Cover
Titel
Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.–16. Jahrhundert


Autor(en)
Bünz, Enno
Reihe
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation 96
Erschienen
Tübingen 2017: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
IX, 862 S.
Preis
€ 120,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Flachenecker, Institut für Geschichte, Universität Würzburg

Die Diözesen und ihre Pfarrorte haben und hatten einen großen Einfluss auf das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen. Die Pfarrei hat eine kirchenrechtliche Ausstrahlung auf Nachbardörfer, die ihr zugeordnet sind. Sie besitzt diese bis heute, sie ist also ein Phänomen langer Dauer, die auch von der Reformation beibehalten wurde, wenn auch in modifizierter Form. Heute steht sie in einem Transformierungsprozess zu sogenannten Seelsorgeeinheiten, die mehrere Pfarreien umfasst.

Darüber hinaus steht die Pfarrei in einer engen Verbindung zu weiteren kirchlichen Verwaltungseinheiten, etwa den Archidiakonats- bzw. Dekanatsbezirken und letztlich zu der jeweiligen Diözese. Von einer ‚Pfarreienlandschaft‘ sollte angesichts der auf meist ein Merkmal hin reduzierten und zudem inflationären Nutzung des Begriffs ‚Landschaft‘ nicht gesprochen werden. Pfarrei ist zugleich ein Kulturraum: Kirchen mit ihren Altären, Malereien und Kunstgegenständen, Kapellen, Wallfahrtsorte als Plätze einer besonderen Devotion, ferner eventuell postreformatorisch-katholische Statuen in der Landschaft (Bildstöcke, Kreuze, Marienbilder, Kreuzwege, Kalvarienberge) prägen die religiöse Erfahrungswelt des Laien und machen letzterem die konfessionellen Grenzen bewusst. Die Pfarrei kann sich darüber hinaus zu einem Ort der Bildung, einer Schule entwickeln. Somit muss die Pfarrei als kleinste territoriale Einheit in den christlichen Kirchen mit unterschiedlicher religiöser Ausprägung in einer multiperspektivischen Weise interpretiert werden.

Einmal geht es in der neueren Forschung um die Pfarrei im Allgemeinen, um den zunehmenden Versuch der Bischöfe, auf diese mit Hilfe von Diözesansynoden, Visitationen und besonders mit der geistlichen Gerichtsbarkeit mehr Einfluss zu gewinnen, aber auch um die weltlichen Landesherren, die aufgrund der Benefizialgüter, die jeder Pfarrei, dessen geistlichen Personal und dem Kirchenbau zustanden, ihr faktisches Oberlehensrecht bewahren wollten. Zudem waren sie nicht bereit, ihre eigenkirchlichen Rechte kampflos dem Bischof zu überlassen. Ferner stehen die einzelnen Pfarrer, ihre Ausbildung und Wirkmöglichkeiten im Mittelpunkt, aber auch die praxis pietatis der Laien. Die beiden letzteren Bereiche sind jedoch bei Weitem noch nicht erschöpfend untersucht.

Bahnbrechende Forschungen über die Pfarrei im Mittelalter hat Enno Bünz in den letzten 30 Jahren geleistet. Er hat viel dazu beigetragen, dass dieses Thema zu einem zentralen Arbeitsfeld mittelalterlicher, vergleichender Landesgeschichte wurde. Pfarrei und Niederklerus wurden von ihm in mehreren Mikroanalysen erforscht. Bünz schätzt die Zahl der in den 63 mittelalterlichen Diözesen der Germania Sacra liegenden Pfarreien auf circa 50.000! Ihre räumliche Verteilung ist nicht gleichmäßig, ihre historische Entwicklung ist sehr dynamisch, zumal die zunehmende Verbreitung der cura animarum die Installation mehrerer Filialkirchen bzw. die Abtrennung weiterer Pfarreieinheiten aus größeren erforderlich machte. Der Wandel der Seelsorgeverhältnisse spiegelte sich unter anderem in der Vergrößerung des geistlichen Personals (Vikare, Frühmessner).

Die Pfarrkirche als zentraler Ort bäuerlicher Frömmigkeit wurde in neuen Zusammenhängen gesehen und bewertet. Seine Ergebnisse sind seinem weiten Blick auf Thüringen, Sachsen, Franken und Dithmarschen zu verdanken. Die hier einerseits erneut abgedruckten, aber auch drei noch bisher unveröffentlichten und thematisch in vier Kapitel gegliederten, insgesamt einundzwanzig Beiträge geben ein eindrucksvolles Bild dieser jahrzehntelangen Forschungen wieder. Neu sind Betrachtungen zur Entwicklung spätmittelalterlicher Seelsorgestrukturen zu den mit Vikariestiftungen einhergehenden Veränderungen im Kirchenraum und zum spätmittelalterlichen Buchbesitz von Pfarrern, der Auskunft über den Bildungsstand des einzelnen Weltpriesters gibt. Buchreligion und Bildung gehören untrennbar zusammen, deshalb waren die libri sacri untrennbar mit dem Grad der Pfarrseelsorge verbunden! Dahinter stehen dann spannende Untersuchungen zum Buchangebot und zum Buchmarkt.

Zusammen mit dem ebenfalls methodisch innovativen Band zur Pfarrei im späten Mittelalter, den Bünz mit Gerhard Fouquet herausgegeben hat, liegen nun zwei wichtige Werke zur mittelalterlichen Pfarrei vor, denen eine große Verbreitung zu wünschen ist. Letzteres wird oft häufig gesagt, sollte diesmal aber weit mehr als nur eine übliche Plattitüde sein. Der grundlegende Band wird von einem Verzeichnis „weiterer einschlägiger Veröffentlichungen des Autors“ abgeschlossen. Der Band ist für den aufgeworfenen Forschungsgegenstand unverzichtbar für weitere Untersuchungen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension