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Titel
Schule und Zivilreligion. Die Diskussion über den schulischen Religionsunterricht im Kanton Zürich 1872 und 2004


Autor(en)
Katzenstein, Rahel
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Michael Wermke, Lehrstuhl Religionspädagogik, Theologische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Im Kanton Zürich, der sich in den 1520er-Jahren unter Zwingli der Reformation anschloss, ist in den letzten 30 Jahren der Anteil der evangelisch-reformierten Bevölkerung auf etwa ein Drittel gesunken. Zeitgleich sind die Anteile der Konfessionslosen und der römisch-katholischen Einwohnerschaft sowie auch der Anteil derer, die anderen christlichen, sowie muslimischen oder jüdischen Glaubensgemeinschaften angehören, angewachsen. Angesichts dieser voranschreitenden religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Pluralisierung der Bevölkerung erhebt sich in Politik und Öffentlichkeit im Kanton Zürich die Frage nach dem inneren Zusammenhalt der Gesellschaft, wobei sich der Blick schnell auf die Schule und speziell auf den Religionsunterricht als Ort der Vermittlung verbindlicher Wertevorstellungen richtet.1

Die Frage, welche gesellschaftsdienliche Funktion der Schule und dem Religionsunterricht seitens des Staates zugewiesen wird, untersucht Rahel Katzenstein, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich, in ihrer von dem Bildungshistoriker Fritz Osterwalder betreuten Dissertationsschrift. Als Untersuchungsgegenstände dienen ihr die in Folge der 1869 und 2003 beschlossenen Änderungen der Kantonsverfassung Zürichs geführten Debatten um die Reform des Schulwesens. Katzenstein geht es um die Beantwortung der Leitfragen: Inwiefern und auf welche Weise manifestieren sich in den schulpolitischen Diskussionen zivilreligiöse Erwartungen insbesondere an Religionsunterricht, und welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten zeigen diese Erwartungen auf.

Im ersten Teil „Begriffliche und historische Rahmung“ fasst Katzenstein Zivilreligion als ein Phänomen funktional ausdifferenzierter bzw. religiös-weltanschaulich heterogener Gesellschaften, die das Prinzip der Religionsfreiheit anerkennen und zugleich um Einheit und Integration bemüht sind. Hierbei nimmt sie die Unterscheidung von Zivilreligion nach dem französischen und dem amerikanischen Typus auf. Während der französische Typus Zivilreligion als säkulare Gegenreligion zur christlich-kirchlichen Religion in Stellung bringt, werden im amerikanischen Modell die Glaubensinhalte und Symbole der traditionellen Religionen für den politischen Gebrauch, das heißt zivilreligiös in Anspruch genommen. Pointiert bestimmt Katzenstein den paradoxen Gehalt von Zivilreligion: Zivilreligion setze „funktionale gesellschaftliche Ausdifferenzierungen voraus, trägt zugleich aber in sich Tendenzen zur Auflösung ebendieser Grenzen gesellschaftlicher Sphären“ (S. 68). Die in Folge der Aufklärung erreichte Trennung zwischen einer religiös-weltanschaulichen und staatlich-politischen Sphäre wird also durch das zivilreligiöse Bekenntnis im Prinzip wieder kassiert.

Im zweiten Teil „Die Diskussion um den schulischen Religionsunterricht um 1872“ rekonstruiert Katzenstein die religionspolitischen und -didaktischen Debatten zur im zeitlichen Umfeld der Verfassungsreform von 1869 vollzogenen Neufassung des Schulgesetzes 1872 anhand kirchlicher und staatlicher Aktenstücke sowie von Zeitungsartikeln. In den Debatten um die rechtliche Neuausrichtung des Staats-Kirchen-Verhältnisses und damit verbunden um die Funktion sittlich-religiöser Erziehung in der Schule sei, so Katzenstein, der Verlust eines einigenden gesellschaftlichen Bandes bereits explizit geworden, auch wenn faktisch die Trennung von Staat und Kirche noch nicht vollends vollzogen wurde: Die Zürcher Gesellschaft verstand sich trotz der Auflösung der Staatskirche als evangelisch-reformiert, das heißt als volkskirchlich geprägt. Zusammenfassend kommt Katzenstein zu dem Ergebnis, dass „nur in einem eingeschränkten Sinn von Zivilreligion die Rede sein“ könne, da das Konzept der Volkskirche „eine vollständige Ausdifferenzierung zwischen Kirche und Staat verhinderte“ (S. 215).

