Nachdem in den letzten rund zwanzig Jahren die sozialhistorische Forschung über die bis dahin recht stiefmütterlich behandelte Sozialformation des Bürgertums große Fortschritte gemacht hat, scheint es nun an der Zeit zu sein, die Ebene der kollektivbiographischen Methode zu verlassen und die gewonnenen Ergebnisse anhand von Einzel- oder Familienbiographien zu vertiefen.
Dieser Aufgabe verschreibt sich auch die vorliegende Dissertation von Ulrich Soénius, die auf einer phantastisch breiten Überlieferung der Kettwiger Textilindustriellenfamilie Scheidt beruht. Herausgekommen ist eine Familienbiographie, die drei Generationen erfaßt: die Generation der konservativen "Post-1848er", die Generation der Reichsgründungszeit und des frühen Kaiserreichs sowie die Generation des Übergangs vom Wilhelminischen Kaiserreich in die Republik. Während des durch das unternehmerische Wirken dieser drei Generationen abgedeckten Dreivierteljahrhunderts scheint die Quellenüberlieferung durchgängig so dicht zu sein, daß es möglich war, die Veränderungen von Bürgerlichkeit in dieser Zeit nicht nur durch das Verhalten der Familienmitglieder im öffentlichen Raum, sondern auch in ihrer Intimsphäre zu analysieren. Dank der erhaltenen Familienkorrespondenz, die in dieser Intensität im wesentlichen den Frauen der Familie zu verdanken ist und die die wichtigste Quelle der Arbeit darstellt, war es darüber hinaus möglich, den in der klassischen Unternehmerforschung gänzlich ausgeblen-deten Geschlechterrollen und ihren Veränderungen in der Analyse einen angemessenen Platz einzuräumen.
In seinem Einleitungskapitel gibt Soénius zunächst einen Überblick zum Stand der Bürgertums- und Unternehmerforschung. Indem unterschiedliche Bewertungen in der Forschung herausgearbeitet werden, schafft sich der Autor gleichzeitig eine Referenzfolie, vor der er die Familiengeschichte analysieren und repräsentative von abweichenden Entwicklungen trennen kann. Dabei erliegt er nicht der Versuchung, Ergebnisse kollektivbiographischer Untersuchungen durch einen Verweis auf die Familie Scheidt in Zweifel zu ziehen, sondern er ist sich der geringeren Reichweite seiner Methode absolut bewußt und sucht eher nach den familienspezifischen Ursachen, die eine Abweichung von der "Norm" erklären. Damit bringt er gleichzeitig die Stärke seiner Methode ins Spiel, die eine viel tiefergehende Analyse ermöglicht als die notwendigerweise bei der Auswertung von qualitativen Quellen wesentlich oberflächlicheren Kollektivbiographien.
Der stärkste Teil des Buches sind deshalb auch die Kapitel, die als "Innenansicht auf das Wirtschaftsbürgertum" zusammengefaßt werden. Diese Kapitel behandeln neben den zu erwartenden Themen Erziehung, Ehe und Familie, Haushaltsführung, Wohnen, Freizeit und Familienfeiern auch die familiäre Krisen und ihre Bewältigung. In diesem Zusammenhang werden Krankheit und Tod sowie der Umgang mit solchen Verhaltensweisen thematisiert, die von der bürgerlichen Norm abweichen und die deshalb viel über die Zwänge dieser Normen aussagen. Bemerkenswerterweise handelt es sich bei den "schwarzen Schafen" der Familie um den jeweils zweitgeborenen Sohn in jeder Generation. In allen Fällen blieben diese Söhne ohne unternehmerischen Erfolg, wobei dieses Versagen durch finanzielle oder sexuelle Eskapaden begleitet bzw. verdeckt wurde. Da diese jüngeren Brüder oberflächlich betrachtet die gleichen Voraussetzungen besaßen wie die erfolgreicheren Erstgeborenen, erklärt Soénius ihr Versagen mit dem hohen Erwartungsdruck der Umwelt, besonders des Vaters, bei gleichzeitig subjektiv empfundener Zurücksetzung gegenüber dem Älteren. Unter diesen Bedingungen bestand die einzige Alternative zur Suche nach Anerkennung dort, wo man sie bekommen konnte, nämlich bei den unterbürgerlichen Schichten, darin, mehr zu leisten als die Älteren. Das gilt zwar im Prinzip für alle jüngeren Söhne, und tatsächlich schaffte es in der dritten Generation ein jüngerer Bruder, den Erstgeborenen unternehmerisch in den Schatten zu stellen. In der Regel war der Erwartungsdruck gegenüber den jüngeren Geschwistern aber nicht so groß, weil sich rechtzeitig eine erfolgreiche Nachfolgeregelung für den Vater seitens der älteren Brüder abzeichnete. Damit war Raum gewonnen, sich die Anerkennung in anderen als unternehmeri-schen, aber immer noch bürgerlichen Berufen zu verschaffen.
