Titel
Vom Feind zum Partner. Die Niederlande und Deutschland seit 1945


Autor(en)
Wielenga, Friso
Reihe
Reihe agenda Politik 21
Erschienen
Münster 2000: Agenda Verlag
Anzahl Seiten
522 S.
Preis
DM 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joes Segal, Universitaet Utrecht (Fachbereich Geschichte)

In den fünfziger Jahren war die Bundesrepublik Deutschland für die Niederlande ein Partner aus Notwendigkeit, vierzig Jahre später war sie längst ein Partner aus Überzeugung geworden. Der Prozeß der dazu geführt hat, wird von Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, eingehend skizziert. Daß es sich dabei nicht um eine ungebrochene bilaterale Erfolgsgeschichte handelt, versteht sich von selbst. Der Krieg hat in den Niederlanden, vielleicht mehr noch als in anderen westeuropäischen Ländern, tiefe psychologische Wunden geschlagen, die das Verhältnis zur Bundesrepublik für längere Zeit tiefgreifend prägten.

Gleich in den ersten Nachkriegsjahren war die niederländische Haltung Deutschland gegenüber ausgesprochen zwiespältig. Auf wirtschaftlicher Ebene erhoffte man sich eine möglichst schnelle Wiederaufnahme der Handelskontakte, und gleich nach der Gründung der Bundesrepublik sprachen niederländische Politiker sich für eine wirtschaftliche und militärische Westbindung Westdeutschlands aus - nicht nur weil sich die Fronten inzwischen geändert hatten und die Niederlande ein offensichtliches strategisches Interesse an einem zukünftigen deutschen Mitgliedschaft der NATO hatten, sondern auch um eine mögliche zukünftige 'deutsche Gefahr' besser neutralisieren zu können. Andererseits blieb das politische Verhältnis zum ehemaligen Kriegsgegner vorläufig angespannt. Dabei kam es zu paradoxen Signalen. Der niederländische Justizminister Kolfschoten beschloß im August 1945, alle in den Niederlanden wohnenden Deutschen des Landes zu verweisen, während Außenminister van Kleffens gerade die Annektierung deutscher Gebiete forderte, die dem niederländischen Königreich bis zu 119.000 neue Deutsche Einwohner einbringen würde. Aus diesen Forderungen wurde fast nichts; anstelle der ursprünglich geforderten ca. 10.000 km2 deutsches Land einigte man sich im April 1949 über eine 'Grenzkorrektur' im Umfang von 69 km2, die überdies mit der Unterzeichnung der bilateralen 'Generalbereinigung' (1963) zu 94% rückgängig gemacht wurde.

Mehrdeutig war auch das niederländische Verhältnis zu den respektiven deutschen Regierungen unter Adenauer. Einerseits wurde dessen klares politisches Eintreten für eine Westbindung der Bundesrepublik nachdrücklich unterstützt, und sah man in der 'neutralistischen' Haltung von Oppositionsleiter Schumacher eine große Gefahr für das politische und militärische Gleichgewicht Europas. Andererseits rügte man die - nach eigenem Empfinden - unnachgiebige Einstellung der Deutschen während der Verhandlungen über Kriegsschulden (ab 1956 in der Form von Verhandlungen über eine Generalbereinigung), und wurde Adenauer, vor allem gegen Ende seiner Regierungszeit, einer autoritären und sogar antidemokratischen Führungsstil bezichtigt.

Undifferenzierte gegenseitige Stereotypierungen waren vor allem in den fünfziger Jahren an der politischen Tagesordnung. Mancher niederländischer Politiker und Botschafter zufolge waren die Deutschen megaloman, sklavisch in ihrer Verehrung von Führern und im tiefsten Wesen undemokratisch. Die Niederländer wurden ihrerseits von deutschen Botschaftern wie von Holleben, Mühlenfeld und Dvorak als intellektuell träge, extrem nachtragend und im tiefsten Wesen ausländerfeindlich gekennzeichnet. Der niederländische Außenminister Luns hat sich Anfang der sechziger Jahre vehement gegen den von De Gaulle mit Unterstützung von Adenauer lancierten Plan für eine Europäische Politische Union ohne Großbritannien ausgesprochen. Botschafter van Vredenburch hat kommentiert: 'Wir Niederländer haben unter Napoleon erfahren, was ein französisches Europa bedeutet, und unter Hitler lernten wir, wie ein deutsches Europa aussehen könnte. Es scheint mir nicht schwer vorherzusagen, daß ein Europa unter einer französisch-deutschen und später deutsch-französischen Hegemonie - vorsichtig ausgedrückt - nicht unserem Volkscharakter entsprechen wird und wahrscheinlich nicht im Interesse unseres Volkes liegt.' (S. 104)

