Es ist (immer) wieder ein dankbares und kontroverses Themenfeld: die Bundeswehr und ihr Traditionsverständnis. Auch im Jahr 2001 lebte die Frage des richtigen Umgangs mit dem militärischen Erbe deutscher Streitkräfte wieder auf, wenn Paul Spiegel als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland zum Rekrutengelöbnis am 20.Juli - dem 55.Jahrestag des Attentats von Wehrmachtsoffizieren auf Adolf Hitler - das Wort ergriff. Doch ist damit hinreichend gezeigt, dass die Bundeswehr ihren freiheitlich-demokratisch geprägten Standort auch bezüglich ihrer eigenen Einordnung in die deutsche Militärgeschichte gefunden hat? Ralph Giordano verneint dies in seinem Buch und spricht zum einen von einer "Traditionslüge", zum anderen gar vom "Kriegerkult in der Bundeswehr".
Giordanos Schlussfolgerungen stellen die Verknüpfung mehr oder weniger neuer wissenschaftlicher Forschungsergebnisse mit aktuellen politischen Entwicklungen bzw. Unterlassungen dar. Immer wieder verweist er auf altbekannte Ergebnisse der Geschichtswissenschaft, wenn es um die Verstrickung in, Beteiligung an oder Initialisierung von Verbrechen seitens der Wehrmacht geht. Ebenso nimmt Giordano die wiederholten Auseinandersetzungen um die Namensgeber von Bundeswehrkasernen auf. Doch liegt darin kein müdes Wiederholen des altbekannten, sondern der nimmermüde Verweis auf offene Wunden.
Zuerst unternimmt er eine Beleuchtung der politischen Lage der Entstehungsphase der Bundeswehr. Gerade im Kalten Krieg, der erst die Wiederbewaffnung ermöglichte und damit einen wichtigen Schritt zur Westintegration der Bundesrepublik darstellte, sieht Giordano den Ausgangspunkt für die Traditionsprobleme der Bundeswehr. Die Streitkräfte wurden zu schnell und mit unzureichenden Kontrollmechanismen bei der Personalauswahl aufgebaut. Zudem wirkten verschiedenste Ehrenerklärungen, etwa durch den Bundeskanzler Konrad Adenauer oder durch ehemalige Kriegsgegner, einem kritischen Umgang mit den jüngsten Auswüchsen des Soldatenberufes entgegen. Hinzu kamen die Schweigsamkeit der jungen Bundesrepublik zu den Verbrechen der Hitlerzeit bis hin zum "Großen Frieden mit den Tätern" (56). So musste nach Giordano der Versuch der ‚Inneren Führung' scheitern, jenes Konzepts Wolf Graf von Baudissins, dass den Staatsbürger in Uniform zu etablieren versuchte und sogenannte soldatische Tugenden nur dann akzeptieren wollte, wenn sie nicht per se, sondern als Tun oder Unterlassen mit konkreten Folgen und bestimmten Zielen, bewertet werden.
Hans Apels Versuch wird Anerkennung zuteil, das Verhältnis der Bundeswehr zur deutschen Militärgeschichte 1982 offiziell zu formulieren. Doch mehr als ein Wunsch konnte dies nicht sein, da sich Tradition nicht befehlen lässt. Die interne Etablierung konservativen oder rechten Gedankengutes attestiert Giordano anhand zahlreicher Episoden aus der Geschichte der Bundeswehr und erklärt sich dies hauptsächlich mit personellen Kontinuitäten von Wehrmachts- und Bundeswehroffizieren. Gerade hier schlägt sich nach Ansicht des Autors die umfassende Aufgabe des Soldaten in Führungsverantwortung als Führer, Ausbilder und Erzieher nieder. Angefangen mit Hans Speidel und Adolf Heusinger manifestierte sich eine "Entschuldigungs- und Rechtfertigungsphilosophie", deren Auswirkungen noch heute spürbar sind - trotz aller positiven Signale, wie etwa der Benennung der Rüdel-Kaserne in Rendsburg nach Feldwebel Anton Schmid, der in Litauen dienstliche Strukturen zur Rettung von Juden benutzte. Anknüpfend an vorhergehende Publikationen, arbeitet Giordano auch hier wieder die schicksalhafte Identifizierung der Deutschen mit dem Nationalsozialismus heraus, welche sich als Verteidigungsbemühung gegenüber Angriffen auf die ‚eigene' Geschichte, auf das ‚Vaterland' noch immer findet - damit aber nicht weniger falsch und verheerend ist.
