M. Würfel: Das Reichsjustizprüfungsamt

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Titel
Das Reichsjustizprüfungsamt.


Autor(en)
Würfel, Martin
Reihe
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts
Erschienen
Tübingen 2018: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XIV, 228 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elena Barnert, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Man kann sich das Reichsjustizprüfungsamt als ein gewaltiges Frachtschiff vorstellen. Installiert per Führererlass, hatte es von 1934 an die angesichts des fast allseits geteilten Erneuerungseifers nicht allzu sperrige Aufgabe, die Juristenausbildung im Deutschen Reich zu übernehmen und auf eine einheitliche Linie zu bringen. Das tonnenschwere Transportgut war die nationalsozialistische Geisteshaltung; die gezahlte Fracht – das Beförderungsentgelt – war die frisch geprägte Falschgoldmünze völkischen Verschmelzungsdenkens. Auf der Kommandobrücke stand mit Otto Palandt, intellektuell betrachtet, ein Leichtmatrose. Roland Freisler hatte ihn ins Präsidentenamt geholt. Die seit ungefähr zwei Jahren geführte Debatte, ob der nach Palandt betitelte weithin gebrauchte Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch aufgrund Palandts willfährigen Mittuns bei der Verbreitung des beschriebenen Frachtguts umzubenennen sei oder aber ob das Signum Palandt unter anderem aus Gründen der Überlieferungsehrlichkeit und zur Ermöglichung einer komplexen, nicht glattgebügelten Erinnerungskultur beibehalten werden solle, hat den Rand der politischen Bühne erreicht und gerät vielleicht gerade deswegen allmählich ins Stocken.

Nie voll in Fahrt gekommen und nie ganz versiegt ist die Debatte über die Beschaffenheit der traditionell richterzentrierten Juristenausbildung. Diese Debatte ist nicht nur für die Juristen wichtig, da die Qualität der Juristenhirne das Staatswesen wesentlich prägt. Doch mal fehlt es an Veränderungsinteressen, mal an Reformideen. Nach Worten von Rudolf Wiethölter, einem der großen Rechtsaufklärer der Nachkriegszeit, ist der Leitspruch des Comenius, Omnes omnia omnino, die klassische juristische Ausbildungsformel schlechthin. Was aber in welcher Gewichtung unter das unbezwingbare, weil oft mehr detail- denn prinzipienorientiert verstandene omnia der Juristen zu fallen habe, darüber gehen die Meinungen auseinander. Syllogistisches Denken und Denken in Abwägungen, Gesetzeskunde, Dogmatik und System, Politik, Wirtschaft, Soziologie, Psychologie, Philosophie, Geschichte, Methodenlehre, und dann auch noch, omnino, die (herkömmlich dem Universitätsstudium nachgeschaltete) Einübung in die Praxis – viel Allumfassendes und ineinander Verschränktes, das die Hirne zu überfrachten droht, wenn es ihnen nur isoliert und punktuell und nicht integrativ und übergreifend beigebracht wird.

In Führerzeiten gehörte zum omnia der Juristen auch etwa die Fähigkeit zur Erörterung der „Bedeutung der Meerengen im Mittelmeer“ (Prüfungsaufgabe vom September 1939) oder der „Hauptgründe für den Kampf gegen das Judentum“ (November 1941). Ausgedacht haben sich diese Aufgaben Mitarbeiter des Reichsjustizprüfungsamtes in Berlin, und diese Behörde, die im NS-Staat die Juristenausbildung lenkte, ist Gegenstand der Anfang 2019 erschienenen Hallenser Dissertation von Martin Würfel. Erstmals liegt damit eine eingehende Untersuchung des Reichsjustizprüfungsamtes vor. Sie beruht auf gründlicher Archivarbeit und beschreibt sowohl das Amt in seinem Aufbau und Innenleben als auch die dort gepflegte Prüfungspraxis. Kant hat über die Wissenschaft in seiner „Anthropologie“ gesagt: „Es gibt […] gigantische Gelehrsamkeit, die doch oft zyklopisch ist, der nämlich ein Auge fehlt: nämlich das der wahren Philosophie, um diese Menge des historischen Wissens, die Fracht von hundert Kamelen, durch die Vernunft zweckmäßig zu benutzen.“ Würfel sichtet die Fracht und schaut dabei mit beiden Augen hin.

