S. Cavazza u.a. (Hrsg.): Massenparteien im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Massenparteien im 20. Jahrhundert. Christ- und Sozialdemokraten, Kommunisten und Faschisten in Deutschland und Italien


Herausgeber
Cavazza, Stefano; Großbölting, Thomas; Jansen, Christian
Reihe
Aurora – Schriften der Villa Vigoni 5
Erschienen
Stuttgart 2018: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Christiane Gatzka, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Über die Systemgrenzen von Monarchie, Demokratie und Diktatur hinweg strukturierten Parteien – als Massen- oder Mitgliederparteien in Abgrenzung zu Honoratiorenparteien – den politischen Massenmarkt des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa und den USA. Ihre hegemoniale Stellung im politischen Willensbildungsprozess und Partizipationsgeschehen haben sie bis heute nicht verloren, wenngleich sie aktuell umstrittener erscheinen denn je. Daher ist es zu begrüßen, dass die historische Forschung mit der (Massen-)Partei eine auch von der Soziologie eher vernachlässigte politische Institution (beziehungsweise: Organisation) neu in den Blick nimmt.1 Der Sammelband „Massenparteien im 20. Jahrhundert“, hervorgegangen aus deutsch-italienischen Workshops in der Universität Münster und der Villa Vigoni, versucht eine systematische Annäherung mit transnationaler Perspektive (S. 13). Dass sich deutsche und italienische Historikerinnen und Historiker den Massenparteien zuwenden, scheint kein Zufall zu sein, können Deutschland und Italien hier doch in mancher Hinsicht als historische Trendsetter gelten – zum Teil in gegenseitiger Beobachtung. Allerdings wagen die empirischen Beiträge des Bandes weder den transnationalen Vergleich noch die Suche nach Transferprozessen. Meist befassen sie sich nur mit einer einzelnen Partei im vorrangig nationalen Kontext.

Den seit den 1970er-Jahren nicht abflauenden Debatten um die vermeintliche Krise der Parteiendemokratie stellen die Herausgeber in ihrer Einleitung geradezu programmatisch die These der (Mitglieder-)Partei als „Erfolgsmodell“ entgegen. Dafür spreche bereits ihre „lange Wirkungsdauer“ (S. 10). Angesichts der nicht weniger langen Geschichte der Kritik an Parteien, zu der auch die Geschichte der (neuen) sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts gehört, hätte man sich noch einige systematische Argumente für diese starke These gewünscht. Dazu könnte man in Paolo Pombenis Beitrag fündig werden, der den Erfolg des Modells „Partei“ auf die politischen Ordnungskonzeptionen der Zeit (und nicht zuletzt auf die Verfassungen) nach 1945 zurückführt. Das Gros der Beiträge, die chronologisch in drei Teile gegliedert sind (1890–1930, 1920–1945, 1945–1995), fasst das bisherige Wissen zur sozialen Basis und inneren Flügelbildung, zu den Statuten, Parteitagen und Führungsentscheidungen zusammen. Auf diese Weise dient der Band Einsteigern in das Forschungsfeld zum raschen Überblick der Geschichte von SPD und CDU, Partito Socialista Italiano (PSI), Partito Popolare Italiano (PPI), Partito Nazionale Fascista (PNF) und Partito Comunista Italiano (PCI). Er führt jedoch kaum über den Forschungsstand der letzten Jahrzehnte hinaus – der von einigen der hier versammelten Beiträger quasi repräsentiert wird.

So kann Thomas Welskopp in seinem zweifellos lesenswerten Beitrag zur jungen Sozialdemokratie sich weitgehend selbst zitieren, was freilich umso fruchtbarer wäre, würde der eine oder andere Co-Beiträger Welskopps Überlegungen zur analytischen Abgrenzung von Partei und sozialer Bewegung aufgreifen und diskutieren. Aldo Agosti wiederum mag die Forschungsgeschichte zum PCI verkörpern wie kein zweiter, allerdings haben jüngere Kolleginnen und Kollegen wie Maurizio Ridolfi, Rosario Forlenza, Sandro Bellassai, Stephen Gundle oder Maria Casalini inzwischen auch kulturgeschichtlich orientierte Studien vorgelegt, die einem deutschsprachigen Publikum erklären könnten, was den italienischen Kommunismus zu einem Massenphänomen werden ließ.2 Im vorliegenden Band gelingt dies eher in den Beiträgen zum PNF von Loreto Di Nucci, Stefano Cavazza und Chiara Giorgi, wobei man gerade hier den direkten Vergleich zu NS-Deutschland schmerzlich vermisst.

Archivgestützte neue Erkenntnisse fehlen – mit einer Ausnahme, dem Beitrag von Paolo Mattera – auch im gesamten dritten Teil des Bandes, der sich der Nachkriegsgeschichte widmet, dabei aber die durchaus innovative Parteiengeschichte zur SED ohne weitere Begründung ausklammert. Daniel Schmidt und Rüdiger Schmidt legen Streifzüge durch die Geschichte von CDU und SPD vor, die wesentlich auf Forschungsliteratur beruhen und allenfalls mit den (spärlichen) gedruckten oder edierten Quellen zur Parteiengeschichte auskommen. Ob eine Demokratiegeschichte, die den Wandel und den eventuellen Niedergang der „Volksparteien“ behandeln will, ihren Erklärungsanspruch noch wesentlich auf Zitate von Heiner Geißler, Peter Glotz, Jürgen Habermas oder Ulrich Beck gründen kann, mögen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden – in jedem Fall bleibt darauf hinzuweisen, dass in den Archiven der Parteien und ihrer Stiftungen ein nachgerade unerschöpfliches, von Sperrfristen weitgehend ausgenommenes Quellenreservoir zur Erforschung auch jener einlädt, die den „Volksparteien“ offenkundig abhanden kommen: Wähler und Mitglieder.

Trotz des Verdienstes, das Leitthema verstärkt auf die Agenda zu setzen, kann der Band mit seiner Disparität aus Analyse und Handbuchcharakter dem Anspruch nicht genügen, das Modell der „Volkspartei“ historisch zu entschlüsseln, für das sich die Herausgeber besonders interessieren und das sie definieren als „eine neue Art von Massenparteien, die explizit klassenübergreifend sein und das ganze Volk organisieren wollte“ (S. 10). Dazu müsste man sich von eingeführten politologischen Denkweisen emanzipieren und etwa bei dem paradoxen Charakter der „Volkspartei“ selbst ansetzen, die sich vornahm, ein Teil (lat. pars) zu sein und zugleich das Ganze zu inkludieren.3 Armin Nolzen kann mit seinem systemtheoretischen Zugang zur NSDAP und ihrer Inklusionskraft via Ausdifferenzierung, den er in seinem Beitrag exploriert, anregende Beobachtungen liefern; sein Ausblick, der Vergleichspotenziale mit Parteien demokratischen Typs umreißt, wird jedoch in keinem anderen Beitrag aufgegriffen. Naheliegende Vergleiche mit der SED hätte Nolzen auf Grundlage der neuesten Forschungsliteratur möglicherweise selbst vornehmen können.

Überhaupt sind die Erträge der neueren Parteienforschung, vor allem für Deutschland im 20. Jahrhundert, seltsam absent. Das gilt für die von der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl) herausgegebenen Studien (genannt seien nur diejenigen von Anja Kruke zu Parteien, Medien und Demoskopie, von Till Kössler zur KPD und dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie oder von Kirsten Heinsohn zu Konservatismus und Geschlecht) ebenso wie für die Untersuchungen zur Alltagspolitik von Sozialdemokraten und Kommunisten in der Zwischenkriegszeit (Joachim Häberlen), zur „Westernisierung“ deutscher Organisationen (Julia Angster zu SPD und DGB) sowie zum Wandel der Parteien in der Ära neuer sozialer Bewegungen (Silke Mende zu den Gründungsgrünen, Jan Hansen zur SPD und dem NATO-Doppelbeschluss) – ganz zu schweigen von der neueren kulturgeschichtlichen Wahlforschung. Wie die jeweilige massenmediale Umwelt und die Konkurrenz zu anderen Parteien das programmatische und kommunikative Verhalten politischer Parteien nach innen und außen imprägnierten, bleibt so unterbelichtet.

Die Herausgeber weisen selbst darauf hin, dass es das Feld der Parteienfinanzierung ist, auf dem der Band neue Ergebnisse bieten kann. So gibt Susanne Meinl Einblick in das weitgehend unerforschte Amt des Reichsschatzmeisters als „die zentrale Verwaltungsinstanz der NSDAP“ (S. 110; dortige Hervorhebung), seine Organisationsstruktur sowie die Finanzverhältnisse der Partei und des NS-Staates. Es handelt sich bei ihrem Aufsatz jedoch eher um eine Geschichte der persönlichen Amtsführung durch Franz Xaver Schwarz, dessen Image als Saubermann Meinl zu destruieren sucht – weniger um eine parteiengeschichtliche Abhandlung, die Ansatzpunkte für eine systemübergreifende Analyse des Finanzgebarens von Massenparteien liefern würde. Paolo Mattera illustriert indes, wie die italienischen Sozialisten nach 1945 ihre organisatorische Konsolidierung und damit auch ihre Autonomie von der starken Kommunistischen Partei Italiens nur über finanzielle Hilfen westeuropäischer Schwesterparteien und insbesondere der Sozialistischen Internationale erlangen konnten. Der quellengesättigte, kurzweilige Beitrag ist auch ein kleines Bravourstück über die Dilemmata italienischer Politik im Kalten Krieg und sticht in seiner transnationalen Perspektive wie in seiner kundigen Präsentation von Archivmaterial aus dem Reigen der im dritten Teil zu „Volksparteien nach 1945“ versammelten Beiträge hervor. Wollte man tiefer schürfen, könnte man hier ansetzen, um über Probleme des Konfliktmanagements in Parteien des 20. Jahrhunderts systematischer nachzudenken, was aber den Vergleich selbstredend einschließen müsste. Flügelkämpfe, so lässt die Lektüre quer durch die Beiträge jedenfalls erkennen, stellten innerhalb dieses Organisationstypus eher die Regel als die Ausnahme dar.

Massimiliano Livi schließlich analysiert den Wandel politischer Organisationsformen in Italien seit den 1970er-Jahren hin zu einer neuen internetbasierten „Participatory Culture“ (S. 254), die auch ein gewandeltes Demokratieverständnis widerspiegele. Sie setze auf die direktere, damit stärker identitätsstiftende Beteiligung sowohl der Mitglieder als auch der Wählerschaft und auf deren unmittelbare Beziehung zu politischen Führungsfiguren. Parteien und ihre Apparate hätten sich als vermittelnde Kanäle in der digitalen „Network Society“ überlebt, und darin komme auch der Vertrauensverlust in die Eliten der Parteiendemokratie zum Ausdruck. Mit Blick auf Deutschland im internationalen Vergleich konstatiert Thomas Großbölting relative Stabilität bei allerdings deutlichem Mitgliederschwund der einstigen Volksparteien. Das Aufkommen der AfD berge zumindest das Potenzial einer nachhaltigen Veränderung des seit 1949 gewachsenen Parteiensystems. Solche Beobachtungen mögen ihre Berechtigung haben, nachlesen kann man sie aber schon länger in politikwissenschaftlichen und journalistischen Beiträgen.

Stefano Cavazza, Thomas Großbölting und Christian Jansen haben für ihren Band einige ausgewiesene historische Parteienforscher gewonnen, führen so jedoch mehr die Disparität des Feldes vor Augen, als dass es ihnen gelänge, eine systematische Annäherung an die (Massen-)Partei als eine historische Form vorzulegen. Wer sich in deutscher Sprache über das italienische Parteiensystem informieren will, wird hier sicher fündig werden – und das ist keine geringe Leistung, wobei die Redaktion akribischer hätte ausfallen können. In Großböltings Beitrag steht derselbe vierzeilige Satz gleich zweimal auf derselben Seite (S. 262), die deutschen Übersetzungen wirken bisweilen etwas sperrig, und die Interpunktion gerade in der Einleitung lässt zu wünschen übrig. Vor allem verzichtet der Band leider weitgehend auf die Rezeption neuerer kultur- und mediengeschichtlicher sowie transnationaler Ansätze, die es erlauben, Parteien zueinander und zu ihrer mannigfaltigen Umwelt in Beziehung zu setzen. Nur über solche genuin geschichtswissenschaftlichen Zugriffe aber können Historikerinnen und Historiker auf dem Feld der Parteienforschung zu neuen Erkenntnissen beitragen.

Anmerkungen:
1 Zum Desiderat einer neueren Parteiensoziologie vgl. Jasmin Siri, Parteien. Zur Soziologie einer politischen Form, Wiesbaden 2012.
2 Für eine kleine Einführung vgl. Claudia Christiane Gatzka, Der „neue Mensch“ auf ausgetrampelten Pfaden. Kommunistische Bewährung und politischer Massenmarkt im postfaschistischen Italien, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2012), S. 145–157; dies., Anders unter Gleichen. Frauen, Männer und Weiblichkeit im italienischen Kommunismus der Nachkriegszeit, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2015), S. 95–112.
3 Denkanstöße zu den Dilemmata, die dies in der Geschichte der Massenpolitik produzierte, finden sich bei Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002.