Seit dem Godesberger Programm (1959) und Wehners Bundestagsrede vom Juni 1960, mit denen die Grundlagen von Adenauers westlicher Integrationspolitik unterschrieben wurden, hatte sich die SPD in den Augen niederländischer Politiker und Diplomaten zu einer seriösen politischen Alternative entwickelt. Ende der sechziger Jahre fanden Brandts demokratische Erneuerung und seine Ostpolitik in den Niederlanden einen durchaus positiven Widerhall. Als 1972 ein Vertreter der CDU in Den Haag eintraf, um für die ablehnende Haltung seiner Partei gegen die Warschauer und Moskauer Verträge zu werben, antwortete ihm Außenminister Schmelzer, daß die (konfessionell-liberale) niederländische Regierung für eine solche Haltung nicht das geringste Verständnis aufbringen konnte. Niederländische Kritik auf den sozialdemokratischen deutschen Regierungsstil der siebziger Jahre kam auffälligerweise vor allem vom linken Flügel der Schwesterpartei PvdA und von den anderen kleinen linken Parteien (CPN, PSP und PPR), die sich schwer taten mit dem Radikalenerlaß und der 'überzogenen' politischen Antwort auf die Aktionen der RAF. Wielenga zitiert PvdA-Vorstandsmitglied Sonja van der Geest, die unter völliger Verkennung jeglicher politischer und historischer Realitätssinn bekundete: 'Wenn wir jetzt nichts tun, wäre dies eine Art München'. (S. 394, gemeint ist der Münchener Vertrag von 1938) Dessenungeachtet war das deutsch-niederländische Verhältnis der siebziger und achtziger Jahre im allgemeinen relativ entspannt.

Wärend der deutschen Wiedervereinigung 1989/90 entstand in Deutschland der Eindruck, daß man in den Niederlanden den politischen Entwicklungen jenseits der Ostgrenze mißtrauisch gegenüber stand. Minister-Präsident Lubbers hatte sich negativ zu Kohls Zehnpunktenplan geäußert und das 'Gerede über Selbstbestimming' als gefährlich abgelehnt. Die Stimmung in den Niederlanden, so wie sie von Außenminister van den Broek ab Januar 1990 vertreten und von der großen Mehrheit des Parlaments, der Medien und der Bevölkerung getragen wurde, war jedoch eine ganz andere: ein fest in der NATO und der EG eingebundenes wiedervereinigtes Deutschland wurde mehrheitlich begrüßt. Doch hatte sich in der Bundserepublik den Eindruck gefestigt, daß Lubbers im Namen seiner Regierung gesprochen hatte. Übrigens hat Lubbers später versucht, seine Rolle als Skeptiker in diesem Prozeß zu vertuschen.

Eine gewisse Störung im bilateralen Verhältnis ergab sich auch 1993, als die Ergebnisse einer vom Institut Clingendael durchgeführten Umfrage unter Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahr bekannt wurden, in denen den Deutschen unter anderem mehrheitlich eine kriegslüsterne Mentalität bezichtigt wurde. Es hat sich später herausgestellt, daß dieses negative Ergebnis teilweise von einer suggestiven Fragestellung gefördert wurde. Natürlich spielten auch die rechtsextreme Überfälle gegen Ausländer, die gerade zur Zeit der Umfrage ihren Höhenpunkt (besser: Tiefpunkt) erreichten, eine erhebliche Rolle. Nicht zu Unrecht empört waren viele Deutschen ebenfalls im Jahre 1993 über die Postkartenaktion 'Ik ben woedend' (Ich bin wütend), mit der 1,2 Millionen Niederländer ungefragt den deutschen Rechtsextremismus kommentierten als wäre es eine deutsche Volks- und Regierungssache. Dieser Ausbruch eines oberflächlichen ethischen Sendebewußtseins war aber schnell wieder verflogen, zumal die deutsche Öffentlichkeit (mit den Lichterketten) und - zugegebenermaßen etwas verzögert - die deutschen Behörden ein deutliches Zeichen setzten.