Zunächst wurde das Schiff startklar gemacht. Im Zuge der (schon länger diskutierten) „Verreichlichung“ der Rechtspflege trat Mitte 1934 die Justizausbildungsordnung des Reiches in Kraft, zusammen mit einigen Verordnungen und Verfügungen die normative Basis des Reichsjustizprüfungsamtes. Gleichsam in Perversion von Rudolf von Jherings Satz, das Recht sei die wohlverstandene Politik der Gewalt, hieß Rechtsunterricht unter Hitler und Palandt, dass das Orientierungsverhalten der jungen Juristen, skills und auch habits betreffend, schneidig linientreu auszurichten sei. Diesem vom allergrößten Teil des Juristenstandes anstandslos anerkannten Zweck dienten das neue Prüfungsfach der „allgemeinen völkischen Bildung“, das Hinzukommen eines weiteren, des „volkskundlichen Prüfers“ im Mündlichen – alias „völkischer Beobachter“ – zur Überprüfung von NS-Grundsatzfestigkeit, sowie die Umpolung der Arbeitsgemeinschaften im Referendariat hin zu „weltanschaulich-schulenden“ Veranstaltungen (S. 65) samt Ausflügen mit Morgengymnastik, Grammophonmusik, Rauchen, Plaudern, Flussbaden und Fachvorträgen (S. 108ff.). Von den Examensprüfern und Arbeitsgemeinschaftsleitern wurde – nobile officium in NS-Übersetzung – ihrerseits Linientreue erwartet. Einige Male prüfte Carl Schmitt Examenskandidaten (zu „Feindbegriff“, „Seekrieg“ oder zur „Rechtsform des Winterhilfswerks“), zuweilen Roland Freisler, und immer wieder Otto Palandt, den Würfel als Hauptakteur im Reichsjustizprüfungsamt ausführlich vorstellt (S. 79ff.), unter Einbezug bislang noch nicht bekanntgewordenen Archivmaterials und mit plausibler Charakterzeichnung.

Die Prüfungspraxis des Amtes, also sein Wirkungsmodus bei der Schulung geistig kampfbereiter Leibregimenter, macht den längsten Teil von Würfels Studie aus. Wert- und wertungsfreies Subsumieren gibt es nicht. Dass 1933ff. klar war, welche Werte Richtschnur zu sein hatten, lässt sich beispielhaft zwei Zivilrechtsklausuren vom Jahr 1944 entnehmen, laut Würfel (S. 144) die einzigen beiden in dem von ihm untersuchten Bestand, die „nationalsozialistisches Rechtsdenken mit einer klassischen zivilrechtlichen Fragestellung verknüpfen“ (zumeist lagen die anderen Rechtsgebiete offensichtlicher auf Kurs): Einmal ging es neben anderem darum, ob einem emigrierten und ausgebürgerten Kommunisten qua letztwilliger Verfügung seines Vaters ein Geldbetrag zusteht (nein), ob der Vater seiner Tochter aufgrund ihrer Eheschließung mit einem Juden den Pflichtteil entziehen durfte (ja) und inwiefern die Ehefrau mit Blick auf das „gesunde Volksempfinden“ gegenüber der Geliebten erbrechtlich zu schützen ist; das andere Mal war zu diskutieren, ob ein Mann Verlobungsgeschenke zurückfordern kann, wenn er der Frau verschwiegen hatte, dass er „Mischling 2. Grades“ ist und sie nach Kenntniserlangung vom Verlöbnis zurücktritt (Fallvariante: „Mischling 1. Grades“, wovon der Mann allerdings nichts wusste). Mühelos ließen sich das erlernte Subsumtionsschema, „alte“ Regeln und „neuer“ Geist miteinander vereinbaren, und ebenso mühelos fügten sich die genuin nationalsozialistischen Normen in die Juristenhirne ein – was sich zum Beispiel auch aus Anhang III ergibt, wo die Lösung des Prüflings Hans B. zu einer Klausuraufgabe vom Jahr 1936 abgedruckt ist, zur Zulässigkeit der Verhängung von Schutzhaft gegen einen vor Gericht freigesprochenen Kommunisten durch die Gestapo. (Welche in Würfels Buch auch außerhalb der Klausursituation vorkommt, so bei seiner Schilderung, wie sie „Jagd auf ,jüdische‘ Repetitoren und deren Hörer“ machte [S. 122]. Die Examensvorbereitung musste ebenso „arischen“ Ursprungs sein wie der Examinand selbst).

Rein ideologiebezogen – evident oder verkappt – war das Gros derjenigen Themen, die unter der euphemistischen Rubrik „Geschichtliche Aufgabe“ zu behandeln waren. Diese Klausur zum Ziele der Begutachtung der „allgemeinen völkischen Bildung“ trat 1934 zu den vieren im Zivil-, Straf-, Bauern-/Arbeits-/Wirtschafts- und öffentlichen Recht hinzu. Bei jedem Prüfungstermin standen drei Themen zur Auswahl, und Würfel listet in seinem Anhang I („,Geschichtliche Aufgaben‘ in der Großen Staatsprüfung von 1935 bis 1942“) nicht nur diese auf – als Nachspann zu seiner aufschlussreichen Analyse von Inhalt und Art der Aufgaben (S. 165ff.) –, sondern auch die Zahlen dazu, wie viele Examenskandidaten sie jeweils bearbeiteten. Wenig überraschend erörterten so etwa im Februar 1941 neunzehn Referendare „Die Mobilisierung der Kräfte des deutschen Volkes durch den Führer“ gegenüber acht zu „Napoleon Bonaparte und England“ und fünf zu „Gold und Geld und ihre Bedeutung im Lauf der Zeit“. Die letzten ausgegebenen Themen nach Würfels Auflistung, vom Februar 1942, bevor die Menschenerziehung ganz hinter dem Menschenmorden zurücktrat, waren „Der Kampf in Ostasien und in Nordafrika in seiner Bedeutung für den Gesamtkrieg“, „Friedrich der Große als Vorbild und in seiner Bedeutung für das deutsche Volk“ sowie die unfreiwillig endsiegskeptisch anmutende Frage „Durch welche Maßnahmen kann der Einsatz für kriegswichtige Zwecke noch weiter gesteigert werden?“. Egal was den Examenskandidaten hierzu eingefallen sein mag, es nützte bekanntermaßen nichts.

Heute gibt es kein großes Frachtschiff mehr, das unter Reichsflagge die Juristenausbildung steuert. Gemäß dem Föderalismusprinzip haben die Landesjustizprüfungsämter zu gewährleisten, dass, wie es exemplarisch in der Präambel zum Hessischen Juristenausbildungsgesetz heißt, „kritische, aufgeklärt rational handelnde Jurist[en]“ geformt werden, die sich ihrer „Verpflichtung als Wahrer des freiheitlich demokratischen und sozialen Rechtsstaats bewusst“ sind und „in der Lage […], die Aufgaben der Rechtsfortbildung zu erkennen“. Rudolf Wiethölter, auf den diese Wendung zurückgeht, hatte zwischen „aufgeklärt“ und „rational“ einen Bindestrich vorgesehen, welchen der hessische Gesetzgeber indes vergaß (oder ignorierte respektive eliminierte). Seitdem gibt es nun „das spannende rechtsphilosophische Problem, ob ein Jurist oder eine Juristin auch unaufgeklärt rational oder aufgeklärt irrational handeln kann“.1 Das wäre einmal eine reizvolle Aufgabe für Examenskandidaten. Jedenfalls müssten sie dafür die Bereitschaft zur Selbstreflexion gelernt haben, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, ein Freiheitsethos und – eben –, vergleiche Kant, ein Stückchen Philosophie. Solches Frachtgut hatte das Reichsjustizprüfungsamt freilich nicht an Bord.

Anmerkung:
1 Klaus Günther, Philosophie des Staatsexamens, in: Kritische Justiz (2001), S. 126–130, hier S. 127.

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