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Title
Die Prüfung. Zur Geschichte einer pädagogischen Technologie


Author(s)
Lindenhayn, Nils
Series
Beiträge zur Historischen Bildungsforschung
Published
Köln 2018: Böhlau Verlag
Extent
303 S.
Price
€ 45,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Andreas Gelhard, Bonner Zentrum für Lehrerbildung (BZL)

Nils Lindenhayn hat unter dem Titel Die Prüfung eine lesenswerte Untersuchung vorgelegt, die sich der schulischen Prüfung in Preußen um 1800 widmet. Es handelt sich um eine wissensgeschichtliche Arbeit, die sich konsequent auf den deutschsprachigen Raum der „Sattelzeit“ konzentriert. Die methodische Ausrichtung der Studie lässt sich am ehesten als praxeologisch-historiographisch bezeichnen. Eine Ideologiekritik des Prüfens ist nicht beabsichtigt. Das Buch bewegt sich auf einem Forschungsfeld, das in jüngster Zeit zum Beispiel durch Arbeiten aus dem Umfeld der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung erschlossen worden ist.1 Bezüge zu subjektivierungstheoretischen Studien werden angedeutet, bleiben aber locker.2 Für diese ist vor allem die Einsicht von Bedeutung, dass sich Menschen nach den Maßstäben richten, die an sie angelegt werden.3 Aus dieser Perspektive handelt es sich bei Prüfungen nicht nur um Techniken, die Wissen über Probanden produzieren, sondern auch um Mittel der Menschenlenkung, die – mehr oder weniger kontrollierbare – Auswirkungen auf individuelle Selbstverhältnisse und auf soziale Verhaltensmuster haben.4 Lindenhayn deutet gelegentlich an, dass seine Überlegungen auch in diese Richtung interpretiert werden könnten, fasst Technologien der Prüfung in der Grundlinie aber als „epistemische Instrumente einer angewandten Humanwissenschaft“, deren vorrangige Funktion es ist, „Wissen über Schüler“ zu generieren, das man „als objektiv“ ansehen kann (S. 11).

Nach einem einleitenden ersten Kapitel bietet das zweite Kapitel des Buches die Analyse einiger historischer Voraussetzungen, die für das Verständnis der Umbrüche der Sattelzeit wichtig sind. Lindenhayn zeigt exemplarisch an Klassenbüchern und Beurteilungstabellen des 17. Jahrhunderts, dass die Schule schon vor Entstehung des modernen Bildungssystems als Ort der „Wissensproduktion über Schüler“ fungierte (S. 59). Im Rahmen protestantisch-policeylicher Schulkonzepte fungierte der Lehrer als „Wissensvermittler und Datensammler“ (S. 70). Zugleich bilden sich erste Verfahren heraus, um ihn in dieser Funktion zu kontrollieren. Lindenhayn betrachtet diese Entwicklungen durchgehend aus der doppelten Perspektive von Interaktion und Organisation. Die analysierten Ordnungsstrukturen bilden für ihn nicht nur den administrativen Rahmen, in dem pädagogische Interaktion möglich würde, sondern konstitutive Strukturen der pädagogischen Praxis selbst. Dasselbe gilt für das Bildungsprogramm der Jesuiten, das Lindenhayn vor allem in Hinblick auf Strukturen des Wetteifers (aemulatio) untersucht.

Das dritte Kapitel nimmt den eigentlichen Untersuchungszeitraum der Studie – die Jahre 1780–1860 – in den Blick. In den anthropologischen Entwürfen des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Trapp, Moritz, Wezel) verfolgt Lindenhayn „die Konstitution des Kindes als epistemischem Gegenstand“ (S. 93). Dieser wissenschaftlichen Dynamik korrespondieren erste Bemühungen zur Verstaatlichung des Schulwesens, die vor allem bei der inneren Schulaufsicht – bei der Bestimmung von Unterrichtsinhalten, Lehrmethoden und Lehrerausbildung – ansetzten, bei der Durchsetzung der äußeren Schulaufsicht – in materiellen und personellen Fragen – aber noch auf erhebliche Widerstände stoßen. Als entscheidender „Hebel“ in diesen Bemühungen zur Verstaatlichung des Schulwesens erweist sich, laut Lindenhayn, vor allem das Abitur (S. 107).