Die Rekonstruktion und Auswertung der Debatten um den Religionsunterricht im dritten Teil der Studie „Die Diskussion um den schulischen Religionsunterricht um 2004“ erfolgt nicht minder detailreich als die Auseinandersetzungen 130 Jahre zuvor, zumal die politischen Parteien sowie humanistische Verbände als zusätzliche Player das Diskursfeld betreten haben. Befeuert wurde die bildungspolitische Auseinandersetzung durch Pläne des Zürcher Regierungsrates, im Schulbereich Sparmaßnahmen auch auf Kosten der religiösen Bildung durchzusetzen, die wiederum zu entsprechenden Volksinitiativen zur Erhaltung des Faches „Religion und Kultur“ für die verschiedenen Stufen der Volksschule führten. Für Katzenstein wurden mit den Verfassungs- und Schulgesetzreformen Anfang des 21. Jahrhunderts die letzten strukturellen Verflechtungen zwischen Schule und Kirche aufgelöst, während zeitgleich die weltanschaulich-religiöse Heterogenität der Gesellschaft zunahm. Von der Schule und speziell von einem überkonfessionell gedachten Religionsunterricht wurden in den Debatten gesellschaftliche Integrationsleistungen abverlangt, die jedoch, so Katzenstein, „in ein Konkurrenzverhältnis zu Bildung als Leitfunktion der Schule“ gerieten (S. 290). Die Untersuchung in diesem Teil der Arbeit mündet in die These einer doppelten Form von Zivilreligion, die in den Debatten in Erscheinung traten: einer liberal-theologischen und einer freidenkerisch-aufklärerischen. Während die liberal-theologische Variante von Zivilreligion (im Sinne des amerikanischen Typs) auf der Annahme einer übergeordneten Lerngemeinschaft mit ihren Konzepten des interreligiösen Dialogs basiert, zeigt sich Zivilreligion in der aufklärerisch-freidenkerischen Form (im Sinne des französischen Typs) „in der Forderung nach Nicht-Thematisierung von Religion in einem schulischen Ethikunterricht, der […] eher als ethisch reflektierte Wertevermittlung gedacht wird“ (S. 291).

Im vierten und abschließenden Teil „Zivilreligiöse Erwartungen an die Schule – so what?“ bringt die Autorin ihre Befunde auf drei Thesen, die sich kritisch gegen die via Schule vermittelnden vergesellschaftende Funktion von Zivilreligion richten: (a) zivilreligiöse Erwartungshaltungen an die öffentliche Schule nehmen diese primär als Erziehungs- und nicht als Bildungsinstitutionen im Blick, (b) eine zivilreligiöse Überhöhung vermeintlich gemeinsamer gesellschaftlicher Werte verdecken bestehende Machtverhältnisse und (c) zivilreligiöse Tendenzen stehen der Entwicklung einer pluralen und multikulturellen Gesellschaft entgegen.