Danach werden Versuche der Auseinandersetzung immer wieder mit dem Verweis auf die Zeitumstände, die Mitschuld von Opfern, die Unwissenheit der Täter oder ähnliche Schutzmechanismen aktiviert. Im Umfeld eines solchen Gesprächsklimas kann aber keine aufarbeitende und zukunftsweisende Aufarbeitung geschehen. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Giordano sich auch mit dem Berufsbild des Soldaten beschäftigt hätte. Die Hinzuziehung von denkbaren Motiven einer solchen Berufswahl jenseits der wünschenswerten, hätte den Betrachtungsgegenstand abgerundet: etwa Männlichkeitswahn, Abenteuerlust, Überbewertung von Werten wie Härte, aber auch die Sehnsucht des Geführtwerdens. So, wie das Buch vorliegt, werden Traditionsprobleme in erster Linie als solche der militärischen und politischen Führung erkannt, nicht als Denkprozesse der einzelnen Soldaten.
Anhand von mehreren historischen Rückblicken gelingt es Ralph Giordano im Hauptteil seiner Untersuchung "Kasernenpatrone" (99) in ihrer Traditionswürdigkeit zu demontieren. Neben bekannten und oberflächlich ausdiskutiert scheinenden Fällen wie dem des Eduard Dietl, kann Giordano den Anstoss geben, den Blickwinkel nicht auf die düstere Zeit des Nationalsozialismus und seiner militärischen Vertreter zu zentrieren. Mit deutlichen Worten Theodor Körners oder Ernst Moritz Arndts stellt er eben diese als Objekte der Verehrung in Frage. Während es hier tiefer Hass gegen den Feind als dem Angehörigen einer anderen Konfliktpartei geht oder sogar um Antisemitismus als Handlungshintergrund in den Berfreiungskriegen, verweist Giordano bei anderen Namensgebern von Bundeswehrkasernen wie von Einem, von Waldersee oder August von Mackensen auf inhuman oder gar offen verbrecherisch handelnde Offiziere des Ersten Weltkrieges.
Ab und an gelingt es dem Autor jedoch nicht überzeugend darzustellen, dass das Handeln vor Ort den beschriebenen Charakterisierungen gerecht wird. Die Ausführungen zu den Morden von Bjelaja Zerkow 1941 und dem Verhalten des Widerständlers Helmuth Groscurth lassen die Eindeutigkeit vermissen, die Giordano als "Verlust der humanen Orientierung" (188) deutet. Groscurth hatte angesichts des Dahinvegetierens von 90 Kindern und Frauen unter Aufsicht der Wehrmacht gegen diese Behandlung und die geplante Erschießung protestiert. Im Konflikt mit seinen Vorgesetzten und dem örtlichen Führer des SS-Einsatzgruppenkommandos argumentiert Groscurth zwar, neben dem Vergleich solcher Maßnahmen mit den Greueln des Gegners, auch dergestalt, dass ein für die Truppe unsichtbares Vorgehen die bessere Alternative gewesen wäre. Aber es scheint genau hier die Grenze zu verlaufen zwischen dem Wollen und Können, zwischen Mut und Ehrgefühl einerseits und der Angst um das eigene Leben andererseits. So nachvollziehbar Giordanos Empörung über die Worte Groscurths sind, so einfühlsam müsste er sein, dass er nicht unbedingt selbstgefährdenden Heldenmut verlangen kann. Hier wäre es angebrachter gewesen, dieser Gemengelage von Gefühlen so viel Raum zu geben, wie er ihn an anderen Stellen seines Buches der Aneinanderreihung von Zitaten oder Vorfällen eine Person betreffend zur Verfügung stellt. Oder aber sich eingehender mit den problematischen Fehltritten anderer Widerständler zu beschäftigen, etwa wenn Halder den Einsatz von Giftgas im Hinterland der deutschen Truppen für den Anti-Patisanenkampf vorschlägt oder von Tresckow beim gleichen Thema die Schaffung ‚toter Zonen' fordert.
Doch auch das vorgestellte Buch darf nicht überfordert werden. Die Ausführungen selbst stellen keine geschichtswissenschaftlichen Betrachtungen dar, sondern pointierte Provokationen, Fragezeichen, die zu weiteren politischen Diskussionen führen sollen. Die mitunter spürbare Emotionalität, die sich schnell als Neigung zur Pauschalisierung und als grundsätzliche Antipathie gegenüber dem Objekt der Betrachtung lesen lässt, überlagert manches Mal das spürbare Bemühen um Differenzierung. Der dem Autor eigene flotte Schreibstil und die Konzentration auf negative Beispiele des Traditionsverhaltens in der Bundeswehr verführen dazu, seinen positiven Ansatz, den Willen um Veränderung, zu übersehen. Denn trotz aller - meist berechtigten Kritik -, schreibt er schon in der Einleitung: "Ein Antibundeswehrbuch liegt hier dennoch nicht vor. Ich bin kein Pazifist, war es nicht und werde es nicht sein, solange Aggressoren gestoppt werden müssen. Die Arbeit richtet sich vielmehr gegen Auffassungen (...), die mit grundgesetzlichen und humanen Überzeugungen nicht in Einklang zu bringen sind." (28)
Diese Zielrichtung verdient die Anerkennung ebenso, wie der öffentliche Hinweis auf Missstände bei dem Umgang der Bundeswehr mit der Vergangenheit. Das wohl eklatanteste Beispiel sind die Äußerungen des ehemaligen Vier-Sterne-Generals Klaus Naumann von 1995 - damals als Generalinspekteur der Bundeswehr deren höchster Soldat. In einem Vortrag hatte Naumann von der Aufgabe des deutschen Soldaten gesprochen, "Krisen von seinem Land fernzuhalten", was "in diesem Jahrhundert vor 1945 nur zweimal geschehen" sei. (115). Giordanos Gedanken an diese beiden gleich vor dem geistigen Auge auftauchenden Einsätze, der Niederschlagung des Boxer- und des Herero-Aufstandes, sind gleichermaßen nachvollziehbar wie erschreckend. Da kann es nur beruhigen, dass Klaus Naumann nicht repräsentativ ist für das Traditionsverständnis der Bundeswehr. Der beschriebene Fall wie auch andere bei Giordano erwähnte Fehltritt hoher Bundeswehroffiziere oder auf ministerieller oder allgemein politischer Ebene lassen jedoch erahnen, dass das behandelte Thema die Beachtung verdient.
Insgesamt hat Ralph Giordano ein anregendes, wenn auch bezüglich er inneren Systematik und der lückenhaften Nachweisführung manche Wünsche offen lassendes, Buch mit vielen nützlichen Perspektivwechseln geschrieben, welches gerade denen empfohlen sei, die sich an dem Titel stören werden. Es besteht jedoch die Befürchtung, dass gerade diese, die es zu erreichen gilt, um sie zu einer Reflexion und Revidierung eigener Vergangenheitsbilder zu bewegen, abgeschreckt werden. Andere aber werden es sicherlich als Ausgangspunkt manch fruchtbarer Recherche oder Diskussion nehmen.