Cover
Titel
Opening the Gates. The Lip Affair, 1968–1981


Autor(en)
Reid, Donald
Erschienen
London 2018: Verso
Anzahl Seiten
XVI, 492 S.
Preis
£ 40.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Beckmann, Berlin

Mit Opening the Gates legt Donald Reid eine ausgiebige Studie zu zwei Betriebsbesetzungen und der anschließenden Gründung von Produktionsgenossenschaften durch die Belegschaft der französischen Uhrenfabrik LIP vor. Da es sich dabei um einen bis heute rege erinnerten, emblematischen Arbeitskampf im Kontext von „1968“ handelt, ist das Thema keineswegs zu speziell für ein allgemein an Frankreich oder an der Geschichte sozialer Bewegungen interessiertes Publikum. Es stimmt, was Reid den Leser/innen in Erinnerung ruft: „Lip quickly became an affaire in the French sense of the term: it was a political and social conflict that preoccupied and divided France and led the French to confront major issues and to engage politically.“ (S. 3) Zu den vielen, die damals von LIP beeindruckt waren, gehören heute Archivar/innen, Arbeiter/innen und auch Reid selbst. Als die LIP-Arbeiter/innen im Arbeitskampf 1973 auf eigene Faust Uhren produzierten und diese in ganz Frankreich verkauften – ein geniales Mittel, um Lebensunterhalt und Solidaritätsnetzwerke gleichermaßen zu sichern –, war der Autor als junger Interessierter bei LIP. Seine (unausgesprochene) Motivation ist es auch, dieser Faszination nachzuspüren.

Was den Arbeitskampf bei LIP besonders machte, erfasst Reid hervorragend im Titel, dessen „opening the gates“ er als Leitmotiv in den folgenden 14 Kapiteln von verschiedenen Seiten diskutiert: Die Tore der Fabrik mit Ketten zu verschließen oder Särge mit der Aufschrift „Uhrenindustrie“ durch die Stadt Besançon zu tragen, versprach in der konkreten Lage keinen Erfolg. Der schweizerische Uhrenkonzern Ébauches, Mehrheitsaktionär des ehemaligen Familienunternehmens, meldete im Juni 1973 für LIP Konkurs an. Zuvor waren staatliche Fördermittel an die Bedingung einer Kapitalaufstockung geknüpft worden, die Ébauches nicht tätigen wollte. Durch den Konkurs war ein herkömmlicher Streik unmöglich geworden. Stattdessen öffneten die Beteiligten ihre besetzte Fabrik für Besucher/innen und begannen die illegal gesicherten Uhrenvorräte zu verkaufen; die erste Uhr ging an den Beigeordneten des Bürgermeisters. Es gelang ihnen, eine breite Unterstützung hierfür zu schaffen. Der „Moment LIP“ bestand in zahlreichen Begegnungen der Art, wie sie Michelle Zancarini-Fournel und Xavier Vigna in ihrer Forschung zu 1968 als „rencontres improbables“ bezeichnen.1 Diesen Begegnungen von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkünfte und den aus ihnen entstehenden Formen von Weggefährtentum widmet Reid folgerichtig seine Untersuchung.

Die Sozialgeschichte einer Belegschaft oder eine Wirtschaftsgeschichte der regionalen Uhrenindustrie möchte Reid nicht schreiben. Er lenkt das Hauptaugenmerk auf die „affaire“ und damit auf die Veränderungen bei zahlreichen externen Akteuren. Zu diesen gehörten linke Gruppen wie die „Gauche Prolétarienne“, die „Cahiers de Mai“, die bei der Erstellung der Belegschaftszeitung half, Parteien wie die Parti Socialiste Unifié (PSU), der einige wichtige Gewerkschafter bei LIP angehörten, Filmemacher/innen, Theatergruppen, aber auch gaullistische Politiker, Repräsentanten der Unternehmerschaft und viele andere mehr. Das Kapitel „From Besançon to the Chinkang Mountains“ ist besonders stark darin, die Veränderungspotentiale und Blockaden der genannten linken Akteure aufzuzeigen. Hervorzuheben ist Reids Schilderung der frühzeitig zurückgezogenen Präsidentschaftskandidatur von Charles Piaget 1974. Dieser Mechaniker und Werkstattleiter bei LIP, Gewerkschafter der Confédération française démocratique du travail (CFDT) und Mitglied der PSU, erhielt die Unterstützung Prominenter wie Alain Geismar und Alain Krivine für seinen Versuch, Basisbewegungen wie die bei LIP in den Wahlkampf zu tragen. Zunächst erhielt er Rückhalt auch von größeren Teilen seiner eigenen Partei, dann folgte die PSU aber schnell der Entscheidung ihres Parteivorstands, die Kandidatur François Mitterrands zu unterstützen. Gegenwind bekam Piaget vom Generalsekretär der CFDT-Metallgewerkschaft: Ein noch so guter Gewerkschafter im Betrieb verfüge nicht zwangsläufig über die Fähigkeiten, die es für eine Präsidentschaft brauche. Am Haupteinsatz Piagets, der auf die Aufwertung basisdemokratischer Auseinandersetzungen zielte, ging diese Kritik vorbei. Was LIP berühmt machte, das waren die zahlreichen Vollversammlungen, Arbeitsgruppen und Diskussionen. Hierzu gehörten auch ein von den Gewerkschaften misstrauisch beäugtes Aktionskomitee und vor allem die öffentliche Artikulation vieler Einzelner, nicht zuletzt der Frauen bei LIP. Diese thematisierten ihre eigenen Arbeitsbedingungen, den Sexismus in den Gewerkschaften und vieles mehr.

