Seit 1938 befindet sich auf einem zentralen Platz im Kopenhagener Stadtteil Christianshavn das sogenannte Grönlanddenkmal, ein Robbenfänger mit Kajak, dem mehrere Frauen in traditioneller Kleidung beim Fischfang und Robbenhäuten beigestellt sind. Dem Betrachter offenbart das Denkmal gleich mehrere Vorstellungen über Grönland: Zum einen zeigt sich das romantisierende Ideal des vormodernen Inuit als "edler Wilder", der stolz und im Einklang mit der Natur seinen Tätigkeiten als Jäger nachgeht. Demgegenüber steht das Bild des heutigen Grönländers als einem entwurzelten Opfer kolonialer Herrschaft, ist der Platz doch auch ein beliebter Treffpunkt gesellschaftlich marginalisierter Grönländer in der dänischen Hauptstadt.
Ähnlich ambivalente Beurteilungen der Nachwirkungen kolonialer Politik finden sich auch in der wissenschaftlichen Forschung, die sich seit einigen Jahren verstärkt den Herrschaftspraktiken, Identitätsbildungsprozessen und kulturellen Verflechtungen "kleinerer" Nationen und den von ihnen beherrschten Gebieten widmet. In der Historiografie über das koloniale Projekt in Grönland, das mit der Besiedlung und Missionierung durch die Dänen im Jahr 1721 begann und formal 1953 mit der Öffnung des Freihandels und der Statusänderung der Insel in ein dänisches Verwaltungsgebiet endete, haben sich insbesondere zwei Narrative etabliert: das eines kolonialen "Exzeptionalismus", der die dänischen Verwalter als gütige Beschützer grönländischer Kultur und Erbauer einer modernen, zukunftsfähigen Gesellschaft ansieht, und das Dänemarks als unterdrückerischer Machthaber, dem die Inuit als kulturell verletzliches Volk hilflos ausgeliefert waren.
Diese vereinfachenden Sichtweisen versucht der dänische Historiker Søren Rud in seiner Monografie "Colonialism in Greenland. Tradition, Governance and Legacy" zu dekonstruieren. Aufbauend auf früheren Untersuchungen zu Grönland im Spiegel postkolonialer Studien 1, und indem er sich anhand zeitgenössischer ethnografischer Diskurse über grönländische Traditionen und den daraus entwickelten Praktiken kritisch mit historischen Erscheinungsformen der grönländisch-dänischen Beziehungen befasst, gelingt es Rud, ein nuanciertes Bild zu zeichnen, das weder mikrohistorische Ansätze noch die Einbettung in größere Fragekomplexe scheut. Die sechs Kapitel in Ruds Monografie, die teilweise auf früheren Publikationen beruhen, gewähren einen lebendigen Einblick in Imaginationen und Regierungsführung des dänischen kolonialen Projekts in Grönland. Die Vision der dänischen Regierung, Grönland von einer "Steinzeitkultur" zu einer modernen, technisierten Zivilisation zu entwickeln, war laut Rud nicht allein auf die politische Umbruchszeit der 1950er-Jahre beschränkt, sondern fand sich bereits in der Frühphase der Kolonialisierung – und ist auch heute noch präsent: "If we want to understand the modernization and anti-colonial critique following Greenland's integration into Denmark after 1953, it is crucial to contextualize these trajectories in relation to the preceding colonial period and allow the complexities of history to unfold." (S. 6)
Mit der Konstruktion grönländischer "Andersartigkeit" befasst sich das zweite Kapitel. Rud stellt anhand einer detaillierten Quellenanalyse verschiedener Akteure, die von Missionaren über Forschungsreisende bis hin zur Königlich Grönländischen Handelsgesellschaft reichen, heraus, wie sich zunehmende Kritik am vermeintlich schädlichen europäischen Einfluss auf die indigene Kultur der Grönländer mit der Idee einer "anthropologischen Zeitreise" verband, in der die Lebensweisen ursprünglicher Grönländer als getreue Abbilder des europäischen Steinzeitmenschen verstanden wurden. Expeditionen in abgelegene Regionen Grönlands trugen dazu bei, ein ethnografisches Bild ostgrönländischer, von den dänischen Kolonialbestrebungen weitgehend abgeschirmter Inuit als "wahre" Vertreter grönländischer Kultur zu kreieren. Diese kulturelle Erhöhung wurde schließlich zur Blaupause für Bestrebungen der Kolonialverwaltung, bestimmte Traditionen wie die Robbenjagd für gesellschaftliche Reformen – und nicht zuletzt wirtschaftlichen Profit – nutzbar zu machen.
Das dritte Kapitel vertieft diesen Punkt, indem es untersucht, wie die Errichtung lokaler Behörden gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter Beteiligung grönländischer Robbenjäger dazu diente, die Integration von Grönländern auf politisch-administrativer Ebene zu fördern. Die herausgehobene Stellung der Robbenjäger als Bewahrer der gesellschaftlichen Ordnung erfuhr eine Umdeutung, während andere Lebensweisen wie der Fischfang marginalisiert wurden. Die neuen Verwaltungsstrukturen formten damit nicht nur die Lebenswelten der Grönländer, sondern auch ihr Selbstverständnis vis-à-vis den dänischen Machthabern und ihrer eigenen Kultur: "Local board arrangements must be seen as resulting from a shift in the rationale behind colonial policies. By explicitly targeting the subjectivity of individuals, the reform revealed a new ambitious goal for the colonial administration: the reshaping of Greenlanders' self-interest" (S. 49).
