Titel
Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte


Autor(en)
Lorenz, Maren
Reihe
Historische Einführungen, Bd. 4
Erschienen
Tübingen 2000: edition diskord
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
DM 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Patzel-Mattern, Universität Konstanz FB Geschichte und Soziologie 78462 Konstanz

"Was den Körper angeht, gibt es Ambiguität. Er ist das, was wir von uns sehen. Das, was wir als für immer uns zugehörig empfinden. Aber auch das, was wir nicht sehen und nie sehen werden." (Paul Valéry, Cahiers IX, 1923, S. 543.) Die Schatten der Körper-Bilder sind lang! So lang, dass sie in den vergangenen Jahren nicht nur die öffentliche Wahrnehmung eroberten, sondern auch die Wissenschaften veränderten. Körper gewinnen Terrain, das sie in der Aufklärung verloren haben, zurück. Dabei lassen sie die Grenzen von Fachdisziplinen sichtbar werden - das Phänomen Körper ist in Segmentierungen nicht zu fassen. Zwar haben in den vergangenen Jahrzehnten umfangreiche Einzeluntersuchungen die Prinzipien einzelner Funktionselemente des Körpers offenbart, sogar den Blick für die kleinsten Bestandteile des Lebens geöffnet und damit das Fachwissen der unterschiedlichen Disziplinen, die vom und über den Menschen handeln, befördert. Dennoch versuchen jüngere Studien heute zunehmend, diese Vielzahl einzelner Mosaiksteine wieder zu umfassenderen Körperbildern zusammenzufügen und so neue Orientierungen zu schaffen. Der Dialog der Disziplinen, das Interesse für das Andere, das Differente sowie die Rückkehr der Sinne als Medien der Weltorientierung stehen im Mittelpunkt des Interesses.

In diesem wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang steht auch die Hinwendung der Geschichte zum Körper als historischem Akteur. Da die Zukunft des eigenen Körpers durch virtuelle Realitäten und humangenetische Fiktionen brüchig geworden ist, richtet sich der Blick in die Vergangenheit. Wie haben Menschen zu anderen Zeiten (oder auch in anderen Kulturen) ihren Körper empfunden? Seit Mitte der neunziger Jahre lässt sich dieses verstärkte Interesse der historisch arbeitenden Wissenschaften an Fragen des Körperlichen konstatieren. Davon zeugen nicht nur eine Vielzahl von Publikationen, sondern auch die immer zahlreicheren Forschungsschwerpunkte, Graduiertenkollegs und Fachtagungen. Angeregt durch systematische Überlegungen in den Nachbardisziplinen und im Ausland, besonders in den USA, findet nun auch im deutschsprachigen Raum eine Fundierung der Vielzahl heterogener Ansätze und Analysen unter einem gemeinsamen Label statt - dem der Körpergeschichte. Doch erst allmählich beginnen sich übergreifende Institutionen und interne Diskussionszusammenhänge auszubilden.

Das Buch "Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte" von Maren Lorenz zeugt von dieser zunehmenden Institutionalisierung einer neuen historischen Disziplin. Es ist das erste deutschsprachige Kompendium seiner Art und gliedert sich in vier inhaltliche Kapitel, einen Quellenteil sowie eine umfangreiche thematische Bibliografie. Interessant ist, dass bereits der Untertitel die Körpergeschichte ganz selbstverständlich als Disziplin benennt. Ein neues Bewusstsein von der Eigenständigkeit des Forschungsgegenstandes Körper findet hierin seinen Ausdruck.

Das erste Kapitel ist der Bestimmung des Körpers gewidmet. Hier machen sich die profunden Kenntnisse des körperhistorischen und -theoretischen Diskurses, über die Maren Lorenz dank ihr langjährigen Forschungserfahrung in diesem Bereich verfügt, besonders bemerkbar. Knapp und gut verständlich stellt sie die Grundaxiome der Beschäftigung mit dem Körper dar. In der Gegenüberstellung von Essentialismus und sozialem Konstruktivismus spitzt sie ihre Überlegungen schließlich zu. Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Auseinandersetzung nicht besser ihren Platz zu Beginn jenes Kapitels gehabt hätte, das sich der Besprechung der verschiedenen disziplinären und methodischen Ansätze widmet, denn hier greift Maren Lorenz zu deren Systematisierung wieder auf die zuvor gemachte Unterscheidung zurück. Gerade für die nicht-informierten Leser/Innen wäre eine Darlegung der Differenzen zwischen beiden theoretischen Positionen unmittelbar im Vorfeld ihrer praktischen Anwendung sicherlich sinnvoll gewesen. Auf diese Weise ließen sich auch die Gründe für die Einordnung im Einzelfall unmittelbarer nachvollziehen, die Ordnungsfunktion der Begriffe gewönne an Trennschärfe.

Das zweite Kapitel nähert sich dem Körperbegriff zunächst etymologisch. Maren Lorenz zeigt hier die Nutzung von Körperbegriffen in verschiedenen Kulturen und Sprachen auf. Sie weist darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen Leib und Körper die Eigenart einiger germanischer Sprachen ist, die den romanischen Sprachen fremd bleibt. Damit spricht sie, ohne diesen Themenkomplex zu vertiefen, eine Schwierigkeit an, die für eine Internationalisierung der Körperforschung Bedeutung hat. In Deutschland gibt es einflussreiche Stimmen (Barbara Duden, Gesa Lindemann) die eine Unterscheidung von Körper und Leib im Forschungskontext fordern. Dabei soll der Leib das eigentliche Erleben des Körperlichen, das Erfahren und Empfinden bezeichnen, während der Körper als Synonym für die fleischliche Entität steht. Hier ist nicht der Ort, um die Bedeutung einer solchen Unterscheidung zu diskutieren. Allerdings soll in Ergänzung der Ausführungen von Maren Lorenz auf die Grenzen sprachgebundener Definitionen im internationalen Kontext aufmerksam gemacht werde. Solche Differenzierung sind nur dann erfolgreich, wenn sie entweder in den führenden Wissenschaftssprachen adaptiert werden können oder aber in ihrer Definitionsmacht so nachhaltig wirken, dass sie mitsamt der grundgelegten Begriffe übernommen werden. Ein Beispiel hierfür wäre die sex/gender-Unterscheidung, die längst Einzug in die deutsche Wissenschaftssprache gehalten hat.

Auch für Kapitel 2 gilt es, Kritik an der Zuordnung der Themen zu üben. Nach der Auseinandersetzung mit dem Körperbegriff in sprachlicher Hinsicht, verwundert es, in den beiden folgenden Unterkapiteln eine Auseinandersetzung mit dem Diskurs- bzw. dem Kulturbegriff zu finden. Zwar handelt es sich hierbei ebenfalls um grundlegende Begriffe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, jedoch bedürfen diese nicht mehr einer grundlegenden Herleitung. Zu ihrer Definition kann vielmehr auf existierende Positionen zurückgegriffen werden. Dementsprechend setzt sich Maren Lorenz in ihrem Kapitel über den Diskurs kritisch mit Foucault auseinander, grenzt sein Verständnis von dem Habermas' sowie von den Überlegungen Ludwik Flecks zum Denkstil ab. Hinsichtlich des Kulturbegriffs bildet die Anthropologie mit den Arbeiten von Mary Douglas, Clifford Geertz und Victor Turner ihren Bezugspunkt. Es liegt auf der Hand, dass sie damit nur einen kleinen Ausschnitt der Debatten über den Kulturbegriff berücksichtigt. Da dieser Begriff im Kontext ihrer Überlegungen jedoch nur als Rahmengröße der Auseinandersetzung mit dem Körper Relevanz hat, ist eine solche Beschränkung ausgesprochen sinnvoll. Allerdings hätte sie explizit auf diese Beschränkung aufmerksam machen sollen. Generell gilt auch hier, was bereits hinsichtlich der Positionierung der Abschnitte über den Essentialismus und den Konstruktivismus gesagt wurde. Sowohl Diskurs als auch Kultur tauchen als Unterscheidungsgrößen in Kapitel 3 wieder auf. Leider verzichtet Maren Lorenz auf ihre unmittelbare Nutzung zur Differenzierung, obwohl die systematisierende Wirkung der Begriffe groß ist. Sie hätten besonders dann ihre ordnende Kraft entfalten können, wenn ihre Diskussion unmittelbar der konkreten Anwendung vorangegangen wäre.