Diese Reibungen schildert Reid anschaulich, dem „women’s Lip“ widmet er ein Kapitel. Andere Konflikte und Missverständnisse bleiben bisweilen zugunsten einer optimistischen Lesart der „rencontres improbables“ unterbelichtet. Dies betrifft vor allem Reids Interpretation der „community“ (S. 10), die er berechtigterweise zu einem der Drehpunkte seiner Untersuchung macht. Das Wort der „communauté“ erhielt bereits in der Betriebsbesetzung 1973 eine Bedeutung, die Begegnungen, gegenseitige Verantwortung und ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl der Beteiligten verband.

Als nach einem zweiten Konkurs 1976 eine erneute, lange Betriebsbesetzung erfolglos blieb, entschieden sich die Beteiligten zur Gründung einer Genossenschaft im Bereich der Uhren- und Mechanikproduktion. Weitere Produktionsgenossenschaften und ein Unterstützerverein folgten. Die Betriebe kamen jeweils zwischen Mitte der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre an ihr Ende. Ab 1977 war umstritten, welche Rolle der Genossenschaft zukommen und wie und ob die Betriebsbesetzung weitergehen sollte. Das Wort der „communauté“ wurde nun von einigen Beteiligten mit großen Ansprüchen zur gegenseitigen Selbstverpflichtung verbunden, die von anderen vehement kritisiert wurden. Dominique Bondu, ein aus der „Gauche Prolétarienne“ zu LIP hinzugekommener Soziologe, setzte 1980 einen „Solidaritätsvertrag“ auf, mit dessen Selbstverpflichtungen die Beteiligten sich gewissermaßen selbst zum Arbeitsamt gemacht hätten. Vom Gros der Mistreiter/innen wurde dieser deshalb abgelehnt. Reid hingegen zitiert den Vertrag als gelungenes Beispiel für das Weggefährtentum und als positiven Ausdruck der „Community“, ohne ihn inhaltlich zu problematisieren oder die Diskussionen hierum aufzuzeigen. Dabei ist einer der bemerkenswerten Befunde bei LIP die Tatsache, dass sich viele der Beteiligten weder von der übersteigerten Gemeinschaftsrhetorik gefangen nehmen ließen, noch von einem neuen Management-Enthusiasmus, dem sich manche ihrer Wegbegleiter hingaben.

Die zahlreichen Zitate und die literarische O-Ton-Verwendung im Buch machen die Darstellung lebendig, das Lesen ist eindeutig ein Vergnügen. Aber in ihr stecken auch Probleme. Denn es werden besonders die Protagonisten zitiert, die schon damals die Diskussionsergebnisse und Denkimpulse schriftlich festhielten. Und manche Auseinandersetzungen werden durch die vielen Zitate eher obskur als verständlich. Dies ist insbesondere dort der Fall, wo kontextualisierende Erklärungen zu den Veränderungen des französischen Genossenschaftsrechts, zur Politik der Linksregierung oder zur regionalen industriellen Entwicklung zum Verständnis nötig gewesen wären. Diese standen aber nicht im Fokus der Untersuchung.

An die Stelle eines eigenen Fazits stellt Reid ein vielstimmiges Nachwort aus den retrospektiven Urteilen und der Erinnerungsarbeit anderer. Das ist schade. Denn ein solches Fazit hätte den Fokus auf manche Fragen lenken können, die in der Erinnerung selten auftauchen. Es sind dies die konkreten Potentiale und Risiken von Belegschaftsübernahmen in oder nach Konkursen, Veränderungen im institutionellen Umgang mit der Arbeitslosigkeit seit den 1970er-Jahren sowie die Probleme von Kämpfen um industrielle Arbeitsplätze damals und heute.

Über das breite Zielpublikum schießt der Band vielleicht durch seine Länge hinaus. Dennoch sind dem Buch viele Leser/innen zu wünschen. Der Einfallsreichtum der Beteiligten, ihre selbstbewusste Setzung von Legitimität, ein Durchhaltevermögen, das nur mit Humor zu erreichen ist, all das bleibt nach der Lektüre haften. Das Besondere der „LIP-affair“ also, auch ganz im englischsprachigen Sinn, hat der Autor sehr gut eingefangen.

Anmerkung:
1 Xavier Vigna / Michelle Zancarini-Fournel, Les rencontres improbables dans «les années 68», in: Vingtième Siècle. Revue d'histoire 101/1 (2009), S. 163–177.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension