C. Rass u.a. (Hrsg.): Migration ein Bild geben

Cover
Title
Migration ein Bild geben. Visuelle Aushandlungen von Diversität


Editor(s)
Rass, Christoph; Ulz, Melanie
Series
Migrationsgesellschaften
Published
Wiesbaden 2018: Springer VS
Extent
VI, 454 S., 73 Abb.
Price
€ 64,99
Reviewed for H-Soz-Kult by
Violetta Rudolf, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Bilder können vieles sein: Konstruktionen von Identität, Momentaufnahmen einer Vergangenheit, Verdichtungen von Geschichte, politische Argumente in Wahlkämpfen, vermeintliche Abbilder von Ereignissen, Bildungsinhalte, Illustrationen, künstlerisch-politische Statements, visuelle Narrationen, Ausdruck einer Corporate Identity. Bilder sind Teil unserer gesellschaftlichen und medial vermittelten Kommunikation; sie konstruieren und deuten die Wirklichkeit, in der wir leben; sie beeinflussen, wie wir Menschen, Themen und Zusammenhänge wahrnehmen und hierarchisieren. Gerade in der Entstehung gesellschaftlicher Imaginationen von Migration und Migrant/innen spielen visuelle Darstellungen eine wichtige Rolle.

Diese visuelle Dimension des Umgangs mit Migration steht im Fokus des Sammelbandes „Migration ein Bild geben. Visuelle Aushandlungen von Diversität“, den die Kunsthistorikerin Melanie Ulz und der Historiker Christoph Rass gemeinsam herausgegeben haben. Sie führen darin Forschungsansätze unterschiedlicher Disziplinen zusammen, die sich mit visueller Migrationsforschung auseinandersetzen. Dieser dritte Band der am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück herausgegebenen Reihe „Migrationsgesellschaften“ ist als Fortsetzung einer bereits 2015 begonnenen Sondierung des Forschungsfeldes zu verstehen, deren erste Ergebnisse in den Themenheften „Migration und Film“ sowie „Die Szenographie der Migration“ der Zeitschrift „IMIS-Beiträge“ veröffentlicht wurden.1 Die 16 Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich nun mit der Visualisierung von Migration und Migrant/innen auf Fotografien und Plakaten, in Kunstinstallationen, Zeitungen und Zeitschriften, Schulbüchern sowie unterschiedlichen Online-Formaten.

Einleitend bestimmen die Herausgeberin und der Herausgeber das Desiderat eines interdisziplinären Austauschs in der visuellen Migrationsforschung, der „von einer Bestandsaufnahme der Forschungsfelder und -perspektiven zu einem Dialog über die Fragen, Theorien, Methoden und Strategien“ gelangen müsse (S. 1). Das Aufzeigen dieser Forschungslücke steht zugleich programmatisch für die Intention des Sammelbandes: Die Autor/innen richten mit ihren Beiträgen erziehungs-, medien-, kommunikations- und kulturwissenschaftliche, kunst- und allgemeinhistorische sowie soziologische, geographische und rechtswissenschaftliche Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand. Vier der Aufsätze sind in englischer Sprache verfasst. Eine Sammlung von kurzen Autor/innen-Viten im Anhang erlaubt eine schnelle Einordnung der Beteiligten. Dem Inhaltsverzeichnis sind strukturell keine Themenschwerpunkte des Bandes zu entnehmen; die Aufsätze werden nacheinander aufgeführt, ohne thematisch gebündelt zu sein. Das wirkt auf den ersten Blick etwas beliebig, erklärt sich aber durch das Konzept der Zusammenschau unterschiedlicher Forschungsansätze. Jeder Beitrag bildet gestalterisch eine Einheit, da Anmerkungen sowie weiterführende Literatur direkt im Anschluss an den Text aufgeführt werden. Die Abbildungen werden mit Angaben zum Bildinhalt, zum Urheber sowie zu Erscheinungsort und -zeit in der Bildunterschrift eingeordnet. Ein Abbildungsverzeichnis gibt es nicht.

