialpolitik, mogelt sich aber für das Zarenreich um eine Aussage herum, sondern schreibt: „By the 1860s, Bashkiria was not considered a colony in the way Algeria was“ (S. 146). Mit der Ausrichtung der Monographie auf Fragen von Loyalität und Integration in den Zarenstaat verbunden ist zudem eine Tendenz, Personen und Prozesse zu betonen, die beides exemplifizierten, während Fragen nach Separierung und kultureller Eigenständigkeit etwas nachgeordnet erscheinen. Allerdings hat Steinwedel keine Geschichte der Baschkiren geschrieben, sondern eine Geschichte von Loyalität und zarischer Autorität am Beispiel der Baschkiren. Diese Geschichte hätte durch mutigere Forschungsthesen noch gewonnen. Insgesamt hat Steinwedel die Geschichte der Baschkiren über den langen Zeitraum von mehr als dreieinhalb Jahrhunderten aber sehr kenntnisreich in die Geschichte Russlands als Imperium eingeordnet und mit seinem Buch einen substantiellen Beitrag zur Imperialgeschichte Russlands vorgelegt, der besonders unsere Kenntnisse über die südliche frontier des Zarenreiches deutlich erweitert.

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