Wissenschaftler, die sich mit den heutigen Siedlungstendenzen beschäftigen, pro-phezeien, eine neue Welle der Urbanisierung. Im Hinblick auf diese Aussicht ge-winnen langfristige Strategiebildungen wieder an Wert und hat das BMFB in einem Ideenwettbewerb zu unserer verstädterten Gesellschaft die Trends bis 2030 ins Visier genommen. In diesen Trend passt durchaus auch die mit dem ABB-Preis des Landesmuseums Mannheim ausgezeichnete Studie von Dieter Schott. Sein Werk setzt sich mit drei Städten der Rhein-Main-Region im "vor-automobilen" Zeitalter auseinander. Es war eine hochdynamische Zeit mit einer extremen Be-völkerungszunahme der Städte, aber auch grossen Gestaltungsvisionen in Hin-blick auf ihren Umbau und ihrer Ausweitung in die Region sowie zur Anpassung der Infrastruktur an die gestiegenen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kul-turellen Bedürfnisse der Bewohner. Im Zentrum dieser Visionen standen großflä-chige Versorgungsnetze, ohne die auch heute das Leben in den Städten und gro-ßen Gemeinden nicht möglich wäre: Röhrensysteme für Wasser und Abwässer, Gas- und Stromleitungen und schliesslich die Schienennetze. Über die detaillierte Beschreibung ihrer Planung, ihres Baus und vor allem ihrer Folgewirkungen ge-winnt der Leser ein Bild von den komplexen und vielfältigen Umgestaltungspro-zessen hin zur modernen Stadt.
Darmstadt hatte das Glück, früh an das deutsche Eisenbahnnetz angeschlossen zu werden, Industrie anzuziehen und über eine Technische Hochschule zu verfü-gen, die rechtzeitig einen Lehrstuhl für Elektrotechnik einrichtete. Von dort kamen frühzeitig Impulse zum Aufbau eines städtischen Elektrizitätswerkes, das bereits 1888 realisiert wurde. Doch anfangs glänzte nur das Theater im Schein des elek-trischen Lichts und so brachte erst die elektrische Straßenbahn 1897 richtig Schwung in den Stadtumbau. Sie verklammerte die Stadt mit dem Umland, schuf die Möglichkeit, separate Fabrik- und Wohnviertel auszuweisen sowie die alte Ei-senbahntrasse zu verlegen, um Land für neue Stadtviertel erschließen zu können.
Mannheim näherte sich der Elektrifizierung viel zögerlicher. Die Diskussion zog sich von 1885 bis 1897 hin und war ein "Reigen der teuren Gutachten" (S. 349). Dann aber, als die sichere wirtschaftliche Basis der Stadt als Endpunkt der Rhein-schiffahrt und zentrale Umladestation auf die Schiene durch den Ausbau des Rheins und des Neckars in Gefahr geriet, legte die Stadt ein gigantisches Infra-strukturprogramm auf. Es sah innerhalb weniger Jahren den Bau eines großen Industriehafens, eines Güterbahnhofs, eines Elektrizitäts- und Gaswerks, elektri-scher Straßenbahnen und Vorortbahnlinien sowie zahlreiche Eingemeindungen vor. Damit gelang es, dem "amerikanischen" Bevölkerungswachstum Rechnung zu tragen und zugleich ein sozialpolitisches Desaster wie den "Mietskasernenbau" in Berlin zu vermeiden: "Die für die Großindustrie nothwendige Arbeiterschaft" sollte in ihren Dörfern bleiben und die "Segnungen des ländlichen Wohnens" genießen (S. 365f.).
In Mainz war es die Eisenbahn, die die Stadt auf den Modernisierungspfad zog. Sie ermöglichte durch die Verlegung der Trasse nicht nur eine großzügige Umge-staltung des Rheinufers, sondern beförderte durch die Elektrifizierung des neuen Bahnhofs auch den Aufbau eines Elektrizitätswerkes. Es folgte ein "Investitions-stoss", ein "kommunaler Kraftakt" (S. 583), der die ehemalige Bundesfestung ei-nem umfassenden Verschönerungsprogramm unterwarf, die Vororte mit elektri-schen Straßenbahnen erschloß, eine Eisenbahnbrücke nach Wiesbaden schlug und so eine Grossraumstruktur schuf, die es wie den Mannheimern auch den Mainzer Arbeitern ermöglichen sollte, auf dem Lande zu siedeln (S. 547).
In allen drei Städten blieben Konflikte nicht aus. In Darmstadt wurde das Elektrizi-täts-Werk systembedingt mitten in die Stadt gebaut. Die Lasten - Abgase, Lärm und die Verkehrsbelästigung durch die zahlreichen Kohlenfuhrwerke - hatten die Anwohner zu ertragen, waren verstimmt und protestierten (S. 221). Auch in Mann-heim wurde im Zusammenhang mit dem gewaltigen Investitionsprogramm wehmü-tig erinnert: "Ruhe und Beschaulichkeit sind gewichen, Lärm und Unrast an ihre Stelle getreten" (S. 375). In Mainz war es die Vorortbahn, die Unmut erregte: "Ne-ben der als lästig empfundenen Rauchentwicklung" ließen "die langen Züge" die Häuser "erzittern und bildeten Gefahren für Leib und Leben der Anwohner" (S. 548). Mit zahlreichen ähnlichen Berichten rekonstruiert Schott einen wichtigen Faktor im politischen Leben der damaligen Städte: Der öffentliche Protest, der sich in Versammlungen, ausführlichen Erörterungen in der Presse und in permanenten Klagen manifestierte. Er bildete ein wichtiges Korrektiv zu den Entscheidungen der Stadtparlamente und Oberbürgermeister. Nicht zuletzt deshalb bemühte sich die Kommunalpolitik um schöne Städte mit hoher Lebensqualität und investierten tat-sächlich in beträchtlichem Umfang in ein reges Kulturleben: Darmstadt im Bund mit dem Grossherzog in eine Künstlerkolonie mit vielfach beachteten Kunstausstellungen und stilbildenden Bauprojekten, Mannheim in eine Kunsthalle, Theater und ein aufwendiges Stadtjubiläum sowie Mainz in die Verschönerung des Rheinufers, die Schlossrestaurierung, Museen und eine beeindruckende Gutenbergfeier, die der Stadt das Lob einer "délicieuse ville, gaie et hospitalière" (S. 603) einbrachte. Dies sind nur einige wenige Entwicklungszusammenhänge, die aus der großen Fülle der Ergebnisse herausgegriffen wurden. Dieter Schotts Buch ist reich an detaillierten und differenzierten Betrachtungen. Der Leser wird mit vielen überraschenden Einsichten in die Fundamente unserer heutigen Städte belohnt.