Nachdem der historische Horizont der Untersuchung auf diese Weise abgesteckt ist, behandelt der zweite Teil des Buches die Praktiken des Urteilens, Klassifizierens und Bewertens, in denen sich der Begriff der (schulischen) Prüfung konkretisiert, im Hinblick auf Effekte der „Objektivierung“ (S. 119). Michel Foucault hat in seinen Analysen der Prüfung um 1800 gezeigt, dass die neuen Formen der Objektivierung mit einer „Umkehrung der Achse der Individualisierung“ einhergehen: Das Ergebnis der Prüfung erhält seine Verbindlichkeit nicht mehr im Rekurs auf Eigenschaften des Prüfers – seine Macht und Autorität – sondern zunehmend durch die Differenzierungsleistung auf Seiten der Probanden, deren „Individualität“ durch ein Geflecht von spezifischen Eigenschaften, individuellen Differenzen und quantitativen Maßen festgelegt wird.5 Lindenhayn greift – mit Lorraine Daston – vor allem ein Charakteristikum dieses Objektivierungsprozesses heraus: den „Prozess der Abkopplung der generierten Aussagen von den Subjekten“, die einem „Ideal der Aperspektivität“ zum Durchbruch verhelfen (S. 119). Die konkreten Analysen des Materials lassen allerdings Zweifel aufkommen, ob sich diese Bestimmung von Objektivität mit den analysierten Praktiken deckt. Terminologisch lässt sich das zum Beispiel an den Partien der Studie festmachen, in denen Lindenhayn Effekte der Objektivierung in Praktiken der „intersubjektiven Überprüfung“ (S. 43) von Lehrerurteilen ausmacht oder sich auf ein „intersubjektives Verständnis von ‚gut‘ und ‚schlecht‘“ (S. 152) bezieht, wie es sich in einer Lehrerkonferenz herstellt. Intersubjektivität ist nicht aperspektivisch. Sie kann folglich auch keine subjektunabhängigen Urteile hervorbringen, sondern nur Praktiken etablieren, die auf die angemessene Berücksichtigung der Urteile anderer zielen.6

Lindenhayn untersucht seine Quellen durchgehend aus der doppelten Perspektive von Interaktion und Organisation. Dabei treten weniger die disziplinierenden und verhaltenslenkenden Dynamiken in den Blick als die Techniken der „Materialisierung“, die das Lehrerurteil von ihrem Urheber lösen und der administrativen Bearbeitung zugänglich machen (S. 119). Dies demonstriert der Autor im vierten Kapitel an verschiedenen Praktiken, die den Bewertungsrang der Schüler in der schulischen Sitzordnung sichtbar machen. Die Abbildung von Rangfolgen in der Sitzordnung war im deutschen Schulsystem lange Praxis und ist in Preußen erst 1927 endgültig verboten worden. Lindenhayn fokussiert vor allem auf die Verschiebung von dem so genannten Certieren zum Lozieren, um zu zeigen, wie stark kompetitiv ausgerichtete Praktiken durch „ruhigere“ Formate abgelöst wurden, die nicht auf unmittelbare Wettbewerbssituationen in der Klasse, sondern auf Entscheidungen der Lehrerkonferenz gestützt waren. Er deutet diese Verschiebung als exemplarischer Prozess der Bürokratisierung, der die Beurteilung von der Situation in der Klasse ablöst und der Lehrerkonferenz die Aufgabe überträgt, die Hierarchie festzulegen. Die Bemühungen um Objektivierung des Lehrerurteils konkretisieren sich in Maßnahmen der Normierung und Standardisierung.

Das gilt auch für die zunehmende Quantifizierung und Verschriftlichung der schulischen Beurteilungspraxis, die Lindenhayn im fünften und sechsten Kapitel analysiert. Dabei zeigt er sehr überzeugend, welche Rolle materielle Verfahren bei der Produktion von Objektivität spielen können. Neben Verfahren der Standardisierung, die das Urteil von seinem Urheber abkoppeln, analysiert er auch Praktiken der „Bereinigung“, die die Spuren des Urteilsaktes aus der dokumentierten Note tilgen (S. 165). Lindenhayn illustriert das an der Praxis einer Berliner Gewerbeschule, deren Zeugnisvordrucke mit einer Spalte zur Errechnung der Notenwerte versehen waren: Vor der Verteilung der Zeugnisse bereinigte man das Bild, indem man diese Spalte abschnitt. Diese Tilgung der Handarbeit, die in der Errechnung der Note steckt, hatte sicher das Ziel, die autoritative Wirkung der abschließenden Beurteilung zu erhöhen. Lindenhayn deutet sie zugleich als Versuch, „die Arbeit des Pädagogen gegenüber der Zielgruppe (Eltern, Schüler) als rein pädagogische zu kommunizieren“ (S. 166).