Insgesamt ist dieser Teil über das Innenleben einer wirtschaftsbürgerlichen Familie so interes-sant und in der Argumentation überzeugend, daß auch die Detailverliebtheit des Autors und die sehr extensive, weil quellennahe Darstellung nicht negativ ins Gewicht fallen. Etwas anders sieht das beim zweiten Teil über die "Wirtschaftsbürger in der Öffentlichkeit" aus. Hier findet man wenig, das über das hinausgeht, was schon in anderen Studien zu lesen war und was über den konkreten Fall der Familie Scheidt hinaus von Interesse ist. Leider ist auch häufig eine zu geringe Distanz zum Untersuchungsobjekt festzustellen. Insbesondere das gemeinbürgerliche Engagement wird zu wenig in seiner unmittelbaren Beziehung zum unternehmerischen Handeln analysiert. So wäre es beispielsweise interessant, etwas darüber zu erfahren, wie sich das schließlich erfolgreiche Engagement Scheidts für einen Eisenbahnanschluß in Kettwig auf sein Geschäft ausgewirkt hat. Über die Spekulation mit Eisenbahnaktien in den sechziger Jahren wird zwar einiges gesagt, nicht aber über die Auswirkungen des Eisenbahnanschlusses auf die Konkurrenzfähigkeit der Scheidtschen Textilien auf weiter entfernten Märkten.
Unbefriedigend ist auch die Begründung für die zweifellos richtige These, daß ein Unternehmer nicht notwendigerweise ein Wirtschaftsbürger sei. Denn Soénius möchte es nicht dabei bewenden lassen, daß erst eine bürgerliche Lebensführung und ein bürgerlicher Wertehimmel aus einem Unternehmer auch einen Bürger machen, sondern er möchte darüber hinaus die unternehmerische Handlungsweise bürgerlich deuten. Nicht ausreichend ist für ihn "die Realisierung betriebswirtschaftlicher Ziele". Stattdessen muß der bürgerliche Unternehmer "innovativ handeln". Dabei bleibt aber weitgehend unklar, was ein Unternehmer tun muß, um im Verständnis des Autors als "innovativ" gelten zu können. Wenn man tatsächlich dieses Kriterium und andere, ähnlich restriktive Kriterien für die Zugehörigkeit einer Unternehmerfamilie zum Wirtschaftsbürgertum anlegen wollte, würde es in Kettwig wohl keine andere wirtschaftsbürgerliche Familie und in ganz Westdeutschland nur einige Dutzend wirtschaftsbürgerliche Familien gegeben haben. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ließe sich in Prozenten gar nicht mehr sinnvoll ausdrücken. Die Familie Scheidt gehört zweifellos zum wirtschaftlichen Großbürgertum - Soénius benutzt in diesem Zusammenhang gelegentlich den Begriff "Oberschicht", womit zweifellos "bürgerliche Oberschicht" gemeint ist. Aber diese in der Tat sehr schmale Schicht repräsentiert nicht das Wirtschaftsbürgertum als eines der beiden Standbeine der bürgerlichen Sozialformation. Auch mittelständische Unternehmer können Wirtschaftsbürger sein, auch wenn sie zu den Verkehrskreisen von Großbürgern wie den Scheidts normalerweise nicht zählen. Das Vermögen - weniger die unternehmerische "Innovationskraft" - differenziert hier noch einmal innerhalb dieses Klassensegments der Wirtschaftsbürger. Aber auch unterhalb dieser "Vermögensgrenze" gibt es noch eine (wirt-schafts-) bürgerliche Welt.
Trotz dieser Kritik kann man Soénius' Arbeit nur wünschen, daß sie viele Leser findet. Die Voraussetzungen dafür sind aber trotz des bemerkenswert günstigen Preises nicht sehr gut. Denn der Reihenherausgeber Soénius hat darauf verzichtet, dem Autor Soénius durchgreifende Kürzungsauflagen zu machen und hat damit sich und der Reihe einen Bärendienst erwiesen. Denn wie will der Herausgeber Soénius künftig Autoren disziplinieren, wenn er sich selber ein Manuskript von 799 eng beschriebenen Seiten durchgehen läßt? Und auch der Autor Soénius hätte von einem deutlich kürzeren Manuskript profitiert. Denn so muß man schon ein Bürgertums-Enthusiast - oder ein Rezensent - sein, um diesen "Schinken" von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen.