Außereuropäische Geschichte - China

Titel
Rebellion in Peking. Die Geschichte des Boxeraufstands


Autor(en)
Preston, Diana
Erschienen
Stuttgart - München 2001: Deutsche Verlags-Anstalt
Anzahl Seiten
511 S.
Preis
DM 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thoralf Klein

Wie kaum ein anderer Anlaß bieten Jubiläen Gelegenheit, historische Ereignisse einer breiteren Öffentlichkeit näherzubringen. Dies trifft auch auf den Boxeraufstand zu, dessen „Ausbruch“ bzw. Beendigung durch das sogenannte „Boxerprotokoll“ sich in den Jahren 2000 und 2001 zum hundertsten Mal jährten. Während drei Fachtagungen in Freiburg, Jinan und London Gelegenheit zu einer fachwissenschaftlichen Bestandsaufnahme und Neuorientierung boten 1, erschienen, teilweise bereits im Vorfeld der Jahrestage, eine Reihe populärwissenschaftlicher Darstellungen. Eines der ambitioniertesten Projekte ist Diana Prestons „Rebellion in Peking“, das zwei Jahre nach dem Erscheinen der englischen Originalausgabe nun auch auf Deutsch vorliegt.

Grundsätzlich ist eine solche Aufbereitung der Ereignisse für ein breiteres, nichtwissenschaftliches Publikum nur zu begrüßen. Dies umso mehr, weil die meisten Darstellungen dieser Art mindestens zwanzig Jahre alt sind und besonders Peter Flemings erst vor wenigen Jahren in neuer deutscher Übersetzung nochmals aufgelegte „Belagerung zu Peking“ inhaltlich völlig überholt ist 2. Gleichzeitig sind an ein Werk dieses Genres andere Beurteilungsmaßstäbe anzulegen als an eine wissenschaftliche Untersuchung. Erwartet werden kann immerhin, daß der Autor bzw. die Autorin kenntnisreich und auf der Grundlage des neuesten Forschungsstands eine angemessene Darstellung der historischen Sachverhalte liefert.

Unter Zugrundelegung dieses Kriteriums ist zunächst Diana Prestons umfangreiche Recherchearbeit hervorzuheben, in deren Verlauf sie eine imposante Menge zeitgenössischer, teils unveröffentlichter Dokumente in europäischen Sprachen ausgewertet hat. Was die Berücksichtigung des Forschungsstandes betrifft, so weist das Literaturverzeichnis immerhin die neueren Arbeiten von Esherick und besonders Paul Cohen 3 aus. Wenn auch weitere Spezialuntersuchungen fehlen, so sind diese Studien doch hervorragend geeignet, eine allzu eurozentrische Darstellung des Boxeraufstands zu relativieren.

Daher ist es schon bemerkenswert, daß Preston konzeptionell nicht über die Darstellung von Fleming hinausgeht. Der Großteil des Buchs schildert in epischer Breite die Eskalation der Boxerkrisis im Frühjahr 1900, die Belagerung des Gesandtschaftsviertels in Peking und der ausländischen Konzessionen in Tianjin, das Scheitern der vom britischen Admiral Seymour kommandierten Rettungsexpedition und den schließlichen Entsatz der Belagerten durch ein internationales Expeditionskorps. Mit den Ursachen des Aufstandes befassen sich lediglich zwei von 24 Kapiteln, von denen eines das imperialistische Vordringen in China skizziert, während nur im zweiten (auf ganzen 14 von über 500 Seiten) die Genese der „obskuren“ (S. 53) Boxerbewegung nachgezeichnet wird. Zwar werden hier die wesentlichen Charakteristika der Bewegung genannt – volksreligiöse Grundlagen, Massentrance unter dem angeblichen Einfluß von Göttern sowie Unverwundbarkeitsrituale – und ebenso zutreffend das aggressive Auftreten und Missionaren und chinesischen Christen sowie die Naturkatastrophen in den Jahren vor 1900 als Ursachen für Entstehung und Ausbreitung der Bewegung namhaft gemacht. Hingegen fehlt ein Verweis auf den Terror der Boxer auch gegen chinesische Nichtchristen und die durch die Boxerbewegung hervorgerufenen bürgerkriegsähnlichen Zustände in Teilen Nordchinas, obwohl auch ein des Chinesischen Unkundiger all dies ausführlich bei Paul Cohen nachlesen kann. Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung Prestons, daß „die meisten der zugänglichen Tagebücher und Berichte von Menschen aus dem Westen stammen“ (S. 419), besonders fatal und irreführend. Tatsächlich sind seit den 50er Jahren zahlreiche chinesische Augenzeugenberichte sowie amtliche Dokumente der Zentral- und Provinzialbehörden ediert worden und in dieser Form auch in Europa leicht zu beschaffen.4 Zwar ist die von Preston (S.419 f.) gewünschte Eindeutigkeit über den Entschluß des chinesischen Hofes zum Krieg gegen die Ausländer auch mit diesem Material nicht zu erzielen, aber man kann dennoch ein recht genaues Bild über die verschiedenen Parteien am Kaiserhof gewinnen. Immerhin stellt Preston zutreffend fest, daß die Eroberung der Dagu-Forts durch eine internationale Streitmacht von der chinesischen Seite als faktische Kriegserklärung gewertet werden konnte (S. 422 f.).

