Cover
Titel
Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945


Herausgeber
Frei, Norbert
Erschienen
Frankfurt/M. u.a. 2001: Campus Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 25,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit", Universität Tübingen

So reißerisch der Titel „Karrieren im Zwielicht“ klingt – er ist wohl der gleichnamigen ARD-Serie geschuldet, die dieser Band begleiten soll - so wenig umstritten ist doch der Inhalt des Buches: es hat nach 1945 eine Kontinuität der Funktionseliten gegeben. Viele bereits im Dritten Reich einflußreiche Mediziner, Unternehmer, Journalisten, Offiziere und Juristen konnten ihre einflußreiche gesellschaftliche Position nach einer „Schamfrist“ wieder einnehmen. Brisant daran ist der Pakt mit der Politik: für das Schweigen über die Vergangenheit konnten die demokratischen Politiker mit vorbehaltloser Unterstützung ihrer Ziele rechnen. Der Sammelband von Norbert Frei nennt dafür die Rahmen– und Vorbedingungen und ist damit eine Erweiterung seines Buches „Vergangenheitspolitik“.

Es ist ungewöhnlich, daß die ARD sich für einen Begleitband zu ihrer Sendereihe erstmals einen namhaften Historiker als Autor erkoren hat. Ein ausgesprochen gutes Zeichen, vergleicht man es mit den platten Statements verschiedenster Zeitzeugen, die von einem wenig kompetenten Redakteur noch für den Begleitband der ARD-Reihe „Soldaten für Hitler“ 1998 aneinandergereiht wurden. Man darf also für die Zukunft auf Qualitätssteigerung bei dem obligatorisch gewordenen Begleitband zur Serie hoffen. Die eher angelsächsische Darstellung mit möglichst wenig Fußnoten, aber auf höchstem wissenschaftlichem Niveau, ist dem anvisierten Leserkreis zu verdanken. Lediglich das Layout des Bandes hätte man sich dezenter gewünscht, da es die durchweg sehr komplexen Beiträge durch Einschübe zerreißt und dadurch den Lesefluß stört.

Frei versammelt in seinem Buch, und das ist ein großer Verdienst, durchweg junge Historiker, die durch ihre Examensarbeiten ausgewiesene Spezialisten für die von ihnen vorgestellten Problemkreise sind. Es ist wohl kein Zufall, daß das Thema „Kontinuität der Eliten“ von der 1989-Generation jetzt noch einmal aufgegriffen wird. Ohne die mit der Aufdeckung der skandalösen „Karrieren im Zwielicht“ 1968 verbundenen Forderungen, befreit von den Protagonisten und deren Mitwissern, zeigen sich die komplizierten gesellschaftlichen Wechselwirkungen der 50er und 60er Jahre im größeren zeitlichen Abstand noch klarer, wenn auch der bittere Nachgeschmack über manch unglaubliche Karriere noch derselbe ist.

Frei selbst arbeitet in eingeschobenen Essays die gemeinsamen Punkte heraus. Er betont, daß die Nürnberger Prozesse eine „klare normative Abgrenzung (darstellten), hinter die es ein Zurück nicht mehr gab“ (S. 309), auch wenn ein Nebeneffekt die Solidarisierung mit vermeintlichen „Leidensgenossen“ war. Die Bundesrepublik fußte eindeutig auf einem anti-nationalsozialistischen Gründungskonsens. Wer seine „gewandelten Überzeugungen“ nun demonstrativ zur Schau stellte, durfte auf den Pardon der Gesellschaft hoffen, die bereit war, über individuelle „Verstrickungen“ hinwegzusehen (S. 179). Gründungsriten erleichterten den Einstieg: was für die Unternehmerschaft das Wirtschaftwunder war, waren für die Offiziere die Rehabilitierung der Kriegsverbrecher in den 50er Jahren.

Tobias Freimüller schildert in seinem Portrait der Ärzteschaft eindrücklich die schleichende Entwicklung von Eugenik und Rassenhygiene bis zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Auch wenn Freimüller klarstellt, daß sich nur wenige Mediziner persönlich die Hände schmutzig gemacht hatten, bleibt doch die beklemmende Frage ungeklärt, an welchem Punkt auch der „kleine Hausarzt“ „die Grenze zwischen Heilen und Töten überschritten“ hatte (S. 16). Neun Prozent der Mediziner haben ihre Ausbildung an SS-Krankenhäusern gemacht und hatten Gelegenheit, Praxiserfahrung zu sammeln an menschlichem Untersuchungsmaterial aus den Vernichtungslagern oder, im Extremfall, als Arzt an der Rampe. Gerade der Blick Freimüllers auf das Klima, in welchem Mediziner vor 1945 ausgebildet wurden, forschten oder lehrten, ist mit Verweis auf Nachkriegskarrieren besonders beklemmend, hält man sich vor Augen, daß beispielsweise die medizinischen Fakultät in Hamburg nach 1950 derart viele Eugeniker weiterbeschäftigte, daß man „in Sachen rassenhygienischer Potenz“ auf gutem Wege war, den Lehrkörper der Nazizeit „bei weitem“ zu übertreffen (S. 32). Die Frage, wie ausgewiesene Experten und anerkannte Wissenschaftler zu Verbrechern werden konnten, bleibt ein Forschungsfeld.

