N. M. Fahnenbruck u.a. (Hrsg.): Fluchtpunkt Hamburg

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Title
Fluchtpunkt Hamburg. Zur Geschichte von Flucht und Migration in Hamburg von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart


Editor(s)
Fahnenbruck, Nele Maya; Meyer-Lenz, Johanna
Series
Histoire 124
Extent
259 S.
Price
€ 29,99
Reviewed for H-Soz-Kult by
Anne Lisa Carstensen, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Universität Osnabrück

Der durch Nele Maya Fahnenbruck und Johanna Meyer-Lenz herausgegebene Sammelband „Fluchtpunkt Hamburg“1 basiert auf einer interdisziplinären Ringvorlesung an der Universität Hamburg, die über zwei Semester von April 2016 bis Anfang 2017 stattfand. Ausgangspunkt ist die Debatte um Flucht und Migration nach 2015 sowie der Anspruch, zur „Versachlichung der Diskussion beizutragen“ (S. 8). Vor diesem Hintergrund versammelt der Band unterschiedliche Beiträge zum Thema Flucht und Migration in Hamburg seit der Frühen Neuzeit. Die zentrale Fragestellung zielt auf die Relevanz kultureller Praktiken auf der „Themenachse ‚Flucht‘“ ab (S. 8). Einleitend entwickelt Johanna Meyer-Lenz eine theoretische Rahmung unter Bezug auf die transnationale Globalgeschichte, in deren Zentrum die Fragen nach Neuordnung von Räumen (Neusegmentierung) und neuen Verständigungsformen von Menschen (Konnektivität) stehen (S. 14f.). Anspruch des Bandes ist somit, einen Bogen zwischen individuellen Erfahrungen, Repräsentationen von Migration und Flucht sowie den sie bedingenden gesellschaftlichen wie politischen Entwicklungen zu schlagen.

Der Band ist unterteilt in vier Teile. Im ersten Abschnitt „Medien“ steht die Frage der Repräsentation von Migration und Flucht im Mittelpunkt (S. 23ff.). Diese Frage bearbeiten Alina Laura Tiews mithilfe der Analyse des Radiohörspiels „Der Treck aus dem Osten“ von 1954 sowie Astrid Henning-Mohr im Rahmen einer Untersuchung mehrerer „Migrationsfilme“, im Rahmen derer Geschichten von Zugehörigkeit und Ausgrenzung sowie Fragen des „Migrantisch-Seins“ (S. 41) thematisiert werden. Deutlich wird dabei, dass Migration eben nicht nur die Bewegung von Menschen im Raum ist, sondern ein gesellschaftliches Phänomen, was auch diejenigen betrifft, die nicht selbst migrieren, sowie zur Konfiguration ebenjener Räume beiträgt. In einem weiteren Beitrag adressiert der ehemalige Redakteur Oliver Schirg die Bedingungen des Sprechens über Migration im Rahmen einer selbstkritischen Reflexion über die Berichterstattung des Hamburger Abendblatts im Sommer der Migration. Der Autor spricht sich für eine objektive und differenzierende Berichterstattung in der Tagespresse aus. Dieser Anspruch wird leider dadurch unterlaufen, dass berichtet wird, wie infolge der Ereignisse in der Silvesternacht in Köln 2015/16 eine Ernüchterung in der Redaktion eingetreten sei und der Fokus auf die Frage gelenkt wurde, „vor welche Probleme die deutsche Gesellschaft durch die Flüchtlinge gestellt wird“ (S. 68). Eine (medienkritische) Analyse der aufgeheizten Debatten2 bleibt leider aus.

Der zweite Abschnitt behandelt das Thema „Biographien“. Björn Siegel, Lilja Schopka-Brasch, Björn Laser und Monica Rüthers thematisieren anhand der historischen Migrationserfahrungen der Hamburgerinnen Arnold Bernstein, Wilhelm Ernst Beckmann und Alice Ekert-Rotholz sowie der russisch-jüdischen Schriftstellerin Mary Antin die Interdependenz globaler Entwicklungen mit individuellen Erfahrungen und Erlebnissen. Sowohl in der Aufarbeitung der Entlausungsszene in der Biographie Mary Antins wie auch in der Rezeption des schriftstellerischen Werkes von Alice Ekert-Rotholz stehen zudem die Analyse der Bedingungen vom Schreiben über und die Modalitäten der Erinnerung an Migration und Exil im Vordergrund.