Um Identität und Alterität geht es auch im vierten Kapitel, das den Schauplatz von Grönland nach Kopenhagen verlegt. Mit Maßnahmen zur Förderung von Mischehen, Spracherwerb und der schulisch-theologischen Ausbildung junger Grönländer war eine zivilisatorische Mission verbunden, deren Ziel es war, eine "richtige Mischung" aus traditionellen (grönländischen) und modernen (europäischen) Eigenschaften zu erschaffen. Im Mittelpunkt von Ruds Untersuchung steht das sogenannte Grönländerheim in Kopenhagen, das als kontrollierter Schmelztiegel grönländischer und dänischer Kultur verstanden werden kann – mit nachhaltigen Effekten, wie der Autor betont: Ihm zufolge legten diese und ähnliche Maßnahmen zur Vermischung ausgewählter Traditionen und Lebensweisen den Grundstein für auch heute noch vorgebrachte Narrative von Verwundbarkeit und Schutzbedürftigkeit grönländischer Kultur.
Dem wohl faszinierendsten Thema widmet sich das fünfte Kapitel, das koloniale Medizin mit dem Beispiel grönländischer "Kajak-Angst" verknüpft, eine als Ausprägung von Nervenschwäche diagnostizierte seelische Störung. Zurückgeführt auf negative kulturelle Einflüsse des modernen Zeitalters, wurde "Kajak-Angst" in der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst mit dem Konsum von Tabak und Kaffee in Verbindung gebracht. Um die Jahrhundertwende verschob sich dieses Bild zugunsten der Annahme einer arktischen Version von Neurasthenie und der Überforderung der indigenen Psyche durch die Komplexität der Moderne, um in den 1930er- und 1940er-Jahren rassebiologischen und psychiatrischen Theorien zu weichen. Berichte von Ärzten, Ethnologen und Verwaltungsbehörden auswertend, kommt Rud zu dem Ergebnis, dass die koloniale Medizin das Phänomen der "Kajak-Angst" mit einem Freud‘schen Verständnis von Kindlichkeit, Primitivität und Neurose verband (S. 89) und damit die konstruierte Andersartigkeit der Grönländer als einer biologischen Prädisposition fortschrieb.
Auch das darauffolgende Kapitel gewährt einen singulären Einblick in das grönländisch-dänische Zusammenleben um die Jahrhundertwende. Stimuliert durch die Tatsache, dass Grönland bis in das 20. Jahrhundert hinein weder Polizei noch Strafrecht besaß, analysiert Rud am Beispiel des wiederholt straffällig gewordenen Schriftstellers Peter Gundel Praktiken von Recht und Ordnung im kolonialen Alltag. Erneut offenbart sich hier im scheinbar Kleinen, wie die dänischen Verwalter auf grönländische Traditionen wie das öffentliche Anprangern gesellschaftlicher Abweichler zurückgriffen, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, aber auch, wie individuelle Grönländer sich dagegen zu behaupten versuchten.
Das siebte Kapitel überführt die ethnografischen Vorstellungen und Verwaltungspraktiken in gegenwärtige Debatten über grönländische Identität. Gefühle von Scham und Stolz werden nicht nur aus dänischer Perspektive analysiert, womit Rud an die eingangs vorgestellten Narrative über die Rolle Dänemarks als Kolonialmacht anknüpft, sondern werfen auch einen erhellenden Blick auf aktuelle grönländische Identitäts- und Nationsbildungsdiskurse. Wie Rud in seinem kurzen Nachwort verdeutlicht, bieten Populärkultur und Marketingstrategien zwar neue Chancen für einen offenen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit, doch "the cultural image based on tradition combined with a hostile attitue toward modernization entails the risk of establishing identities that confine Greenlanders to a limited space. […] A more nuanced understanding of the colonial project in Greenland is a precondition for the opening of representations and self-representations in Greenland as well as Denmark" (S. 147). Die Monografie bietet dafür eine fundierte Diskussionsbasis.
Insgesamt ist Rud ein reichhaltiges Buch gelungen, das tiefe Einblicke in vielseitige, nur auf den ersten Blick marginale Bereiche grönländisch-dänischen Zusammenlebens gewährt. Durch seine Fokussierung auf alltägliche Lebensbereiche, individuelle Akteure und den reichen Quellenfundus, vermag die Monografie der überschaubaren Literatur zur dänischen Kolonialvergangenheit einen innovativen Baustein hinzuzufügen. Auch sprachlich überzeugt Rud mit einem prägnanten und eingängigen Erzählstil, der in seiner Reflektiertheit Denkanstöße für weitere Forschungen gibt – und damit zu akademischen Debatten zu (Post-)Kolonialismus und Nationsbildung ebenso beiträgt wie zu einem breiteren Verständnis der gesellschaftlichen und kulturellen Dynamik im arktischen Raum.
Anmerkung:
1 Magdalena Naum / Jonas M. Nordin (Hrsg.), Scandinavian Colonialism and the Rise of Modernity. Small Time Agents in a Global Arena, New York 2013; Lars Jensen, Greenland, Arctic Orientalism and the Search for Definitions of a Contemporary Postcolonial Geography, in: KULT – Postkolonial Temaserie 12 (2015), S. 139–153; Ulrik Pram Gad, Post-Colonial Identity in Greenland? When the Empire Dichotomizes Back – Bring Politics Back In, in: Journal of Language and Politics 8/1 (2009), S. 136–158.