Prestons wortreich gerechtfertigte Beinahe-Ignorierung der chinesischen Seite verleitet sie zum einen dazu, in Stereotypen und Vereinfachungen zu verfallen – etwa daß Chinesen „Respekt vor Wahnsinnigen“ empfänden, „weil sie glaubten, sie seien von heiligen Geistern besessen“ (S. 226 f.) oder daß „die Soldaten in China wenig Ansehen“ genossen hätten (S.430). Zum anderen ist sie auch die Ursache eines ab dem dritten Kapitel erkennbaren Bruchs in der Argumentation. Während Missionare und chinesischen Christen zunächst für die Entstehung der Boxerbewegung wesentlich mitverantwortlich gemacht werden (bei gleichzeitiger, sehr berechtigter Relativierung der „abergläubischen“ Dimension durch den Verweis auf ähnlich gelagerte Fälle von Antisemitismus in Europa), erscheinen sie im Zuge der Belagerung des Gesandtschaftsviertels als Opfer eines brutalen und weitgehend gesichtslosen Feindes, ohne daß an irgendeiner Stelle eine Auseinandersetzung mit den Widersprüchen und der moralischen Ambiguität der Täter-Opfer-Perspektiven stattfände. Symptomatisch ist, daß Preston von zahlreichen beteiligten Europäern und Amerikanern – einschließlich etlicher Missionare – scharf umrissene Porträts entwirft, während nur wenige Chinesen überhaupt namentlich genannt werden (hauptsächlich führende Beamte und Militärs wie Ronglu und Dong Fuxiang) und allein die Kaiserinwitwe Cixi wirklich eingehend charakterisiert wird. Die „zutiefst menschliche Erfahrung des Boxeraufstands“ (S. 28) spielt sich somit praktisch nur auf der europäischen Seite ab.

Innerhalb dieser stark eurozentrischen Perspektive dominiert, auch wenn Preston die zahlreichen nationalen Eifersüchteleien detailliert und überzeugend herausarbeitet, eindeutig der anglo-amerikanische Blickwinkel. Das wäre weniger erstaunlich, wenn das Literaturverzeichnis nicht zahlreiche deutsch- und französischsprachige Berichte auswiese. Diese werden jedoch lediglich zur Ergänzung herangezogen und an kritischen Stellen wiederholt nicht konsultiert. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit der „Ablösung“ des Österreichers Thomann als „Oberbefehlshaber“ der in Peking Eingeschlossenen durch den britischen Gesandten MacDonald. Gerade hier fehlt ein Verweis etwa auf die – an anderer Stelle ausführlich zitierten – Berichte des österreichischen Diplomatenehepaars von Rosthorn, das MacDonalds Verhalten als anmaßend beurteilte und ebenso wie die Franzosen und Deutschen das neue „Oberkommando“ so weit wie möglich ignorierte.5

Noch weitaus gravierender wirkt sich dieses Vorgehen auf Prestons Diskussion der Brutalität alliierter Kriegführung in China aus. Dies ist besonders zu bedauern, weil sich Preston in diesem Punkt ein zentrales Thema der aktuellen Forschungsdiskussion aufgreift. So hält sie es in einer längeren Anmerkung (S. 478 f.) für wahrscheinlich zutreffend, „daß britische und amerikanische Einheiten weniger als andere an Gewaltakten gegen die örtliche Bevölkerung beteiligt waren“, wozu sie besonders auch Tötungen angeblicher Boxer rechnet. Zwar beurteilt Preston keines der nationalen Kontingente als völlig schuldlos, sieht jedoch zwei Hauptunterschiede zwischen Briten/Amerikanern und den übrigen Nationen: „... einerseits das Ausmaß, in dem die jeweilige Presse über solche Gewaltakte berichtete, und andererseits die dadurch ausgelöste Besorgnis der Öffentlichkeit im eigenen Land.“ Auf der Grundlage britischer und amerikanischer Berichte wird somit den Japanern und Russen, in zweiter Linie den Deutschen die Hauptverantwortung für die brutale Kriegführung zugewiesen. Allerdings vermag Preston ihre Behauptungen nur unzureichend zu belegen. Erstens führt sie selbst eine Reihe von Beispielen für von britischen Truppen begangene Grausamkeiten an (die Amerikaner kamen direkt aus dem brutalen Kampf auf den Philippinen und beteiligten sich bis kurz nach Eroberung von Peking an „Boxerjagden“, waren aber später, wohl aus politischen Gründen, zurückhaltender). Zweitens diskutiert sie nur unzureichend das Eintreten britischer und amerikanischer Missionare für Vergeltung durch Strafmaßnahmen und „symbolische Kriegführung“ und ihre Auswirkungen auf das Verhalten der alliierten Truppen.6 Zwar trifft Prestons Behauptung zu (S. 386 f.), daß keine Nation derart viele Strafexpeditionen durchführte wie die Deutschen. Ausgerechnet bei der diesem Zusammenhang von Preston beschriebenen Expedition nach Baodingfu kann aber von einer deutschen „Führung“ nicht die Rede sein. In dieser Stadt waren vornehmlich angelsächsische Missionare umgebracht worden, und die Briten hatten großes Interesse, einen französischen Alleingang nach Baodingfu zu verhindern – auch wenn es bei ihnen „einige Bedenken“ (386) gegeben haben mag. Drittens fehlt gegenwärtig nicht nur eine Vergleichsgrundlage für die Vorgehensweisen verschiedener nationaler Kontingente, sondern ebenso für die öffentlichen Reaktionen in der Heimat. Die Heranziehung der von der Forschung gründlich aufgearbeiteten Debatte im Deutschen Reich etwa hätte Preston zu einer Relativierung ihrer Position veranlassen können. Dann hätte sie auch dem eigentlich bemerkenswerten Phänomen nachgehen können: der Tendenz vieler zeitgenössischer Berichte, die eigenen Landsleute zu exkulpieren und die Verantwortung für Greueltaten den Angehörigen anderer Nationen zuzuschieben.