Den gedanklichen Ausgangspunkt der Publikation bildet die These, „dass visuelle Medien Wirklichkeit kontinuierlich konstruieren und interpretieren“ (S. 2). Vor allem „in Kontexten asymmetrischer Machtbeziehungen“ würden „dabei gleichzeitig Stereotype (re-)produziert […], die sich nur langsam verändern lassen“ (ebd.). Gefordert wird als „Querschnittsaufgabe einer interdisziplinären Migrationsforschung“ eine „machtkritische Analyse von Bildern, Bildproduktionen und Verwendungskontexten, von Akteuren, Rahmungen und Blickregimen“, die „die Dekonstruktion akademisch, politisch oder kulturell geprägter Kategorien bzw. Zuschreibungen“ ermöglichen soll (ebd.).

Die übergreifende Leitfrage aller Beiträge lautet, inwieweit die Bildwelten der Migration „hegemoniale Ordnungssysteme bzw. Deutungsmuster“ festschreiben und „welche Praktiken […] geeignet“ seien, „die damit erzeugten oder gefestigten gesellschaftlichen Hierarchien zu erkennen und zu überwinden“ (S. 2). Als weiteres verbindendes Moment fungieren die Kategorien der (Un-)Sichtbarkeit und Sichtbarmachung von Migration bzw. Migrant/innen. Besonders eindrücklich sensibilisiert der Aufsatz der Literaturwissenschaftlerin Maria Oikonomou für diese Kategorien, indem sie sich mit drei Kunstinstallationen auseinandersetzt, die das Thema Migration gerade durch die Abwesenheit von Migrant/innen inszenieren. Der Sammelband nähert sich dem Gegenstand einerseits auf unterschiedlichen Zeit- und Raumachsen, andererseits eröffnet er ein Kaleidoskop verschiedener Wissenschaftsperspektiven mit ihren methodischen und theoretischen Ansätzen. So ergibt sich ein vielschichtiges Panorama von Forschungen zu „visuellen Aushandlungen von Diversität“ (Untertitel). Trotz der inhaltlichen und disziplinären Vielfalt der Aufsätze lassen sich diese gut auf der Ebene der verwendeten Quellen(gattungen) gruppieren.

Ein Schwerpunkt der Publikation lässt sich in den Analysen von Pressebildmaterial ausmachen, mit denen sich fünf der Beiträge befassen. Die Kulturwissenschaftlerin Katrin Hunsicker beschäftigt sich mit der visuellen Konstruktion rassifizierter Vorstellungsbilder von afrikanischen Asylbewerbern als Figur des „Schwarzen Gifthändlers“ im Magazin „Der Spiegel“. Der Text von Patricia Stošić untersucht ebenfalls die Berichterstattung im „Spiegel“; sie nimmt aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive Artikel und Bilder zur Neuköllner Rütli-Schule in den Blick. Aus kunsthistorischer Sicht analysiert Burcu Dogramaci fotografische Perspektiven auf türkischstämmige Einwanderer in der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre. Weiter beleuchtet der Text von Betty de Hart und Marga Altena die niederländische visuelle Presseberichterstattung zu Fällen von Kindesentführung in binationalen Familien aus rechtswissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Perspektive. Ewelina Chwiejda befasst sich mit der visuellen Berichterstattung über eine abgeschobene Roma-Familie in der französischen Presse. Die Zeitungsfotos werden in allen diesen Aufsätzen leider nur isoliert gezeigt, nicht in der konkreten Seitengestaltung, sodass eine nähere Interpretation der Bild-Text-Zusammenhänge nicht unmittelbar möglich ist.

Zwei Beiträge setzen sich mit visuellen Darstellungen in Schulbüchern auseinander. Stephan Scholz entlarvt in seinem Aufsatz zu Fotografien von „Flucht und Vertreibung“ am Ende des Zweiten Weltkriegs unter anderem die Darstellungsweise von Bildensembles auf den Buchseiten als Einheit, die ein „deutsches Opfernarrativ“ produziert. Der Aufsatz zum Topos „Das Boot ist voll“ von Alexandra Budke und Andreas Hoogen untersucht Darstellungen von Migration in Geographieschulbüchern. In diesem Text werden nicht nur die Bilder an sich analysiert, sondern teilweise Interviews zur Rezeption mit Schüler/innen sowie Interviews mit Schulbuchautoren einbezogen. Diese empirischen Untersuchungen zur Wahrnehmung bzw. zum gezielten Verwenden von Bildern in Lehr- und Lernkontexten bringen eine weitere aufschlussreiche Analyseebene mit hinein.

Ein dritter Schwerpunkt fällt bereits beim Durchschauen des Inhaltsverzeichnisses in den Blick: Es handelt sich um drei Beiträge, die sich mit Wahlplakaten in der Schweiz beschäftigen. Im breitgestreuten inhaltlichen Spektrum des Sammelbandes wirkt diese Kumulation sehr ähnlich gelagerter Beiträge zunächst irritierend. Die Zusammenstellung kann jedoch durchaus als interdisziplinärer Dialog zu einem gemeinsamen Untersuchungsgegenstand verstanden werden. Ein wesentliches inhaltliches Ergebnis dieser Beiträge lautet, dass die Bildsprache von Plakaten der rechtspopulistischen SVP so einprägsam und stark ist, dass sogar ihre Gegner strukturelle Elemente daraus übernehmen und sich den visuellen Darstellungsmechanismen anpassen.

Abschließend sei noch der gemeinsam verfasste Artikel von Christoph Rass und Melanie Ulz erwähnt, der sich mit dem Schlüsselbild des millionsten westdeutschen „Gastarbeiters“ aus dem Jahr 1964 befasst. Meine Erwartungen an den Aufsatz hielten sich in Grenzen – die zahlreichen schon vorliegenden Darstellungen und Interpretationen lassen zunächst keine neuen Erkenntnisse erwarten. Doch der Beitrag ist mehr als eine Analyse des bekannten Fotos; er leistet eine Synthese zwischen historischem und bildwissenschaftlichem Ansatz und erreicht genau durch diese Verknüpfung eine beeindruckende Aussagekraft. Er steht exemplarisch für das, was die Herausgeberin und der Herausgeber einleitend zur Intention des Sammelbandes geschrieben haben – durch seine analytische Tiefe fungiert der Text zugleich als Fazit des Bandes.

Beeindruckend ist die ausnahmslos hohe Qualität der einzelnen Beiträge, die explizite Fragestellungen, fundierte Analysen sowie interessante Ergebnisse aufweisen. Überzeugend ist auch der gut durchdachte Aufbau des Sammelbandes. Allerdings führt die Kürze des Aufsatzformats (je 20-30 Druckseiten, meist mit Bildmaterial) in manchen Fällen dazu, dass theoretische und methodische Vorüberlegungen so verkürzt dargestellt werden, dass ein Blick in die Originaltexte hilfreich erscheint. Insgesamt ist die Publikation dennoch ein sehr überzeugendes Plädoyer für weiteren fächerübergreifenden Austausch in der visuellen Migrationswissenschaft.

Anmerkung:
1 Christoph Rass / Melanie Ulz (Hrsg.), Migration und Film. IMIS-BEITRÄGE, 46 (2015), https://www.imis.uni-osnabrueck.de/fileadmin/4_Publikationen/PDFs/imis46.pdf; Marcel Berlinghoff / Christoph Rass / Melanie Ulz (Hrsg.), Die Szenographie der Migration. Geschichte. Praxis. Zukunft. IMIS-BEITRÄGE, 51 (2017), https://www.imis.uni-osnabrueck.de/fileadmin/4_Publikationen/PDFs/imis51.pdf (03.10.2018).

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