Eine dritte Zwischenüberschrift „Transnationale Migration“ versammelt Beiträge, die die räumliche Ebene unterschiedlicher Migrationserfahrungen betonen. In diesen Beiträgen steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle Migrant/innen in der Stadtgesellschaft und Konstruktion von Hamburg als transnationalem Raum inne haben. Im ersten Beitrag geht es darum, wie Hamburger Kaufleute in Portugal und Portugiesen in Hamburg im 17. Jahrhundert im Rahmen von Migrationsnetzwerken neue wirtschaftlichen Strategien und kulturelle wie soziale Identitäten entwickelten (Jorun Poettering). Diesem Beitrag ähnelt die Analyse der Lage der heterogenen Gruppe von Emigrant/innen, die infolge der Französischen Revolution nach Hamburg flohen (Friedemann Pestel). Claudia Schnurmann nutzt das Phänomen „Heimweh“, um diskursiv geprägte Imaginationen der Stadt Hamburg zu rekonstruieren. David Templin hingegen folgt der Perspektive von Aktivist/innen aus der Türkei im Hamburg der 1980er–Jahre – einer Zeit, in welcher Exilpolitik und Fragen von Antirassismus und ‚Integration‘ unweigerlich miteinander verknüpft waren.

Die Beiträge im letzten Teil „Einschnitte“ gehen auf individuelle Erfahrungen der Flucht und (Re-)Konstruktion des Selbst ein. Hier thematisiert zunächst Rebecca Schwoch die Fluchtstrategien jüdischer Ärzte in Hamburg angesichts des Nationalsozialismus. In einem weiteren Beitrag untersucht Maja Momić gegenwärtige Regulierungen des Wohnens für Geflüchtete und diskutiert, wie diese im Rahmen subversiver Wohnpraktiken damit umgehen. Abgeschlossen wird der Sammelband durch einen sehr persönlichen Essay von Julie Lindahl über ihre Spurensuche angesichts der NS-Vergangenheit ihrer Großeltern, welche sie vor allem nach Polen und ins brasilianische Hinterland führte. Hochgradig aktuell zeichnet sie die Kontinuitäten transnationalen faschistischen Denkens nach.

Die Gliederung der vier Abschnitte überzeugt nicht vollständig. Während die ersten beiden Abschnitte „Medien“ und „Biographien“ eher einen Gegenstand und ein Genre wiedergeben, scheint der Abschnitt „Transnationale Migrationen“ die zentralen Antworten auf die einleitend aufgeworfenen globalgeschichtlichen Transnationalismusansätze zu bieten. Der Abschnitt „Einschnitte“ fasst drei sehr unterschiedliche Beiträge zusammen.

Wie der Titel verrät, lebt der Sammelband von zwei übergeordneten Bezugspunkten: Der erste gemeinsame Nenner ist „Hamburg“. Es gelingt dabei, aufzuzeigen, auf welch vielfältige Weise die Hansestadt Hamburg durch unterschiedlichste Migrationen geprägt ist. Hamburg ist sowohl Herkunfts-, Ziel- und Durchgangsort für Migrant/innen, aber auch „Akteurin […] wie auch Schauplatz der medialen, filmischen und politischen Darstellung der Migration“ (S. 14). Allerdings teilen einige Beiträge diesen Bezugspunkt gar nicht (Julie Lindahl) oder nur sehr marginal (zum Beispiel, dass Mary Antin nur einen Absatz über ihre Fahrt durch Hamburg während der Ausreise aus Osteuropa in die USA geschrieben hat).

