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Titel
Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893–2000, 2 Bde.


Autor(en)
Berg, Matthias; Blaschke, Olaf; Sabrow, Martin; Thiel, Jens; Thijs, Krijn
Erschienen
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
832 S. in 2 Bdn.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Schulze, Mercator Research Center Ruhr, Essen

Es ist ein durchaus ungewöhnliches Vorgehen, das der Verband der Historikerinnen und Historiker mit der Herausgabe dieses Doppelbandes gewählt hat, um die Geschichte seiner Versammlungen von 1893 bis 2000 gründlich erforschen zu lassen. Üblicherweise hätte man darauf vertraut, dass dieses Thema in akademischen Qualifikationsschriften aufgegriffen würde. Doch in diesem Fall übernimmt er die Strategie vieler großer und kleiner Unternehmen und Behörden, die in den letzten Jahren eifrig bemüht waren, ihre Geschichte – vor allem die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen – und er hat damit einen guten Griff getan. Es ist zwar keineswegs so, wie die Verfasser insinuieren, als sei die Geschichte der Historikertage und des sie tragenden Verbandes gänzlich unerforscht, dafür liegen inzwischen zu viele relevante Einzelarbeiten vor. Aber eine systematische Untersuchung fehlte in der Tat und deshalb war es richtig, hier eine neue Grundlage zu schaffen. Vor allem, weil seit Beginn der 1990er-Jahre eine bemerkenswert intensive Erforschung führender Persönlichkeiten der deutschen Geschichtswissenschaft einsetzte, die es erforderlich machte, auch die Geschichte der Historikertage in vergleichbarer Genauigkeit und vor dem Hintergrund dieser biographischen Studien im Kontext erforschen zu lassen.

Eine detaillierte Geschichte der Versammlungen eines Berufsverbandes lag aus vielen Gründen nahe. Wo ließe sich die Geschichte der Professionalisierung der Historikerzunft besser ermitteln als in den Bemühungen zur fachlichen Sozialisation der Historiker und Historikerinnen? Man mag hier an den Historikertag in Frankfurt am Main 1998 erinnern, wo sich in der Diskussion über die NS-Vergangenheit des Fachs die diskursprägende Kraft des Versammlungsformats bewährte. Wo ließe sich die Haltung des Fachs zu den An- und Zumutungen der jeweiligen politischen Führung oder den Zeitströmungen unmittelbarer erkennen als in der Organisation und Schwerpunktsetzung der Historikertage? Und wo lassen sich schließlich die Linien der inhaltlichen Entwicklung unseres Fachs besser nachzeichnen als in den Verhandlungen der Historikertage? Damit sind auch schon die Anforderungen an eine überzeugende Geschichte der Historikertage angesprochen, denen in unterschiedlicher Intensität entsprochen wurde.

Es liegt auf der Hand, dass sich eine solche systematische Historikertags- und -verbandsgeschichte, die vom späten 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts reicht, nicht als Werk eines Einzelnen schreiben lässt. So haben sich hier fünf Kollegen zu einem Gemeinschaftsunternehmen zusammengeschlossen und die Arbeitsfelder nach Kompetenz und Interessen aufgeteilt. Matthias Berg verantwortet den Teil von 1893 bis 1949, Olaf Blaschke und Jens Thiel beschreiben die Zeit der Konsolidierung von 1949 bis zur Wende ebenso wie die „doppelte Herausforderung“ von der Wiedervereinigung bis ins Jahr 2000. Darin eingeschoben sind die Kapitel von Martin Sabrow über die Historikergesellschaft der DDR beziehungsweise von Krijn Thijs über den kurzlebigen Unabhängigen Historikerverband. In dieser Integration der Geschichte und Nachgeschichte der DDR-Geschichtswissenschaft liegt der eigentliche inhaltliche Gewinn des Unternehmens, das bewusst die doppelte Geschichte der deutschen Historiker und ihrer Verbände einbezieht und sie damit angemessen einordnet.

Über die Zielsetzungen des Doppelbandes geben die Verfasser in einem gemeinsamen Vorwort hinreichend Auskunft: Es sind – wie könnte es anders sein – die Fragen nach den fachlichen Standards und der Professionalisierung des Fachs, den Praktiken der gemeinsamen Arbeit und ihrem Geltungsanspruch, der Rolle der öffentlichen Wirksamkeit, dem internationalen Rahmen und schließlich auch der politischen Rolle der Historiker in der Gesellschaft. Diese Fragelinien ziehen sich erkennbar durch die einzelnen Kapitel, auch wenn sie in je unterschiedlicher Direktheit angegangen werden. Daneben muss betont werden, dass dies kein Bericht über die Historikertage alleine ist, er handelt erfreulich intensiv auch von der nicht-versammelten Zunft. Vielmehr finden sich diese Versammlungen eingeordnet in den (notwendigen) Kontext der internationalen Verbindungen (Internationale Historikertage), der jeweiligen Forschungsorganisationen, der relevanten Berufsvereinigungen und Publikationsorgane etc., aber auch zum Beispiel der Entwicklung der Buchproduktion. Vor allem im Teil 2 ist das überzeugend gelöst worden, nicht zuletzt dank der hilfreichen Grafiken.

Im Nachhinein erstaunt die bemerkenswerte Konsequenz, mit der der Historikertag relativ schnell zu seiner institutionellen Form fand: Ablauf, Themengestaltung und Berichtsheft haben sich ebenso schnell etabliert und lange durchgehalten wie die geselligen Formen des Treffens inklusive der Exkursionen; da hat sich nicht viel geändert, wenn man einmal von der Größe des Unternehmens absieht, das inzwischen jeweils ca. 3.500 Teilnehmer erreicht hat und damit für kleinere Universitätsstädte unerreichbar geworden ist. Das spricht zum einen für das offensichtliche Bedürfnis der Fachgenossen nach einer solchen Plattform des Austauschs, es spricht aber auch für die Möglichkeit, mit dem Historikertag in das Licht der Öffentlichkeit zu treten, Vertreter der Politik einzuladen und so – hoffentlich – auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen historischer Forschung und des Geschichtsunterrichts Einfluss zu nehmen. Die Tatsache, dass bereits auf dem 2. Historikertag in Leipzig (340 Teilnehmer) die Idee zur Verbandsgründung entwickelt wurde, unterstreicht die Absicht der Zunft, den Historikertag aus den möglichen Zufälligkeiten der lokalen Organisatoren herauszuhalten. Er war schnell zu wichtig geworden, um ihn der Kontingenz der Organisation vor Ort zu überlassen. Seitdem ist die Vorbereitung des Historikertags wohl die wichtigste Aufgabe von Vorstand und Ausschuss geworden. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass gerade die späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre eine organisationsgeschichtlich durchaus schwierige Epoche waren, die Matthias Berg sehr gut analysiert.

Die in den einzelnen Kapiteln gesetzten Schwerpunkte zu den einzelnen Historikertagen konzentrieren sich fast immer auf die jeweiligen politischen Streitfragen und verbandsinternen Konflikte, demgegenüber stehen die wissenschaftlichen Diskussionen nicht im unmittelbaren Vordergrund. Man könnte sagen, sie treten erst dann in den Fokus der Untersuchung, wenn sie bereits publikumswirksam geworden sind, während der ruhige Fortschritt der Quellen- und Forschungsarbeit deutlich im Hintergrund bleibt. Das lässt sich sehr gut an einigen herausgehobenen Historikertagen illustrieren, etwa dem Erfurter Tag 1937 (der unter der Regie von Walter Frank stand), dem ersten Historikertag nach der Gründung der Bundesrepublik (München 1949), dem Trierer Historikertag 1958 (Auszug der DDR-Vertreter) oder dem ersten Historikertag nach der Wiedervereinigung in Bochum 1990. Für den Rezensenten ist gerade dieser Historikertag in besonderer Erinnerung, weil er als lokaler Organisator die enormen Schwierigkeiten in der inhaltlichen Vorbereitung wie in der Gestaltung der Verbandspolitik (etwa die Frage der direkten Aufnahme von DDR-Historikern in den Verband) unmittelbar miterlebt hat. Der Historikertag ist – ganz allgemein gesprochen – ein unverzichtbarer Bestandteil der fachinternen Sozialisation wie auch der Breitenwirkung unseres Fachs geworden, das wie kein anderes geisteswissenschaftliches Fach die Stimmungslagen der Republik widerspiegelt und sie zur Deutung historischer Probleme nutzt.

Die breite Quellenarbeit des Verfasserteams muss besonders betont werden. Sie profitiert freilich von der günstigen archivalischen Überlieferung, nicht nur im Verbandsarchiv, das seinen Platz jetzt endlich im Bundesarchiv gefunden hat, sondern auch von der Rettung des Hansen-Archivs im Kölner Stadtarchiv, dessen Verlust nach dem Einsturz des Archivgebäudes drohte. Dazu aber sind es die inzwischen in großer Zahl verfügbaren Nachlässe führender Historiker, die für diese Arbeit genutzt werden konnten. So ergibt sich eine insgesamt erstaunlich breite Quellengrundlage, die es gestattet, die wichtigen Konfliktlinien in der Vorbereitung und Durchführung der Historikertage zu erkennen. Die Autoren nutzen hier die Tatsache, dass es für diese Zeit noch ergiebige Nachlässe schreibfreudiger Historiker gibt, die nicht zögerten, ihre Vorschläge und Einwände dem Briefpapier anzuvertrauen. Der Freiburger Neuzeithistoriker Gerhard Ritter ist ein klassisches Beispiel jener Generation und ihrer stupenden Briefkultur. Man wird befürchten müssen, dass die einst zu schreibende Geschichte der Historikertage des 21. Jahrhunderts mit sehr viel weniger solcher aussagekräftiger Quellen wird auskommen müssen.

Einige gemeinsame Aspekte fallen bei der Lektüre der Bände ins Auge. Zum einen ist dies die Erkenntnis, dass die Historiker dieser Zeit immer streitbare Fachgenossen waren. Dies gilt für die Auseinandersetzungen um politische Geschichte versus Sozialgeschichte, die sich als geradezu durchgängiges Thema in immer neuen Varianten erweist, von Lamprechtstreit bis hin zu den Diskussionen um die „Bielefelder Schule“. Es gilt für die Debatte um die Nähe der Historiker zum Staat, für das Problem vermuteter Parteilichkeit, für die Bedeutung des Objektivitätsideals und insgesamt für die Notwendigkeit theoretischer Reflexion und Begriffsbildung. Man ist geneigt, den zunächst für die Zeitgeschichte geprägten Begriff der „Streitgeschichte“ auf die gesamte Zunft anzuwenden.

Zum anderen ist es der Eindruck, dass sich die Historikerzunft immer stärker veranlasst sieht, ihre ohne Zweifel gestiegene gesellschaftliche Bedeutung zu belegen. Während die Bedeutung historischer Erkenntnis im Schulunterricht offensichtlich sinkt, steigt ihre Bedeutung im öffentlichen Diskurs. Dem Verlust in den Schulen steht das Wachstum der Forschungsinstitute, Erinnerungsstätten und Museen gegenüber. Dieser Trend hat die Historikertage noch einmal stärker gemacht, sie aber auch verändert. Stand am Beginn der Historikertage der Streit um die Bedeutung des Geschichtsunterrichts, so sind die Fragen des Schulunterrichts heute eher zu Randthemen der Historikertage geworden. Nicht nur suchen die Historiker selbst seit den 1970er-Jahren politisches Führungspersonal aus Bund und Ländern für Vorträge zu gewinnen, sondern die öffentliche Reaktion vor allem der Presse bemisst den Erfolg eines Historikertags zunehmend unter der Perspektive, ob hier drängende Zeitfragen aufgeworfen wurden und weniger daran, ob etwa spannende Forschungsfragen diskutiert wurden. Wehrte sich noch der erwähnte Gerhard Ritter als Vorsitzender des Historikerverbandes vehement dagegen, Geld von der Bundesregierung für Reisen anzunehmen, ist heute angesichts der reichlich fließenden Mittel für Institute von solcher Zurückhaltung nichts mehr zu spüren, man sucht die Nähe zur Politik: Ein Historikertag ohne Bundeskanzler oder Bundespräsidenten, zumindest einen Ministerpräsidenten oder einen herausgehobenen EU-Politiker ist kaum mehr vorstellbar.

Und schließlich drängt sich der Eindruck auf, dass die Historikertage zunehmend zu Großveranstaltungen geworden sind, die ihren Charakter als Treffen einer begrenzten Anzahl von – meist männlichen – Fachgenossen verloren haben und stattdessen zu einem Treffen aller am Prozess des Schreibens, Lehrens und Verbreitens von Geschichte Interessierten geworden sind, ein Prozess, den man am Ende des Durchgangs mit tiefer Befriedigung feststellen muss. Es ist der Vorteil dieser Bände über die „versammelte Zunft“, diesen Prozess quellenbasiert, eindringlich, reflektiert und lesbar darzustellen.