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Titel
Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike


Autor(en)
Andersen, Øivind; Aus dem Norweg. von Brigitte Mannsperger und Ingunn Tveide
Erschienen
Darmstadt 2001: Primus Verlag
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
EUR 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Rüdiger, Institut für vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter, Humboldt-Universität zu Berlin

Im Grunde sind wir ja alle Sokratiker. Intellektuelles Tun soll, obgleich wir das nur noch selten zugeben mögen, etwas mit dem Wahren, Schönen und Guten zu tun haben, und wer etwas anderes meint, ist ein Schuft und ein Werterelativist. Der Sokrates aus Platons "Gorgias" gab vor zweieinhalb Jahrtausenden das Muster vor, nach welchem sich bis heute das Mißtrauen gegenüber kunstvoller Beredsamkeit ("das ist ja bloß Rhetorik!") rechtfertigt. Dies mag für die Länder deutscher Zunge noch mehr als für Frankreich oder Großbritannien gelten (weshalb uns auch englische und französische wissenschaftliche Werke immer irgendwie besser lesbar vorkommen, was nicht zuletzt mit den dort nach wie vor praktizierten schulischen Stilübungen zu tun hat). Doch im Grunde ist es so, daß das Mißtrauen gegenüber der Redekunst, das mit den Sokratikern erstmals artikuliert und mit dem kühnen Kunstlosigkeitswollen des Neuen Testaments für immer in unserer Kultur verankert worden ist, gerade im 20. Jahrhundert wieder Hochkonjunktur hatte, mit einem Maximum in den 60er und 70er Jahren, da der Klassizist Ernesto Grassi ein Werk mit dem Titel "Zur Rettung des Rhetorischen" veröffentlichen zu müssen glaubte 1. Seither findet die Redekunst wieder mehr intellektuellen Rückhalt, auch institutionell, etwa durch die Arbeit von Walter Jens und Gerd Ueding in Tübingen.

Einen entsprechenden Beitrag auch in Skandinavien zu leisten - einem Teil Europas also, der sich besonders früh und besonders prononciert von der Pflege des klassischen Erbes abgewandt hat -, war das Hauptanliegen von Øivind Andersen, jetzt Professor für Klassische Philologie in Oslo, als er 1995 "I retorikkens hage" herausbrachte (der Titel stellt mit wohlgesetzter Überhebung den Bezug zu Henry Peachams "The Garden of Eloquence" aus dem 16. Jahrhundert her, in Andersens Worten "viele Generationen lang das meistbenutzte Lehrbuch der Rhetorik", S. 11). Zumindest in Norwegen war der Erfolg des Buches interessanterweise beträchtlich. Die Übertragung ins Deutsche verändert den Charakter des Buches bereits, und man muß seinen manchmal übermäßig erscheinenden Zitatreichtum unter dem Aspekt betrachten, daß in Norwegen auch die gängigeren antiken Autoren nicht so leicht greifbar sind wie bei uns. Das Buch trotzdem so zu belassen, ist andererseits sicher gerechtfertigt, denn Aristoteles, Cicero und Quintilian kann man eigentlich gar nicht oft genug begegnen.

Andersen läßt keinen Zweifel daran, daß die Rhetorik, deren Garten er uns zum Flanieren, Schnuppern und Verweilen erschließen will, nicht viel mit der "Rhetorik" der gleichnamigen Seminare und Leitfäden zu tun hat, mittels derer man lernt, wann man ein offenes Gesicht macht und die nächste Folie auflegt. Er verzichtet auch auf den Allheitsanspruch des Satzes "Kommunikation ist immer auch Rhetorik". Rhetorik ist, da folgt er den klassischen Theoretikern, eine Kunst, die lehrt, etwas systematisch zu tun, was man auch auf gut Glück tun kann (Aristoteles, Rhetorik I 1,2). Andersens Buch ist dominiert von diesem Grundton: Zu reden, um zu überzeugen, ist Teil der menschlichen Natur; und wie jede Kunst soll die Rhetorik dem Menschen helfen, seine natürlichen Fähigkeiten nach Kräften auszuprägen. Sicher, sie ist auch die Kunst der "Seelenführung durch Worte", wie Platons Sokrates anmerkt. Und warum nicht? erklärt Andersen rundheraus, sei es doch in einer Bürgergesellschaft nichts Anrüchiges, überzeugen zu wollen, und auch für Cicero ist die Rhetorik wesentlicher Bestandteil der civilis scientia, der für den Staatsbürger notwendigen Kenntnisse. Andersens Sorge um die Zivilgesellschaft europäischen Modells ist ein zweiter Grundton des Buches: "Die modernen Demokratien beruhen auf dem Grundsatz, daß jeder das Recht hat, seine Meinung zu sagen. Die Rhetorik will den Leuten beibringen, ihre Meinung zu begründen. Meinungsbildung, nicht Stimmenzählung ist der Sinn der Demokratie" (S. 307).

Hiermit verwebt sich der andere Anspruch der Rhetorik, die Menschenbildung. Das quintilianische Ideal des vir bonus dicendi peritus, modern paraphrasierbar als "Mensch mit ethischen Grundsätzen und der Fähigkeit, sie öffentlich umzusetzen", liegt der staatsbürgerlichen Erziehung der Griechen und insbesondere der Römer zugrunde, wie sie Andersen auch uns empfiehlt (und dies glücklicherweise, anders als diese Rezension, fast immer unausgesprochen). Eigentlich ist sein Buch am stärksten in den historischen Passagen, die uns die von der Redekultur geprägte Öffentlichkeit der Antike vorstellen: namentlich die Kapitel "Rhetorik, Pädagogik und Kultur" sowie "Rhetorik und Gesellschaft", die das letzte Drittel des Buches ausmachen. Im demokratischen Athen war Redenkönnen oftmals eine Sache von Leben und Tod. Wer vor dem Volksgericht stand, mußte seine Sache selber vertreten, kein professioneller Anwalt durfte für ihn sprechen, und die Laienrichter urteilten sofort und ohne Beratung. Vermögensverlust, Verbannung, der Schierlingsbecher konnten die Folge sein, wenn es dem Redner nicht gelang, Richter und Publikum für sich einzunehmen. Hinzu kommt die charakteristische antike Vorstellung von gerichtlicher Beweisführung, deren Grundsatz eine gewisse narrative Wahrscheinlichkeit ist (eben jene, die Aristoteles so gerne theoretisiert) und in der Homer und Euripides als Zeugen nicht minder glaubhaft als die beigebrachten Augenzeugen sind. Vor so sinistrem Hintergrund sind scheinbar zynisch klingende Lehren zu verstehen wie: "Alle Menschen hören gern zu, wenn die Worte ihren eigenen Gedanken entsprechen und die Leute ihnen ähnlich sind" (Aristoteles, Rhetorik II 13,16). Der Redner, so zitiert Cicero (De oratore I 87), müsse bei den Zuhörern den Eindruck erwecken, als sei er tatsächlich der Mann, der er sein wolle.

Den professionellen "Logographen" (Redenschreibern), zu denen die gerühmtesten Redner ihrer Zeit zählten, stellte sich damit die Aufgabe, nicht nur den Charakter von Publikum und Richtern, sondern zuallererst ihres Klienten, der die Rede halten und dabei plausibel klingen mußte, möglichst einfühlsam zu berücksichtigen. Mehr noch als die Kenntnis der Wörter ist Rhetorik die Kunst der Menschenkenntnis. Dazu gehörte selbstverständlich der Appell ans Gefühl, mit vollem mimischen und gestischen Einsatz: so erörtert Quintilian, ob sich der Redner in voller Fahrt effektvoll den Schweiß von der Stirn wischen oder ihn effektvoll stehen lassen solle. Die Antike, weit entfernt von unserer romantischen Dichotomie Verstand / Gefühl, betrachtete letzteres wie ersteren als "nicht nur subjektiv echt, sondern auch objektiv wahr" (S. 48) und damit als vollgültigen Teil der natürlichen Beredsamkeit, die zu entwickeln das Anliegen der Rhetorik war. Andersen führt uns ein Menschenbild vor, das wir am liebsten in unsere eigene Zeit importieren möchten, und zwar von Geburt an - die Erziehung des Redner-Bürgers, die Andersen (natürlich vor allem anhand von Quintilian, S. 236-241) ausführlich nacherzählt, schlägt auch nach wiederholter Lektüre die meisten Pädagogiken der Moderne um Längen.

Mit dem Blick auf die umfassende Rhetorisierung der antiken Kultur, die Literatur und Events (Andersen wartet mit faszinierenden Details aus der Auftrittspraxis der Star-Rhetoren der Kaiserzeit auf) ebenso wie Bildung und Politik umfaßte, bewahrt der Autor seine Leser allerdings davor, die Rhetorik als Patentrezept für eine funktionierende humanistische Gesellschaft zu betrachten. Ihre Pflege allein hat den Untergang der deliberativen Bürgerpolitik in Griechenland und Rom nicht verhindert, und die Kultur der öffentlichen Deklamationen, bei der die einst als Übungsthemen gemeinten konstruierten Sachfragen nunmehr der Demonstration von Kunstfertigkeit dienten ("Vater und Tochter werden von Seeräubern ergriffen; der Vater bietet die Tochter dem an, der sie loskaufen will; einer der Piraten willigt ein; doch der Vater stirbt, und als die Tochter nach Hause zurückkommt, erhebt ihre Familie Anspruch auf sie und weigert sich, die Verfügung des Vaters anzuerkennen: Welche Seite ist die stärkere?"), blühte überhaupt erst in den hellenistischen Monarchien und im römischen Prinzipat.

Gegenüber dem historischen Teil, der übrigens durch ein spannendes Kapitel zur Mündlichkeit und den gänzlich anderen Produktionsbedingungen der Rhetorik in einer weitgehend oralen Kultur (einschließlich der antiken Vorbehalte gegen die Schriftlichkeit) komplementiert wird, ist der systematische Teil schwächer. Die drei Stilarten werden zwar unter Bezug auf zahlreiche einschlägige antike Theoretiker erörtert (S. 84-89), man vermißt aber gut gewählte Beispiele für Passagen im schlichten, mittleren bzw. hohen Stil, die Andersen sicher leicht hätte beibringen können. Die stete Diskussion um das Stilideal, Attizismus gegen Asianismus, wird auf zwei Seiten abgehandelt (S. 90f.) - viel zu knapp angesichts der Tatsache, daß sie als Konstante unsere Stildebatten bis hin zur Moderne/Postmoderne prägt. Daß sich das Buch über manche Strecken liest wie Andersens ausgekippter Zettelkasten, ist zwar intendiert ("wenn jemand meint, das beste an dem Buch seien die Zitate, dann freut mich das für sie", S. 13), doch kommt es dabei auch zu manchen Längen und Wiederholungen, und häufig erscheinen Zitate unzureichend kontextualisiert. Alles in allem hat Andersen die von ihm angeführte Sentenz des Aristoteles, ein Bäcker solle den Teig nicht lang oder kurz, sondern lang genug kneten (S. 56), nicht immer beherzigt. In der Titelmetapher ausgedrückt, sieht sein Garten der Rhetorik flächenweise wie eine Platanenplantage aus.

Die Übersetzung ist durchweg gelungen, indem sie nämlich den vergleichsweise lakonischen skandinavischen Wissenschaftsstil bewahrt und doch die Exempla aus der norwegischen Kulturgeschichte, die man gelegentlich noch durchschimmern sieht (S. 64), gewandt auf deutsche Verhältnisse überträgt. Selten kommt es zu Ungenauigkeiten (S. 125: norwegisch "ulik" ist nicht "ungleich", sondern "unterschiedlich") und Unklarheiten (so S. 92). Es finden sich einige typographische (S. 21: "gibt gibt", S. 235: "allle") und sprachliche (S. 292: "das Aquädukt") Mängel. Schwerer wiegt, daß die Gerichtsrede als "genus iudicale" (statt "iudiciale", S. 34) eingeführt wird, und der spätantike Autor, dessen Werk für die Vermittlung der Rhetorik ans Mittelalter so wichtig war, heißt Martianus, nicht "Martinus" Capella (S. 237).

Gut horatianisch macht Andersens Buch Vergnügen; inwiefern nützt es? Es konfrontiert uns - in einer Zeit, da die Rhetorik jedenfalls als Wissenschaftstrend in aller Munde ist - mit der Andersartigkeit jener antiken Kultur, die sie hervorgebracht hat, und warnt in diesem Sinne klassizistisch vor ihrem unbedachten ornamentalen Gebrauch. Es legt uns aber gerade, indem es sie zu stellen versäumt, die Frage vor, welchen Ort die Beredsamkeit in unserer eigenen Bürgergesellschaft haben könnte. Gerade der proklamierte Optimismus von Andersen (und mehr noch von Gerd Ueding in seinem Nachwort) in dieser Hinsicht provoziert die Gegenfrage, wo in einer Mediengesellschaft, deren wesentliches Charakteristikum die Defokussierung ist, für eine Rede Platz sein soll - es sei denn, man wollte die Leitartikel der Printmedien als Erben der Beratungsrede und die 30-Sekunden-Fernsehhäppchen unserer Politiker als Schwundstufe der Enkomiastik deuten. Aber dann liest man die von Andersen in Auszügen wiedergegebene thukydideische Gefallenenrede des Perikles mit dem Schauder, der sich einstellt, wenn man George W. Bush noch in den Ohren hat, und kommt zu dem Schluß, daß es einem wohler ist, denken zu können, daß Perikles wenigstens wußte, welches Spiel er spielte.

Dem würde Andersen mit Quintilian, der ratio und oratio zum Zwillingspaar macht, und dem Hinweis, daß für die Griechen beides im Wort logos aufgehoben war, nur zustimmen (S. 275f.). Aber es geht auch ein paar Nummern alltäglicher: Die rhetorische Praxis, von Fragen der Vorbereitung bzw. Improvisation über die vier virtutes dicendi bis hin zu Ciceros Bemerkung: "Jedesmal, wenn ich versucht habe, mir die Einleitung zuerst auszudenken, ist mir nur nichtssagendes, banales Zeug eingefallen" (De oratore II 315) - sie spricht zu jedem, der wieder einmal einen Aufsatz oder eine Proseminarsitzung vorbereiten muß. Es gibt schlechtere Hochschuldidaktiker als Aristoteles und Quintilian.

1 Ernesto Grassi: Macht des Bildes, Ohnmacht der rationalen Sprache. Zur Rettung des Rhetorischen. München 1979.

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