Zweiter Bezugspunkt ist das Thema Flucht und Migration. Dass die Herausgeberinnen sich nicht auf eine konzeptuelle Unterscheidung zwischen Flucht und Migration einlassen, ist positiv hervorzuheben, da diese Unterscheidung aufgrund vielfältiger praktischer Überlagerungen schwer zu treffen ist und auch in der gegenwärtigen Migrationsforschung hinterfragt wird. Und so zeigen gleich mehrere Beiträge das Verschwimmen dieser Grenzen auf, wie zum Beispiel die Emigrationsgeschichte Alice Ekert-Rotholz oder die komplizierte Lage der portugiesischen Händler/innen. Rebecca Schwoch entkoppelt die Begriffe Flucht und Migration sogar weitgehend, indem sie auch Untertauchen und Selbstmord jüdischer Ärzte im Nationalsozialismus als ‚Flucht‘ diskutiert. Überschneidungen zwischen Fluchtmigration und Gastarbeit werden wiederum im Beitrag über die türkische Exilbewegung in den 1980er–Jahren thematisiert.

Insgesamt zeichnet sich eine Perspektive ab, die nicht Migration und Migrant/innen problematisiert, sondern die die Migration bedingenden institutionellen Voraussetzungen und diskursiven Rahmungen. Dies ist für die anvisierte „Versachlichung“ der Debatte zentral. Auch rekonstruieren die Beiträge Praktiken und Imaginationen von Migration, Einwanderung und Flucht vor ihrem jeweiligen historischen Hintergrund. Deutlich wird, dass die Bedingungen und Erfahrungen nicht verallgemeinerbar sind. Insofern gelingt es dem Sammelband, durch die vielen verschiedenen Beispiele die Vielfalt und Allgegenwart von Migration in der Stadtgeschichte aufzuzeigen. Zugleich wird auch betont, dass und unter welch schwierigen Bedingungen Menschen auch aus Hamburg fliehen mussten und den Menschen das Ankommen und Bleiben erschwert wurde und weiterhin erschwert wird.

Ein Sammelband, der versucht, ein so breites Themenfeld zu bearbeiten, produziert notwendigerweise Auslassungen. Auffällig ist, dass die Themen Antisemitismus und Rassismus kaum explizit thematisiert oder theoretisch fundiert werden. Dabei ist das Forschungsfeld von rassistischen und antisemitischen Konstruktionen von ‚Anderen‘ und ‚Fremden‘ durchzogen und historische Forschungen können sich oftmals nur auf bereits rassifizierte Wissensbestände stützen. Wird dies nicht explizit gemacht, besteht die Gefahr, Deutungen und Gruppenkonstruktionen des Feldes zu übernehmen. Die zweite größere Auslassung des Sammelbandes betrifft soziale Ungleichheit und soziale Fragen. Die meisten Beiträge behandeln die Lage Intellektueller und bürgerlicher Migrant/innen; Migration aus wirtschaftlichen Gründen wird auch aufgrund des Fokus auf ‚Flucht‘ größtenteils ausgeklammert. Darüber wird eine der gegenwärtig zentralen migrationspolitischen Fragestellungen ausgeklammert, nämlich die Frage, wer wo unter welchen Bedingungen arbeitet und welche Rolle Flucht und Migration in der permanenten Reproduktion sozialer Ungleichheiten spielen.

Einen Sammelband über ein bereits so vielfältig in unterschiedlichen Disziplinen erforschtes Phänomen zusammenzustellen ist definitiv kein leichtes Unterfangen. Mit 14 Beiträgen ist der Band sehr ‚voll‘ geraten. Weniger und dafür längere Beiträge hätten den Autor/innen eventuell eine tiefer gehende Analyse und stärkere Bezugnahme aufeinander ermöglicht. Insgesamt ist es den Herausgeberinnen dennoch gelungen, äußerst spannende Beiträge zusammenzustellen.

Anmerkungen:
1 Der Titel „Fluchtpunkt Hamburg“ ist leider derselbe wie derjenige einer beinahe zeitgleich im Verlag „Das bosnische Wort“ erschienenen Anthologie des Verbands deutscher Schriftsteller und Schriftstellerinnen (Landesverband Hamburg).
2 Vgl. z.B. Gabriele Dietze, Das ‚Ereignis‘ Köln, in: Femina Politica 25 (2016), 1, S. 93–102.

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