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Title
Der Griff nach der Zeit. Perioden, Charakteristika, Motive und Interessen österreichischer Arbeitszeitpolitik (1945–2018)


Author(s)
Schatzl, Michael Jürgen
Series
Schriftenreihe des Forschungsinstituts für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek 69
Published
Köln 2019: Böhlau Verlag
Extent
620 S., 37 SW-Abb., 43 Tabellen
Price
€ 60,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Jürgen Schmidt, Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit, Berlin; Kolleg Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive, Humboldt-Universität zu Berlin

Es braucht recht viel Zeit, Arbeitszeit, um die unter dem Titel Der Griff nach der Zeit veröffentlichte Dissertation von Michael Jürgen Schatzl zu lesen. Auf 620 Seiten bringt es das Buch, das als ein gewichtiges Werk zur Arbeitszeitpolitik in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet werden kann. Bereits der Untertitel „Perioden, Charakteristika, Motive und Interessen“ deutet auf den breiten Rahmen hin. In der Umsetzung wird ein noch viel weiter gefasstes Programm deutlich: Neben dem Arbeitszeit-Begriff wird zumindest kurz auch der Zeit-Begriff im Allgemeinen erörtert. In der empirischen Analyse finden sich statistisch-ökonomische Ansätze ebenso wie diskursgeschichtliche Betrachtungen über die Arbeitszeit.

Der Schwerpunkt liegt allerdings im Herauspräparieren von Argumentationsmustern der Arbeitszeitpolitik, die, wie der Autor betont, „beschäftigungspolitische, konjunkturpolitische, arbeitshygienische, gesundheitspolitische, kulturpolitische, technologische und ökonomische Aspekte gleichermaßen“ betreffen (S. 16). Das Buch leiten soll die Frage nach der Periodisierung der Arbeitszeitpolitik mit ihren Diskursen (und praktischen Auswirkungen). Schatzl unterscheidet vier Hauptperioden, die den Inhalt der Studie strukturieren. Sein Vorgehen beschreibt er dabei zunächst enger, als es tatsächlich ist. Er bezieht sich in der Einleitung allein auf die Erschließung seines Materials „mit Hilfe der Texthermeneutik“ (S. 40f.). Doch Schatzl hat durchaus ein Auge für die realen Entwicklungen der Arbeitszeit und bringt entsprechende Statistiken ein. Beispielsweise sank die gesamtwirtschaftliche Jahresarbeitszeit pro Beschäftigtem in Österreich bei „näherungsweiser Ausschaltung des Teilzeiteffekts“ von 2.185 Stunden im Jahr 1969 auf 1.914 Stunden im Jahr 1987 (S. 421).

Nach einem theoretischen Teil über den Zeit- und den Arbeitszeitbegriff stellt Schatzl die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen Österreichs vor. „Das ‚Yin und Yang‘ der Arbeitszeitpolitik auf der Ebene der Interessenvertretung bilden die BWK [Bundeswirtschaftskammer] und die IV [Industriellenvereinigung] auf der einen Seite und der ÖGB [Österreichische Gewerkschaftsbund] und die AK [Arbeiterkammer] auf der anderen.“ (S. 91) Anschließend werden die vier Perioden der Arbeitszeitpolitik jeweils ausführlich beleuchtet.

Ausgangspunkt ist die „Konsolidierungs- und Inhomogenitätsphase“, die laut Schatzl 1945 beginnt und „1959 mit dem Generalkollektivvertrag zur Einführung der 45-Stunden-Woche“ endet (S. 34). Die Debatten jener Zeit waren geprägt von der Diskussion um die Bedeutung der Frauenarbeit und die Forderung nach einer 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. So analysiert Schatzl beispielsweise detailliert die Argumentationslinien, die in einschlägigen wirtschaftspolitischen Zeitschriften während der 1950er-Jahre vorkamen (S. 195ff.). Bei der realen Entwicklung der Arbeitszeit zeichnete sich in der ersten Phase eine Angleichung der einzelnen Branchen und Regionen ab. Der Generalkollektivvertrag ging auf einen Vorschlag von Bundeskanzler Julius Raab (Österreichische Volkspartei, ÖVP) zurück. Er wurde 1958 zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberdachverbänden verhandelt und brachte zum 1. Februar 1959 für „ca. 1,6 von 2 Millionen Arbeitnehmer[n], also den überwiegenden Teil der Arbeitnehmerschaft“ (S. 204) die 45-Stunden-Woche. Trotz der Einigung blieb für den ÖGB die 40-Stunden-Woche das Ziel seiner Arbeitszeitpolitik (S. 206ff.).

Die 1960er-Jahre als zweiten Zeitabschnitt sieht Schatzl als „Politisierungsphase“ an (S. 34). Debattiert wurde allgemein das Verhältnis von Arbeit und Freizeit, bis 1968/1969 die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) mit medialem Aufwand ein Volksbegehren für die Einführung der 40-Stunden-Woche initiierte. Dieses entwickelte sich zu einem Wahlkampfschlager für die österreichischen Sozialdemokraten, während die ÖVP tobte und dem politischen Gegner demagogisches Verhalten vorwarf (S. 258f.). Sehr gelungen ist die Gegenüberstellung der Berichte in der Arbeiter Zeitung und den Oberösterreichischen Nachrichten. Während Erstere geradezu euphorisch vom Start des Volksbegehrens berichtete, sah die letztere Zeitung eher einen nüchtern-trägen Start. Von rund fünf Millionen Wahlberechtigten unterzeichneten knapp 890.000 das Volksbegehren – zwar nur eine mäßige Beteiligung, doch das nötige Quorum von 200.000 Stimmen wurde weit übertroffen (S. 317). Das Volksbegehren und das anschließende Arbeitszeitgesetz ebneten in Österreich dann etappenweise den Weg zur Einführung der 40-Stunden-Woche ab dem 1. Januar 1975. In der Bundesrepublik Deutschland war sie in einzelnen Branchen schon seit den 1960er-Jahren tarifvertraglich eingeführt worden und hatte sich mit dem Erfolg der IG Metall 1967 in der Metallindustrie schnell auf weitere Branchen ausgedehnt.

War es in den beiden ersten Perioden weitgehend um Arbeitszeitverkürzungen gegangen, änderte sich dies während der dritten Phase, die laut Schatzl in den 1970er-Jahren begann und sich bis in die 1980er-Jahre erstreckte. Nun kam verstärkt das Schlagwort der Flexibilisierung der Arbeitszeit auf.1 Einerseits wurde es als zentrales „Mittel zur Bekämpfung der Beschäftigungsproblematik“ (S. 381) propagiert, andererseits sollte es Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen auch wieder längere Arbeitszeiten schmackhaft machen. In dieser Phase traten weniger die Gewerkschaften auf den Plan, sondern es war vielmehr der Sozialminister Alfred Dallinger (SPÖ), der die 35-Stunden-Woche propagierte. Den Probelauf einer 35-Stunden-Woche stellte das „Steyrer Modell“ dar. Als das Rüstungsunternehmen Steyr-Daimler-Puch um 1980 in die Krise geriet und zahlreiche Arbeitsplätze gefährdet waren, wurde im Januar 1984 für 90 Prozent der Beschäftigten die 35-Stunden-Woche eingeführt. Die finanziellen Belastungen „sollten zu je einem Drittel auf den Betrieb, die Arbeitsmarktverwaltung und die Dienstnehmer aufgeteilt werden“ (S. 385f.). Letztlich erwies sich das Steyrer Modell als eine verschleierte Form der Kurzarbeit. Denn als vermehrt Aufträge in das Unternehmen kamen, war die Vereinbarung – keine sieben Monate nachdem sie in Kraft getreten war – schon wieder Geschichte.

Ende der 1980er-Jahre zeichnete sich nach Schatzl der Beginn einer vierten Periode ab, in der immer deutlicher Stimmen zu vernehmen waren, die eine Verlängerung der Arbeitszeit propagierten – zunächst weniger mit Blick auf die Wochenarbeitszeit als vielmehr zugunsten einer längeren Lebensarbeitszeit. Doch auch die Wochenarbeitszeit geriet jüngst in den Fokus und die vierte Phase erreichte ihren Höhepunkt, als am 1. September 2018 eine Novelle des Arbeitszeitgesetzes in Kraft trat, das zeitlich befristet und genau reglementiert 12-Stunden-Arbeitstage und 60-Stunden-Arbeitswochen erlaubt. Positiv gewendet eröffnen solche Regelungen den Sozialpartnern den Weg zu Modellen, die nicht mehr generell in Richtung Verkürzung der Arbeitszeit (35-Stunden-Woche) gehen, sondern flexible Formen von Freizeitblöcken und einer Vier-Tage-Woche ermöglichen (S. 557). Doch die Öffentlichkeit sah das anders. Am 30. Juni 2018 kam es zu einer Großdemonstration, die die Novelle allerdings genauso wenig verhinderte wie der Österreichische Gewerkschaftsbund: „Einen gesamtösterreichischen Streik hielt der ÖGB für nicht machbar, so dass vor allen Dingen versucht werden sollte, über Kollektivverträge die Novelle des Arbeitszeitgesetzes wieder auszuhebeln.“ (S. 538)

Überhaupt ist diese Geschichte der Arbeitszeit eine weitgehend streikfreie Geschichte. Das hängt ohne Frage mit der österreichischen Form der Sozialpartnerschaft zusammen; insbesondere für die mit Österreichs Arbeitsbeziehungen weniger vertrauten Leser und Leserinnen wären hier einige Erklärungen zu diesem Strukturmerkmal hilfreich gewesen. Denn an zahlreichen anderen wichtigen Stellen gelingt es Schatzl immer wieder, in seine Darstellung vergleichende Aspekte einzuflechten, etwa wenn er die Verknüpfung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den europäischen Staaten während der 1990er-Jahre vorstellt („Zwischen Flexibilität und Sicherheit – ‚Flexicurity‘“, S. 81ff.) oder den Kampf um die 40-Stunden-Woche im Österreich der 1960er-Jahre in Beziehung setzt mit dem „europäische[n] Trend zur Verankerung der 40-Stunden-Woche“ (S. 244ff.).

Schatzls sehr allgemeine Frage nach der Periodisierung österreichischer Zeitpolitik hat Vor- und Nachteile: Auf der einen Seite öffnet sie ein breites Spektrum an Themen, Quellenzugängen und Interpretationsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite sind die Leser und Leserinnen einer Flut an Informationen, Argumenten und Debattensträngen ausgesetzt, die durch den breiten Ansatz nur schwer zu bündeln sind. Das Lesebändchen, mit dem das Buch ausgestattet ist, sollte man bei der Lektüre mancher Abschnitte im Abkürzungsverzeichnis belassen, wenn sich die Kürzel im Fließtext besonders häufen. Auch die äußerst kleinteilige Gliederung des Literatur- und Quellenverzeichnisses erschwert das Auffinden der Nachweise eher, als dass die Recherche erleichtert wird.

Für die Buchfassung hat Schatzl seine Dissertation, die ursprünglich nur den Zeitraum bis 2009 behandelte, bis zu den Entwicklungen im Jahr 2018 verlängert.2 Auch dank der 37 Abbildungen und 43 Tabellen ist die Studie zu einem umfassenden Überblickswerk geworden. Die Diskussion um den Begriff der Arbeit kommt in den einleitenden Passagen neben der Diskussion um „Zeit“ und „Arbeitszeit“ zwar etwas kurz; so hätte ein Abwägen des Wandels der Arbeit hin zu mehr Verdichtung bei gleichzeitiger Verkürzung der Arbeitszeit stärker einfließen können. Doch bringt der Autor Überlegungen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit, von „Arbeit und Leben“ sowie zum Wandel und zur Bedeutung des „Normalarbeitsverhältnisses“ in die Darstellung mit ein. Insgesamt ist dies ein nicht einfach zu lesendes, aber informatives Buch zu Österreichs Arbeitszeitpolitik und zur Entwicklung der dortigen Arbeitszeit.

Anmerkungen:
1 Vgl. zur Bundesrepublik Deutschland Dietmar Süß, Stempeln, Stechen, Zeit erfassen. Überlegungen zu einer Ideen- und Sozialgeschichte der „Flexibilisierung“ 1970–1990, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 139–162, http://library.fes.de/afs-online/afs/ausgaben-online/band-52/beitraege-zum-rahmenthema-wandel-des-politischen-die-bundesrepublik-deutschland-waehrend-der-1980er-jahre/stempeln-stechen-zeit-erfassen-ueberlegungen-zu-einer-ideen-und-sozialgeschichte-der-flexibilisierung-1970-1990/view (25.11.2019).
2 Den Sammelband von Annika Schönauer / Hubert Eichmann / Bernhard Saupe (Hrsg.), Arbeitszeitlandschaften in Österreich. Praxis und Regulierung in heterogenen Erwerbsfeldern, Baden-Baden 2018, konnte Schatzl nicht mehr rezipieren.

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