In bildungs- und schultheoretischer Perspektive ist zunächst These 1 von besonderem Interesse, da sie die Frage nach dem Verhältnis des sich selbst bestimmenden Individuums als Ziel des aufklärerischen Bildungsverständnisses in der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft thematisiert. In der Diskussion dieser These trennt Katzenstein deutlich zwischen einem legitimen staatsbürgerlichen und einem überhöhten zivilreligiösen Anspruch an die öffentliche Schule. Demnach kann der Staat von der Schule erwarten, „dass sie den angehenden Bürgerinnen und Bürgern diejenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten beibringt, die nötig sind, damit diese ihre staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte wahrnehmen können“ (S. 297). Dies schließt jedoch zugleich die Vermittlung von Moral, menschlichen Tugenden und Werten aus (s. These 2). Denn „sobald der Staat via Schule Einfluss nehmen will auf den ganzen Menschen, den Menschen per se, läuft er Gefahr, übergriffig zu werden und totalisierende Züge zu entwickeln“ (S. 299). Und so gilt: „Man kann nicht beides haben: eine pluralistische Gesellschaft und gesellschaftliche Einheit, die über rechtliche Integration hinausgeht“ (S. 306, siehe These 3).

Katzenstein ist zweifellos zuzustimmen, dass Rechtsstaatlichkeit die conditio sine qua non einer funktionierenden demokratischen und pluralistischen Gesellschaft ist. Ihren Überlegungen ist jedoch entgegenzuhalten, dass nicht nur Zivilreligion, sondern auch das Recht selbst eine homogenisierende Tendenz besitzt: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Aber abgesehen davon, dass Gesetzgebung und -auslegung stets Machtfragen beinhalten, zeigen aktuelle Rechtsprechungen beispielsweise zur religiös motivierten Beschneidung von Jungen, zum Bau von Moscheen oder zur Kopfbedeckung muslimischer Frauen, wie groß die Gefahr der Homogenisierung dessen ist, was dem Staat aufgrund der ihm gegebenen Verfassung eigentlich zu beschützen zur Aufgabe gestellt ist. Mit dem sogenannten Böckenförde-Diktum gibt Katzenstein bereits einen weiterführenden Hinweis (vgl. S. 301): In der Tat lebt „der freiheitliche […] Staat […] von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, denn der Staat kann nur bestehen, „wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen […], reguliert.“ Der Staat kann jedoch „diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben“.2 Wie sich also eine Gesellschaft innerhalb der verfassungsrechtlich geschützten Freiheit entwickelt, ob sie ihre Freiheitsrechte verkümmern lässt oder „mehr Demokratie wagt“, liegt in ihrer Verantwortung. Die Freiheitsrechte in Anspruch zu nehmen, bedarf aber nicht allein, wie Katzenstein vorschlägt, der Einübung in die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten, sondern einer affirmativen Haltung gegenüber dem freiheitlichen Staat und seiner Bürger. Mit anderen Worten gesagt hat der Rechtsstaat zwar den Anspruch darauf, Gerechtigkeit zu sichern, jedoch ist es nicht seine Aufgabe, beispielsweise den Anspruch auf Wertschätzung, Respekt und nicht einmal auf Toleranz durchzusetzen. Eine solche anerkennende Haltung gegenüber dem Menschen – wer es auch immer sei – ist jedoch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der heterogenen Gesellschaft essentiell, so dass – bei aller kritischen Aufmerksamkeit gegenüber zivilreligiösen Tendenzen – dessen Plausibilisierung, Einübung und Stärkung nicht dem schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag entzogen werden sollte.

Kurzum, Rahel Katzenstein hat mit ihrer Dissertationsschrift ein spannendes, kluges und provokatives Buch vorgelegt, das für Interessierte der Bildungsgeschichte, der Religionspädagogik und der Demokratiebildung viele wertvolle Anregungen enthält.

Anmerkungen:
1 Zu den rechtlichen Grundlagen des Religionsunterrichts in den 26 Kantonen der Schweizer Eidgenossenschaft siehe Thomas Schlag, Religiöse Bildung an Schulen in der Schweiz, in: Martin Jäggle / Martin Rothgangel / Thomas Schlag (Hrsg.), Religiöse Bildung an Schulen in Europa. Teil 1: Mitteleuropa, Göttingen 2013, S. 119–156.
2 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Sergei Buve (Hrsg.), Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart u.a. 1967, S. 75–94, hier S. 75.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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