Eine große Stärke von Lindenhayns Studie ist der offene Blick für die Bedeutung von institutionellen Strukturen für die schulische Praxis. In diesem Zusammenhang sind nicht nur Fragen der effizienteren Organisation, sondern auch Fragen der Legitimation schulischen Handelns von Bedeutung. Eines der wichtigsten zeittypischen Rituale, das der Legitimation der Schule vor der versammelten Elternschaft und der städtischen Öffentlichkeit diente, stellt das siebte Kapitel dar: die öffentliche Prüfung. Diese Prüfung sollte – wie heutige Schulleistungstests – die Qualität der Lehrer an den Leistungen der Schüler ablesbar machen. Das dahinterstehende Kausaldenken, das Schülerleistungen als Wirkung von Lehrerhandeln interpretiert, ist falsch, aber unverwüstlich: „der Lehrer wird mit den Leistungen seiner Schüler identifiziert“ (S. 233). Aus der Perspektive von Foucaults Machttheorie lässt sich die öffentliche Prüfung so als Mechanismus der Normalisierung interpretieren, der auf die Lenkung von Lehrerhandeln ausgerichtet ist.

Wie immer, wenn Prüfungen als Praktiken der Verhaltenslenkung in den Blick treten, bleibt Lindenhayns Analyse hier eher zurückhaltend. Seine Studie stößt an diesen Punkten auf eine Grenze, die nicht auf irgendein Versäumnis, sondern auf eine bewusste Entscheidung zurückzuführen ist. Gegen eine Geschichtsschreibung im Stile Ingenkamps, die in älteren Praktiken des schulischen Urteilens nur die „Vorgeschichte“ einer seriösen psychologischen Diagnostik sieht (S. 279, Anm. 10), setzt Lindenhayn – vollkommen zu Recht – auf die Eigenlogik der untersuchten Beurteilungsverfahren und die Produktivität der pädagogischen Praktiker. Seine strategische Entscheidung, „das schulische Beurteilungsgeschäft ‚aus der Schule heraus‘ zu verstehen“ (S. 266), stößt allerdings da an ihre Grenzen, wo sich schulische Praktiken im Austausch mit dem Rest der Welt – mit den Familien, der Kirche, der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft – herausbilden. An dieser Stelle bedürfte es, um die Analyse weitezutreiben, einer Theorie des Prüfens, die auch außerschulische Bereiche und insbesondere informelle Prüfungspraktiken in den Blick nimmt.

Anmerkungen:
1 Vgl. stellvertretend den Thementeil „Praktiken der Prüfung“ in der Zeitschrift für Pädagogik 3/2017 und die dort verzeichnete Literatur.
2 Vgl. vor allem die Bemerkungen Lindenhayns in der Einleitung (S. 32) und am Schluss des Buches (S. 278).
3 Vgl. Andreas Kaminski, Maßstäbe der Macht, in: Andreas Gelhard / Andreas Kaminski (Hrsg.), Zur Philosophie informeller Technisierung, Darmstadt 2014, S. 171–184.
4 Vgl. Andreas Gelhard, Kritik der Kompetenz, 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Zürich u.a. 2018.
5 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 248.
6 Will man am harten – „asubjektiven“ – Begriff der Objektivität festhalten, bietet es sich an dieser Stelle an, von Unparteilichkeit zu sprechen. Unparteiliche Prüfungen bleiben an den Pluralismus der Perspektiven zurückgebunden, den objektivierende Prüfungen tilgen müssen, wenn sie ihrem Namen gerecht werden sollen. Es spricht daher Vieles dafür, intersubjektive Formen des Abgleichs von Urteilen deutlicher vom Ideal einer aperspektivischen Objektivität abzusetzen, als das in der Begrifflichkeit Dastons möglich ist (vgl. Andreas Gelhard, Skeptische Bildung. Prüfungsprozesse als philosophisches Problem, Zürich u.a. 2018, Abschnitte III.3 und V.3).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/