Der Verdienst des vorliegenden Buches ist es, die deutsch-niederländischen Beziehungen seit dem Kriege thematisch differenziert und, innerhalb der selbstgewählten Begrenzungen, nahezu flächendeckend vorzustellen. Das gab es bisher noch nicht. Die Studie 'Zwei ungleiche Nachbarn, Wege und Wandlungen der deutsch-niederländischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert' von Horst Lademacher (1990) beschränkt sich hinsichtlich der Nachkriegsgeschichte hauptsächlich auf die ersten Jahre nach 1945, während andere Publikationen zum Thema sich mit kürzeren Zeitspannen oder mit Einzelaspekten des bilateralen Verhältnisses beschäftigen. Wielenga hat sich den Gebieten der wirtschaftlichen und militärischen Zusammenarbeit, der politischen Kontakten und der psychologischen Beziehungen zwischen beiden Ländern gewidmet, die künstlerische und kulturelle Beziehungen etwa bleiben nahezu vollständig ausgeklammert.

Als Quellenmaterial hat Wielenga, nebst Zeitungsartikel und Meinungsumfragen, die für den gesamten Zeitraum nahezu frei zugänglichen niederländischen Kabinettsprotokollen, Parlamentsakten und Materialien aus dem Archiv des Außenministeriums heranziehen können. Für die deutschen Quellen war dies nur eingeschränkt möglich, weil die Regierungs- und Behördenarchive erst nach dreißig Jahren für die Forschung geöffnet werden. Das Fehlen der deutschen Primärquellen seit dem Mitte der sechziger Jahre konnte teilweise durch Pressematerial, Politikermemoiren sowie durch indirekte Verweise im Archiv des niederländischen Außenministeriums wettgemacht werden.

Alles in allem hat Wielenga ein kenntnisreiches, gründliches und auch lesenswürdiges Buch geschrieben. Der Ton seiner Ausführungen ist objektiv-beschreibend, wenn er auch in einigen Fällen nicht dafür zurückschreckt, sein Urteil deutlich kennbar zu machen. Meistens mag man ihm dabei zustimmen, z.B. in seiner Kritik auf die manchmal etwas billigen antideutschen Sentimenten bei den 'neuen Linken' in den siebziger Jahren, oder in seinem Kommentar auf das ungeschickte Auftreten des Minister-Präsidenten Lubbers im Kontext der deutschen Wiedervereinigung. Eine gewisse Einseitigkeit ist ihm aber nicht fremd. So rügt er die 'moralisierende' niederländische Einstellung bei den Unterhandlungen in den fünfziger und den frühen sechziger Jahren, doch kann man für das niederländische Verlangen nach einer symbolischen Geste des Bedauerns, die in den fünfziger Jahren von den Deutschen nicht zu haben war, auch einiges Verständnis aufbringen. Andererseits hat Wielenga durchaus Recht, wenn er den Holländern eine Doppelmoral und ein selektives Gedächtnis der eigenen Kriegsgeschichte vorwirft.

Über die These, daß der apolitisch-moralisierende Haltung vieler Niederländer gegenüber der Bundesrepublik einen typisch niederländischen Charakterzug verrät, wie Wielenga betont, läßt sich diskutieren. Auch in der Bundesrepublik hat es bekanntlich vehemente Kritik am vermeintlich fehlenden demokratischen Gehalt der politischen Praxis gegeben, dann und wann auch an der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur und der imperialistischen Tendenz westlicher Staaten. Abgesehen davon, daß jede Gesellschaft sich auf bestimmte, mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Grundwerte beruft und somit in gewisser Weise immer 'moralisierend' wirkt, scheinen die intellektuellen und kulturellen Entwicklungen in der Bundesrepublik und den Niederlanden gerade auffallende Parallele aufzuweisen. Hier ist nicht der Platz, diese These näher zu dokumentieren, doch genügt die Feststellung, daß die Konzentrierung auf die niederländische Rezeptionsgeschichte der deutschen Politik den Blick für solche Parallele etwas zu trüben scheint. Doch muß man fairerweise sagen, daß eine solche 'Parallelgeschichte' den klaren Rahmen der vorliegenden Studie sprengen würde.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension