Cover
Titel
Radiokunstgeschichte. Bildende Kunst und Kunstvermittlung im frühen Rundfunk der 1920er bis 1940er Jahre


Autor(en)
Zeising, Andreas
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
677 S., 120 SW-Abb.
Preis
€ 100,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Stuhlmann, Department of Modern Languages and Cultural Studies, University of Alberta, Kanada

Mit ihren 675 Seiten ist die Habilitationsschrift von Andreas Zeising ein wuchtiger Beitrag zur Mediengeschichte des Radios ebenso wie zur Mediengeschichte der Kunstgeschichte. Der Titel „Radiokunstgeschichte“ ist eventuell missverständlich, und deshalb bemüht der Autor sich gleich in der Einleitung um Klarstellung: Das Buch bietet keine Geschichte der Radiokunst und ihrer Formen, wie Hörspiel oder Feature, sondern es untersucht den Beitrag des Rundfunks zur Vermittlung von Kunst und Kunstgeschichte in den Jahren zwischen 1923 und 1946 (S. 11). So scheinbar doppeldeutig der Titel auf den ersten Blick, so vermeintlich widersprüchlich ist das Anliegen: Wie soll ausgerechnet ein ausschließlich auditives Medium „das Sehen lehren“?

Zeising zitiert den Berliner Kunsthistoriker Wilhelm Waetzold, der 1931, acht Jahre nach Einführung des öffentlich-kommerziellen Rundfunks, in einer der ersten Nummern der Zeitschrift „Rufer und Hörer“, die für die kritische Begleitung des Rundfunks für Jahrzehnte zum Leitmedium werden sollte, schrieb: „Für Kunstgeschichte am Lautsprecher einzutreten, ist eine undankbare Aufgabe, Rufer und Hörer haben nämlich sofort eine Reihe von Einwänden bereit [...]. Über Kunst zu sprechen ohne Anschauung soll ein trauriger Notbehelf sein, mit ‚funkischen‘ Mitteln ließe sich eine Anschauung von schaubaren Dingen ja doch nicht geben“ (S. 14).

Als ein mit der Geschichte seiner Disziplin vertrauter Kunsthistoriker weiß Zeising um die Crux mit den Bildern und rekurriert darauf, dass ihre problematische Reproduzierbarkeit, ihre Abstinenz, ihr Entzug der Kunstgeschichte von Beginn an eingeschrieben waren. Als versierter Medienhistoriker weiß er zugleich auch, dass das neue Massenmedium des Rundfunks im Zuge einer rasanten Konvergenzbewegung Inhalte und Formen älterer Medien in sich aufgesaugt und in eigene Formate übersetzt hat: das Theater wurde zum Hörspiel, das Konzert sprengte die Grenzen des Saales. Doch gerade bei der Kunstvermittlung kann sich das Radio die letzte große technische Innovation, das Lichtbild, nicht einverleiben. Zeising vermag an einer Reihe von beeindruckenden Beispielen zu zeigen, wie der Rundfunk das vermeintliche Manko der Bildlosigkeit nicht nur kompensiert, indem es die Kunst der Ekphrasis1 rhetorisch perfektioniert, sondern tatsächlich ganz genuin radiophone Formen der Kunstvermittlung findet.

Die Arbeit gliedert sich in insgesamt siebzehn Kapitel, die die Diskursgeschichte der Radiokunst nicht nur als Dispositivgeschichte des Radios – also seiner technischen und institutionellen Entwicklung – nachzeichnen, sondern auch als Geschichte der Ausbildung einer Sprache der Kunstkritik und Kunstgeschichtsschreibung in und für das Radio sowie der Entwicklung neuer innovativer Formate unter wechselnden politischen Rahmenbedingungen. Angesichts der katastrophalen Quellenlage zur Geschichte des frühen Rundfunks ist schon allein die Erhebung hunderter Textdokumente eine immense Leistung, darunter der Wiener Radio Verkehrs AG (RAVAG), der Berliner Funk-Stunde AG, des Reichssenders Berlin, der Deutschen Welle GmbH, des Deutschlandsenders Berlin, des Südwestdeutschen Rundfunkdienstes (Radio Frankfurt), der Münsteraner Westdeutschen Funkstunde AG (WEFAG), der Kölner Westdeutschen Rundfunk AG (WERAG), der Bayerischen Rundfunk GmbH und des Reichssenders München.

Eine wichtige Ausbeute von Zeisings Recherchen ist die Neubewertung der Rolle der Programmzeitschriften mit ihrer Fülle an überraschendem Text-, vor allem aber an Bildmaterial, insbesondere Illustrationen von bedeutenden zeitgenössischen Künstler/innen. Auch wenn diese beeindruckende Materialfülle notwendigerweise weiße Flecken auf einer historischen wie geographischen Kartierung der Radiokunstgeschichte offenbart, die Historiker/innen eventuell unbefriedigt lassen, so entsteht doch ein ungemein plastisches Bild der Bestrebungen um eine Vermittlung kunsthistorischer Inhalte in dem neuen populären Massenmedium. Der Vorteil von Zeisings Auswahl liegt darin, dass er eine Reihe unterschiedlicher Ballungsräume abdeckt, die zudem zentrale Schauplätze der Gegenwartskunst und der akademischen Kunstrezeption waren. Trotz der Materialfülle gewinnt diese nie die Oberhand, sondern wird von Zeising in zahlreichen Fallstudien pointiert für seine Argumentation eingesetzt.

Es sind diese Fallstudien, die dem Band seine Tiefenschärfe geben. Im Zentrum stehen immer wieder jüdische Kunstkritiker und -publizisten wie Max Osborn, Helmut Jaro Jaretzki oder Paul Westheim. Etwa, wenn Zeising die biografischen Künstlerporträts Westheims, eines der wichtigsten Vorkämpfer der Moderne und Advokaten von Malern wie Ernst Barlach oder George Grosz, mit den kultursoziologischen Überlegungen seines Freundes und Kollegen Siegfried Kracauer abgleicht, der die Konjunktur biografischer Formen auf die wachsende soziale Bedeutung der Angestellten zurückführte, die in einer schon damals extrem durchrationalisierten und arbeitsteiligen Gesellschaft nach Sinnstiftung in buchstäblich vorbildlichen Lebensentwürfen suchten. Allerdings ist es überraschenderweise Westheims Porträt des Münchener „Malerfürsten“ Franz von Lenbach aus dem Jahr 1930, das Zeising aufgrund seiner kompositorischen Anschaulichkeit und literarischen Dichte ins Zentrum seiner Analyse stellt und im Anhang seiner Studie im Wortlaut dokumentiert (S. 137–139, S. 516–518).

Anregend ist in diesem Zusammenhang auch Zeisings Interpretation zweier Rundfunkgespräche für die Berliner Funk-Stunde 1931, die beide aus verschiedenen Gründen grotesk verliefen: Während das erste, zwischen dem sozialistischen Publizisten Kurt Hiller und dem bürgerlichen Maler und Grafiker Ludwig Meidner „über den Zweck der Kunst“ (S. 213f.), mit dem Sieg des Medienprofis (Hiller) über den um authentischen Selbstausdruck ringenden Künstler endet, lässt das zweite, zwischen Westheim und Grosz, den Interviewer Westheim enttäuscht zurück, weil der politisch und ästhetisch radikale Grosz sich mit Blick auf die streng kontrollierte politische Neutralität des Rundfunks zu keiner auch nur leise provokanten Äußerung verleiten ließ (S. 216f.).

Dass die politisch motivierte Rundfunkreform von 1932 eine entscheidende Zäsur bedeutete, die bereits massive Einschränkungen für künstlerisch und politisch widerständige Formen und Inhalte mit sich brachte, ist an sich nicht neu, wird aber von Zeising für den Diskurs der Kunstgeschichte im Radio eindrucksvoll untermauert. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Gleichschaltung der Medien endete zunächst jede anspruchsvolle und gedanklich selbständige Diskussion um Fragen der Kunst im Rundfunk. Während der stramm nationalkonservativ und antisemitisch eingestellte Kurator der Berliner Nationalgalerie, Ludwig Thormaehlen, ein George-Schüler, der zeitweilig zum starken Mann an diesem wichtigen Haus aufstieg, mit unverhohlener Häme die Ablösung des „alten Regiments“ der „nichtarischen Clique (Liebermann, Westheim)“ (S. 316f.) in der Kunstszene der Hauptstadt begrüßte, erwies sich bald, dass ein einzig Ideologie-getriebener, gleichgeschalteter Rundfunk inhaltlich nichts zu sagen hatte.

Zeising dokumentiert die Rundfunk-Karrieren von NS-Gefolgsleuten wie Ferdinand Eckhardt, Wilhelm Fraenger, Otto Kümmel oder Hugo Landgraf, aber auch des jungen Journalisten Henri Nannen. Landgraf räumt Zeising dabei besonders breiten Raum ein. Nach dem Notabitur 1914 hatte dieser zunächst im Ersten Weltkrieg an der Westfront gekämpft, sich im Anschluss an der Niederschlagung des Spartakusaufstands beteiligt und dann in Berlin Germanistik studiert. Zum Rundfunk kam er 1933 als Reporter und berichtete nicht nur über Kunst und Kultur, sondern 1936 auch von den Olympischen Spielen. Landgraf hatte aktiv Anteil an allen Phasen der Radio-Propaganda des NS-Regimes: von der anfänglichen jubelnden Selbstinszenierung über die Agitation für den heroischen „neuen Menschen“ bis zu den Durchhaltebeschwörungen kurz vor dem Zusammenbruch. Zeising geht mit Landgrafs Arbeit mit der notwendigen Direktheit ins Gericht, wenn er die inhaltliche Leere und Anspruchslosigkeit etwa seiner Künstlergespräche mit Hugo Lederer oder Fritz Klimsch aus dem Jahr 1935 aufzeigt oder sein Galeriegespräch zwischen einem „Soldaten“ und einem „Freund“ über Georg Bleibtreus Wandbild „Sturm auf St. Privat“ von 1870 kritisch seziert, das noch im Januar 1945 mit hohlen Phrasen das innere Erlebnis des Krieges glorifiziert. Im Mai 1945 geriet Landgraf in sowjetische Gefangenschaft und starb im November 1946 im sogenannten „Speziallager“ Nr. 6. in Jamlitz.

Der Phase der Reorganisation und des Wiederaufbaus des Rundfunks ab 1945 und der Rolle der Kunstvermittlung darin, die vielfach dokumentiert sind, widmet Zeising nur noch einen Ausblick. Kritisch sei angemerkt, dass Zeising das Adjektiv „grotesk“ ein wenig arg inflationär verwendet und in seiner Analyse am Ende wieder traditionellen historischen Mustern folgt und kaum nach sicherlich nur mühsam auffindbaren Spuren weiblicher, subkultureller oder anderer minoritärer Positionen forscht.

Anmerkung:
1 Ekphrasis bezeichnet „eine besonders anschauliche, weil wirkmächtige sprachliche Darstellung“ von Objekten und dient damit vor allem der Kunstbeschreibung. Siehe Barbara Thönnes, „Ekphrasis“, in: GIB – Glossar der Bildphilosophie, 04.01.2014, http://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Ekphrasis (22.09.2019).

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