Überhaupt richtet sich ihre Darstellung nicht immer nach der Seriosität ihrer Quellen, sondern häufig eher nach der Farbigkeit der darin getroffenen Aussagen. So zitiert sie ausgiebig Augenzeugen, deren Glaubwürdigkeit sie selbst in Frage zu stellen scheint: den selbstgefälligen Times-Korrespondenten Morrison (S.234), den zweifelhaften Abenteurer Lennox Simpson alias Putnam Weale (S. 403) und nicht zuletzt den Pseudowissenschaftler Edmund Backhouse, dessen Scharlatanerie immerhin auf vollen sieben Seiten (411-418) ausgebreitet wird. Dennoch werden seine angeblichen Liebesspiele mit der betagten Kaiserinwitwe Cixi gleich zweimal genüßlich nachgezeichnet (38 f. und 415 f.), wie überhaupt Sexualität an einigen Stellen eine große Rolle spielt – meines Erachtens weniger aus sachlichen Gesichtspunkten als um der Darstellung zusätzliche „Würze“ zu verleihen. Das aber hat das große Thema, das Preston durchaus spannend zu schildern weiß, nun wirklich nicht nötig. Wer ihr Buch liest, kann ohne Zweifel das eine oder andere neue Detail über die europäische Seite des Boxeraufstands lernen – einen der gegenwärtigen Forschungslage angemessenen Gesamtüberblick erhält er jedoch nicht.

1 „Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand“, Freiburg 23.-24.6.2000; „Yihetuan yundong 100 zhounian guoji xueshu taolunhui [Internationales wissenschaftliches Symposium zum 100. Jahrestag der Boxerbewegung], Jinan 9.-12.10.2000; „1900: The Boxers, China, and the World“, London 22.-24.6.2001. Publikationen der Tagungsergebnisse sind in Vorbereitung.

2 Fleming, Peter: Die Belagerung zu Peking. Zur Geschichte des Boxer-Aufstandes, Übers. Alfred Günther und Till Grupp. Frankfurt a.M.: Eichborn 1997. Beispielsweise hat Fleming noch das sogenannte „Tagebuch des Jingshan“ intensiv benutzt, von dem Preston weiß, daß es sich um eine Fälschung von Edmund Backhouse handelt. Weitere in deutscher Sprache vorliegende Publikationen des gleichen Genres sind Mabire, Jean: Blutiger Sommer in Peking. China 1900 – Der Boxeraufstand gegen die „Weißen Teufel“. Wien/Berlin: Neff 1984; Kieser, Egbert: Als China erwachte. Esslingen: Bechtle 1984.

3 Esherick, Joseph W.: The Origins of the Boxer Uprising. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1987; Cohen, Paul A.: History in Three Keys. The Boxers as Event, Experience, and Myth. New York: Columbia University Press 1997.

4 Genannt seien an dieser Stelle: Jian Bozan et al. (Hgg.): Yihetuan [Die Boxer]. 4 Bde. 3. Aufl. Shanghai: Shenzhou Guoguang Chubanshe 1953; Guojia Dang’anju Ming Qing Dang’anguan [Ming-Qing-Archiv des Staatsarchivs] (Hg.): Yihetuan dang’an shiliao [Archivmaterialien zu den Boxern]. 2 Bde. Peking: Zhonghua 1959.

5 Dazu neuerdings Kaminski, Gerd: Der Boxeraufstand – entlarvter Mythos. Wien: Löcker Verlag 2000, besonders S. 109 und 127 f.

6 Vgl. Hevia, James L.: Leaving a Brand on China. Missionary Discourse in the Wake of the Boxer Movement. In: Modern China 18 (1992), 304-332.

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