Kapitel 3 der Einführung ist der Auseinadersetzung mit den unterschiedlichen Ansätzen, die für die historische Körperforschung relevant sind, gewidmet. Indem Maren Lorenz die Ansätze aus ihren disziplinären Vereinnahmungen herauslöst und sie hinsichtlich ihrer Beiträge zur Körpergeschichte betrachtet, leistet sie eine wirkliche Pionierarbeit, die für die Orientierung innerhalb der Körpergeschichte von großem Nutzen ist. Sie stellt einen Überblick über die verschiedenen, sehr heterogenen Ansatzpunkte körperhistorischer Fragestellungen zusammen, der in diesem Umfang einmalig ist. Damit erschließt sie Wissenschaftler/Innen nicht nur einen bisher sehr diffus wirkenden Diskussionszusammenhang. Sie ermöglicht es ihnen zugleich auch, eigene Überlegungen sehr viel präziser in der Forschungslandschaft zu verorten. Lobend soll in diesem Zusammenhang auch die enorme theoretische und zeitliche Spanne der Ansätze, die sie vorstellt, hervorgehoben werden. Es zeigt sich einmal mehr, dass Maren Lorenz eine hervorragende Kennerin der körperhistorischen Materie ist.

Leider fällt Kapitel 4 deutlich gegen das methodische Kapitel 3 ab. Hier werden die Ergebnisse einer Körpergeschichtsschreibung skizziert. Es liegt auf der Hand, dass im Rahmen einer Einführung tatsächlich nur eine grobe Skizze der Ergebnisse möglich ist. Und so wirkt dieses Kapitel innerhalb der einzelnen von Maren Lorenz vorgenommenen Zeitschnitte dann auch wenig systematisch und ein bisschen willkürlich in seiner Aneinanderreihung von Einzelstudien und -erkenntnissen.

Ähnliches gilt auch für die Quellenbeispiele in Kapitel 5. Leider verzichtet Maren Lorenz darauf, ihre Auswahl zu begründen oder die Zielsetzung dieses Kapitels darzulegen. Implizit wird den Leserinnern und Lesern in der Betrachtung der Quellentexte in ihrer Heterogenität allerdings zweierlei vor Augen geführt: Zum einen wird die Historizität und Wandelbarkeit der Auffassungen vom Körper in der Zeit offenbar. Zum anderen zeigt sich auch die Spannbreite möglicher Quellentexte für körperhistorische Untersuchungen. Auf diese Weise können möglicherweise erste Anstöße für die praktische Forschungsarbeit gegeben werden. Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich die einzelnen Texte in ihrer zeitlichen Abfolge und inhaltlichen Differenz zwar sehr spannend lesen, jedoch aber im Unklaren bleibt, ob sie mehr als nur illustrierenden Charakter haben sollen.

Demgegenüber ist die abschließende Bibliographie, die immerhin 66 von insgesamt 239 Seiten umfasst, ein Glanzstück der Einführung. Sie nimmt zur Ordnung der Publikationen die Gliederung des Buches wieder auf. Gerade hierin ist ein besonderer Vorteil dieser Bibliographie zu sehen, die es den Leser/Innen ermöglicht, entsprechend der eigenen Interessensschwerpunkte sich einzelne Werke schnell zu erschließen ohne eine unübersehbare Aufzählung von Titeln durchschauen zu müssen. Diese Bibliografie ist fraglos das umfangreichste Schriftenverzeichnis zur körperhistorischen Forschung im deutschsprachigen Raum darstellt.

Das Buch "Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte" von Maren Lorenz stellt eine Pionierarbeit da. Es ist dankenswert, dass die Autorin die seit den späten neunziger Jahren stark angewachsene Zahl von theoretischen Arbeiten und empirischen Studien zum ersten Mal systematisch für den deutschen Sprachraum aufarbeitet. Auf diese Weise werden die Zugänge zu dem recht jungen Forschungsgebiet der Körpergeschichte erheblich erleichtert. Gerade für Studierende, Wissenschaftler/Innen anderer Fachrichtungen oder Neueinsteiger/Innen ist es nun möglich, sich konzentriert in die Strukturen und Ergebnisse der Körpergeschichte einzuarbeiten sowie eigene Forschungen präziser zu verorten.

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