Auch die Unternehmer hofften auf das Wohlwollen der Alliierten, so Tim Schanetzky. Doch die meisten Spitzenmanager wurden 1945 interniert, die deutschen Konzerne und Banken sollten zerstückelt werden. Die insgesamt drei Nürnberger Prozesse gegen Industrieunternehmen (Flick, Krupp und IG-Farben) trugen dazu bei, die Unsicherheit zu erhöhen, da die Auswahl der Angeklagten willkürlich blieb (S. 84). Es gelang nicht, das Weltbild der Manager zu erschüttern, aber eine deutliche Irritation war über Jahre hinaus spürbar. Darüber hinaus begünstigte gerade die Internierung der gesamten wirtschaftlichen Führungsschicht den Aufstieg der zweiten Garde, die ausschließlich in der NS-Zeit ausgebildet worden war, wobei Schanetzky darauf verweist, daß die Frage nach der personellen Kontinuität zu kurz greift, da sich eine Unternehmermentalität in längeren Zeiträumen herausbildet (S. 125).

Die „Ankunft in der Republik“ wurde vielen Unternehmern durch einen „vergangenheitspolitischen Gründungskonsens“ erleichtert, der belastete Biographien ebenso wie dunkle Flecken in den Firmengeschichten einfach ausblendete. Als dieser Konsens Mitte der 80er Jahre bröckelte, sahen sich die Konzerne plötzlich dem geballten Interesse der Öffentlichkeit ausgesetzt, wenn beispielsweise die ehemaligen Zwangsarbeiter die Aktionärsversammlungen von Nachfolgeunternehmen der IG Farben mit der Forderung nach Entschädigung unterbrachen. Die späte Entschädigung verriet markttechnisches Kalkül, da von den angedrohten US-amerikanischen Sammelklagen ein Gefährdungspotential für den Export-Absatz ausging. Schanetzky schließt mit dem Verweis auf das Beispiel Berthold Beitz, der in den 50er Jahren als Generalbevollmächtigter bei Krupp über seine Juden-Rettungsaktionen geschwiegen hatte. Hier zeigte sich der wahre Zynismus des Schweigekartells: wo keiner Schuld hatte, durfte es auch Widerstand nicht gegeben haben.

Unter den wohl ungünstigsten Vorzeichen marschierte die dritte Berufsgruppe in die Nachkriegszeit, die der Offiziere. Jens Scholten beleuchtet in seinem Beitrag über diese „im Geiste unbesiegte“ Gruppe den steinigen Weg aus den Internierungslagern der Alliierten 1945 in die neuen Kasernen. Alles Militärische war, so schien es nach der kompletten Niederlage, auf Jahre hinaus diskreditiert, die Berufsoffiziere sozial deklassiert. Dazu hatten besonders die Nürnberger Prozesse beigetragen, die einer breiten Bevölkerungsmehrheit deutlich vor Augen geführt hatten, daß Hitlers Wehrmacht an der Planung und Durchführung eines Angriffskrieges beteiligt war. Trotzdem setzte sich die Meinung durch, die Wehrmacht sei mißbraucht worden, und im Kern „anständig“ geblieben (S. 134). Immer lauter wurden ab 1951 die Forderungen nach einem „Schlußstrich“ unter das alliierte Prozeßprogramm. Adenauer selbst gab schließlich 1951 durch seine „Ehrenerklärung“, die Zahl der „wirklichen Verbrecher“ in der Armee sei „außerordentlich klein“ gewesen, dem Topos vom „Kriegsverbrechen als bloßer Randerscheinung im Massenheer“ seinen quasi amtlichen Segen (S. 147). Gerade bei dieser Frage, wie Politiker, Juristen und Kirchenvertreter Adenauer schließlich drängten, das Militär in das Kalkül seiner Politik der Westintegration mit einzubeziehen, hätte in der Analyse das Zweckbündnis jedoch wesentlich stärker betont werden können. Das Ende des Beschweigens kam erst 1995 mit der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1945“.

Die wohl unbehaglichsten Eindrücke hinterläßt erwartungsgemäß das Kapitel über die „Richter in eigener Sache“ von Marc von Miquel, der urteilt: „Unter all den Defiziten bei der Ahndung von NS-Verbrechen waren die Freisprüche für die NS-Juristen der größte Skandal.“ (S. 197). Richter und Staatsanwälte begünstigten hier die Täter aus ihrem eigenen Berufsstand und waren „kollektiv befangen“. Es wird deutlich, wie tief die Justizverbrechen den gesamten Berufsstand in Mitleidenschaft gezogen und korrumpiert hatten. So wurde die Gründung des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe 1950 ausdrücklich als „institutionelle Neugründung des Reichsgerichtshofs“ gefeiert. Die NS-Prozesse der Bundesrepublik fanden nur mäßiges Interesse, was es den Richtern erleichterte, Ermittlungen zu verschleppen und Verfahren einzustellen. Einzige Ausnahme stellte der Frankfurter Auschwitz-Prozeß dar, der die deutsche Öffentlichkeit für das Thema Judenvernichtung sensibilisierte. Doch der Großteil der Bevölkerung votierte für einen Schlußstrich. Als es 1965 darum ging, die Verjährung von NS-Straftaten zu beschließen, regte sich kaum Protest, bis der konservative Rechtspolitiker Ernst Benda sich zum Motor der Verjährungsdebatte machte und die Frist schließlich aufgehoben wurde.

Zwar haben sich die Juristen am hartnäckigsten der Säuberung widersetzt und damit in vielen Fällen Erfolg gehabt, mußten jedoch einen ungeheuren Imageverfall hinnehmen. Sie gelten noch heute zu Recht als diejenige Berufsgruppe, „die in der Bundesrepublik die größte personelle Kontinuität aufwies und das größte Kontingent nicht bestrafter Täter stellte“ (S. 235).

Mathias Weiß schließlich beleuchtet die Gruppe der Journalisten. Im Falle der personalpolitischen Kontinuität der Journalisten kann tatsächlich von einem frühen, wenn auch karrieretechnisch motivierten Bekenntnis für die Republik gesprochen werden, in der der Einsatz für demokratische Grundwerte so etwas wie „persönliche Wiedergutmachung“ ehemaliger Täter darstellte.

Die Lizenzpolitik hatte eine starke und unabhängige Presse geschaffen. Auch inhaltlich gaben die Alliierten einen „objektiven“ Journalismus vor, so daß der Goebbelsche Pathos verflog. Bald schon erkannten die ersten, welche Machtfülle ihnen gegeben war. Ohne im Einzelfall ein persönliches Interesse daran gehabt zu haben, gelang eine Mobilisierung der Öffentlichkeit gegen die Politik der Säuberungen. Der Druck, der dadurch auf die Regierung Adenauer ausgelöst wurde, war beträchtlich. So blieb dank der Presse „den Deutschen einerseits die Jahre der alliierten Besatzung – neben den letzten Kriegsjahren – als die „schlimme Zeit“ in Erinnerung, während „die Zäsur zum Nationalsozialismus ... ‚verkraftbar’ ausfiel“ (S. 260f).

Das Kontinuitätsproblem, so Frei, habe sich bei den beiden Staatsgründungen in ein „Betriebsgeheimnis“ verwandelt, von dem nicht mehr gesprochen wurde (S. 303). Gleichzeitig wurde die Einsicht in die Tatsache verschleiert, daß sich der Nationalsozialismus jahrelang nicht auf Ausübung von Terror, sondern im Gegenteil auf breiteste Zustimmung stützen konnte, die unmöglich 1945 rückstandslos enden konnte. Trotz aller berechtigter Kritik bilanziert Frei: „Eine Minderheit (der untersuchten Generation) wuchs zu wahrer Liberalität heran, eine Mehrheit immerhin im Lauf der Zeit zu passablen Demokraten.“ (S. 335)

Überzeugend ist Freis Antwort auf eine der Kernfragen, wie eine Gesellschaft mit dieser Hypothek aus belasteten Volksgenossen umgehen kann: so willig Hitlers Helfer das Dritte Reich getragen hatten, so eindeutig trugen sie jetzt, zumindest nach außen hin, die Demokratie. „Erst angesichts (der)... hohen Bindekraft nationalsozialistischer Propaganda und Politik offenbart sich das eigentliche ‚Wunder’ der Nachkriegszeit: Die zeitweilige Ausschließung der nationalsozialistischen Funktionsträger aus dem öffentlichen Leben hatte dazu beigetragen, nazistische Ideen so weitgehend zu ächten, daß selbst die spätere Rückkehr der ‚Ehemaligen’ die äußere Stabilität der bundesdeutschen Demokratie nicht mehr gefährdete.“ (S. 129)

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