J. Ruppenthal: Raubbau und Meerestechnik

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Titel
Raubbau und Meerestechnik. Die Rede von der Unerschöpflichkeit der Meere


Autor(en)
Ruppenthal, Jens
Erschienen
Stuttgart 2018: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ole Sparenberg, Karlsruher Institut für Technologie

Die an der Universität zu Köln entstandene Habilitationsschrift von Jens Ruppenthal untersucht den historischen Wandel im Verhältnis von Mensch und Meer. Konkret geht es um die Veränderung in der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Wahrnehmung der Ressourcennutzung im Meer sowie deren ökologische Folgen. Die Untersuchungsgegenstände der Arbeit, die sich zeitlich auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und räumlich im Wesentlichen auf die Bundesrepublik bezieht, bilden einerseits die Fischerei und andererseits der (bis heute nur projektierte) Meeresbergbau nach erzhaltigen Manganknollen. Ruppenthal sieht seine Untersuchung vorrangig als Beitrag zur Umweltgeschichte, daneben aber auch als Teil der Maritimen Geschichte oder Maritime History. Letztere wird ausdrücklich nicht als Nischenfach für Schiffsbegeisterte verstanden, sondern umfassend als Geschichte der menschlichen Interaktionen mit dem Meer.

Methodisch folgt Ruppenthal einem pragmatischen Verständnis von Diskursgeschichte, erklärtermaßen ohne eine Diskursanalyse betreiben zu wollen. Wie die Formulierung des Untertitels „Die Rede von der Unerschöpflichkeit des Meeres“ schon andeutet, wird der Begriff „Diskurs“ im Laufe der Untersuchung ausdrücklich vermieden. Stattdessen spricht der Autor überwiegend von „Debatten“. Die Quellenbasis bilden gedrucktes und ungedrucktes Schriftgut einschließlich der Unterlagen verschiedener Bundesministerien, Dokumente und Verträge der UN und EU, der Tagespresse sowie Veröffentlichungen von Unternehmen, Wirtschaftsorganisationen und Forschungseinrichtungen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt überdies auf der Auswertung populärer Sachbücher zu Meeresthemen.

Die Grundannahme des Buches ist, dass drei Vorstellungen die bundesdeutschen Debatten über das Meer und seine Ressourcen prägten: Die Vorstellung von der Unerschöpflichkeit bildet das älteste Konzept, zu dem in den 1960er- und 1970er-Jahren ein ausgeprägtes Machbarkeitsdenken bezüglich der technologischen Erschließung dieses Raumes hinzutrat, während die Verwundbarkeit des Meeres als Ökosystem die zeitlich jüngste Vorstellung darstellt.

Auf die Einleitung folgt mit dem zweiten Kapitel „Die Meere in der Geschichtswissenschaft“ zunächst ein ausführlicher Literaturüberblick, der in die Teildisziplin der Maritime History einführt sowie den Forschungsstand zum Meer in Global-, Kultur- und Umweltgeschichte wiedergibt. Außerdem wird in diesem Kapitel kurz das Konzept des Anthropozäns diskutiert, welches allerdings erst wieder im Ausblick am Ende des Buches aufgegriffen wird. Das dritte Kapitel „Meeresnutzung und internationales Seerecht“ bietet kurz gerafft eine Darstellung des Seevölkerrechts von Hugo Grotius im 17. Jahrhundert bis zum UN-Seerechtsübereinkommen von 1982.

Den eigentlichen Hauptteil der Arbeit bilden die beiden folgenden umfangreichen und im Vorgehen parallelen Kapitel vier und fünf. Im vierten Kapitel „Fischerei: Der langsame Abschied von der Unerschöpflichkeit“ verfolgt Ruppenthal den Wahrnehmungswandel zunächst gestützt auf die Publikationen der bundesdeutschen Fischereiwirtschaft und die Entwicklung der bundesdeutschen Meeresforschung. Es folgt eine Darstellung der Auswirkungen der Seerechtsentwicklung auf die Hochseefischerei, wobei Ruppenthal den Konflikt mit Island („Kabeljau-Kriege“) nur sehr kurz abhandelt. Anschließend werden in weiteren Unterkapiteln die Presseberichterstattung und die Sachbuchliteratur der 1960er- bis 1980er-Jahre untersucht sowie die öffentliche Wahrnehmung der marinen Umwelt vor der Jahrtausendwende. Ruppenthal zeigt so, wie die Vorstellung unerschöpflicher Fischbestände allmählich einem Bewusstsein für die Fragilität mariner Ökosysteme wich.

Den Gegenstand des parallel angelegten, aber zeitlich versetzt erst in den 1960er-Jahren einsetzenden fünften Kapitels „Meeresforschung: Machbarkeit im Inner Space“ bildet der projektierte, aber bis heute nicht realisierte Tiefsee- oder Meeresbergbau nach Manganknollen, dem anfangs erneut die Vorstellung quasi unerschöpflicher Ressourcen zugrunde lag. Beginnend mit den oft an den zeitgleichen Weltraumvorstellungen angelehnten Machbarkeitsutopien der 1960er-Jahre werden zunächst die bundesdeutsche Forschungspolitik, die Gründungen von Verbänden und Arbeitsgemeinschaften durch die Industrie und die Fahrten des Forschungsschiffes Valdivia dargestellt. Anschließend untersucht Ruppenthal anhand der Presseberichterstattung und öffentlicher Ausstellungen die Präsenz des Meeresbergbaus in der bundesdeutschen Öffentlichkeit der 1970er-Jahre und schildert, wie der Streit über die Verfügungsrechte auf der Dritten UN-Seerechtskonferenz die Aussichten des Meeresbergbauprojekts zunehmend verdüsterte. Wie im Fall der Fischerei folgt die Auswertung populärer Sachbücher, die seit den 1960er-Jahren verstärkt die mineralischen Rohstoffe des Meeres in den Fokus nehmen. Das Kapitel endet mit der Einstellung der Meeresbergbaupläne in den frühen 1980er-Jahren und dem erneuten Interesse im 21. Jahrhundert, das allerdings in der öffentlichen Wahrnehmung jetzt stärker ökologischer Kritik ausgesetzt ist.

Das letzte Kapitel „Fazit und Ausblick“ betont zunächst, dass dem Wandel in der Wahrnehmung ein realer Wandel in der Nutzung entsprach, das heißt dass die Ressourcennutzung in den Ozeanen im Untersuchungszeitraum mengenmäßig und geographisch deutlich ausgeweitet wurde. Die im Ergebnis nicht mehr zu leugnenden Anzeichen für die Überfischung vieler Bestände wurden, so Ruppenthal, spätestens ab 1970 auch in der Öffentlichkeit weitgehend erkannt; allerdings setzte sich erst gegen Ende des Jahrhunderts ein ganzheitliches Verständnis für das Meer als verwundbares Ökosystem in Wissenschaft und Öffentlichkeit durch. Abschließend diskutiert Ruppenthal weitere Möglichkeiten und Aufgaben für eine Umweltgeschichte des Meeres: Ein Potential hierfür erkennt er bei der von dem Fischereibiologen Daniel Pauly entwickelten Idee des „Shifting Baseline Syndroms“, also der schleichenden, generationsweisen Gewöhnung an immer stärker verarmte Ökosysteme sowie dem Konzept des Anthropozäns in Verbindung mit älteren umwelthistorischen Periodisierungsvorschlägen wie Christian Pfisters „1950er Syndrom“ und Patrick Kuppers „1970er Diagnose“.

Da Ruppenthal explizit die Geschichte der meeresbezogenen Debatten und Vorstellungen schreiben will, wird der Leser hier folgerichtig keine konkreten Angaben zu bestimmten Nutzungsweisen, Fangmengen, Flottengrößen oder Rohstoffpreisen finden. Weniger nachvollziehbar bleibt hingegen, inwieweit der gewählte Untersuchungszeitraum – beginnend nach dem Zweiten Weltkrieg – sich mit Blick auf die Debatten über die Unerschöpflichkeit inhaltlich begründen lässt. Das Jahr 1945 ist als Zäsur in diesem Kontext nicht von selbst evident, und kontroverse Debatten über die Erschöpflichkeit der Fischbestände finden sich schon im 19. Jahrhundert, durchaus auch in populäreren Sachbüchern wie zum Beispiel von Jules Michelet und Alfred Brehm. Speziell für die Epoche der Bundesrepublik wäre dagegen die Einbeziehung nichtschriftlicher Quellen zu erwägen gewesen. Wie Ruppenthal selbst erwähnt, waren die einflussreichen Wissensvermittler Hans Hass und Jacques-Yves Cousteau nicht zuletzt für ihre Filme über das Meer bekannt, während große Teile der deutschen Gesellschaft vor allem in Spielfilmen und TV-Serien mit der utopischen Vorstellung von der technologischen Erschließung der Ozeane in Kontakt gekommen sein dürften.

Eine verpasste Gelegenheit ist darin zu sehen, dass Ruppenthal seine Befunde hinsichtlich der Wahrnehmung der Meeresumwelt nicht in Beziehung zu allgemeinen Periodisierungsvorschlägen der Umweltgeschichte setzt. Einige solche werden lediglich im Ausblick erwähnt; Joachim Radkaus „ökologische Revolution“ um 1970 fehlt dagegen ganz1, obwohl es interessant wäre zu wissen, ob sich der gesellschaftliche Blick auf das Meer verglichen mit der Wahrnehmung der besser sichtbaren und erfahrbaren Umwelt an Land gleichzeitig oder erst verzögert wandelte.

Ungeachtet dieser Anmerkungen arbeitet Ruppenthals gut lesbare, materialreiche und auf eine breite Literatur- und Quellenbasis gestützte Studie überzeugend den meeresbezogenen Wahrnehmungswandel in der bundesdeutschen Öffentlichkeit heraus. Gleichzeitig ermöglicht das Buch durch den ausführlichen Literaturüberblick einen guten Einstieg in die hierzulande noch wenig bekannten und entwickelten Felder der Maritime History und der Umweltgeschichte des Meeres.

Anmerkung:
1 Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011.

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