Historiker arbeiten nicht unter Laborbedingungen. In seltenen Fällen aber präsentiert sich ein Untersuchungsgegenstand in einer Konstellation, die einer naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung schon recht nahe kommt, mit der etwa die Entwicklung einer Zellkultur in unterschiedlichen Nährlösungen experimentell überprüft werden kann. Die Westarbeit der FDJ ist eines der Themen, die eine derartige Perspektive erlauben, ja geradezu herausfordern, war sie doch in weiten Teilen der Versuch von KPD und SED, Methoden und Inhalte kommunistischer Jugendarbeit, wie sie unter den spezifischen Bedingungen in der SBZ/DDR durchgesetzt wurden, in die westlichen Besatzungszonen und die Bundesrepublik zu verpflanzen.
Der östliche Teil dieses Experiments – die Jugendpolitik von KPD/SED und die Entwicklung der FDJ in der DDR – ist zumindest bis zum Mauerbau in den letzten Jahren eingehend dargestellt und analysiert worden. Das Konzept einer formal überparteilichen Jugendarbeit mit einer Monopolorganisation in Gestalt der FDJ war ein Import der Moskauer KPD-Remigranten, das bei den anderen sich in der SBZ nach Kriegsende formierenden gesellschaftlichen und politischen Akteuren kaum originäre Unterstützung fand; selbst große Teile der wiederentstehenden KPD hätten einen kommunistischen Jugendverband nach dem Vorbild der KPD bevorzugt.
Neben der Hegemonialpartei KPD/SED hatte vor allem die sowjetische Besatzungsmacht entscheidenden Anteil daran, dieses Modell gegen vielfältigen Widerstand durchzusetzen und den kommunistischen Führungsanspruch in der FDJ abzusichern. Hatte sich die FDJ aus taktischem Kalkül mit ihrem Gründungsprogramm von 1946 als Vertreterin jugendlicher Interessen und Vorkämpfer gesellschaftlicher Partizipationschancen junger Menschen um eine große Mitgliederbasis bemüht, so wurde sie ab 1947 parallel zur Entwicklung in der SBZ zunehmend politisiert und für die Ziele der SED offen instrumentalisiert.
Michael Herms beschreibt nun also den Verlauf des Experiments unter den entstehenden pluralistischen Verhältnissen in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik. „Westarbeit“ von KPD/SED aus der SBZ/DDR war im Bereich der Jugendpolitik über große Zeiträume vor allem der Versuch, einen Verband der FDJ im Westen nach dem Muster der östlichen großen Schwester zu etablieren, ihn weitgehend synchron zu politisieren und über ihn deren Propaganda und Kampagnen über die Demarkationslinie zu transportieren. Besonderen Wert legt Herms auf die Rekonstruktion der östlichen Steuerung des westlichen Verbandes durch SED und FDJ. Obwohl die Studie auf der deutschen Aktenüberlieferung basiert, wird im Einzelfall auch die Intervention sowjetischer Stellen erkennbar. Die eindeutigen Befunde erübrigen eine Diskussion darüber, bis zu welchem Grad die Leitungen der West-FDJ vom Osten abhingen. Die Personalhoheit lag in Ostberlin, das Funktionärskorps wurde in der SBZ/DDR geschult, von dort kamen die politische Programmatik und die Initiative für wesentliche Aktionen; die Feinsteuerung schließlich besorgten in den Westen entsandte Instrukteure der FDJ, und auch finanziell war der Westverband in erheblichem Maß von Transferleistungen abhängig.
Erfolg war dem Projekt allerdings kaum beschieden. In mehreren chronologischen, durch einen übergreifenden Abschnitt zur Kaderschulung ergänzten Kapiteln erzählt Herms vielmehr eine Geschichte des Scheiterns. Der Bogen spannt sich von den zunächst dezentralen Bemühungen unter verschiedenen Namen wie Schwäbische Volksjugend, aber auch unter dem Label FDJ in den westlichen Besatzungszonen Jugendverbände ins Leben zu rufen, über deren sukzessive Zusammenfassung unter einer zentralen Leitung, dem Verbot der FDJ durch die Bundesregierung 1951 bis zur faktischen Selbstauflösung 1956. Ihren regionalen Schwerpunkt hatte die FDJ wie die KPD im Ruhrgebiet. Die nach Ostberlin rapportierten Mitgliederzahlen dürften mit gehöriger Skepsis zu betrachten sein: Herms gibt für 1947 ein Maximum von 50.000, für 1953 noch die Zahl von knapp 9.000 bundesdeutschen FDJlern an; spätestens danach sank die Organisation zur unbedeutenden Splittergruppe ab.
Die Frage nach der politischen und sozialen Zusammensetzung des Verbands bleibt offen: Der von Herms selbst als problematisch qualifizierte Versuch, die soziale Struktur der gesamten Mitgliederschaft des Verbands im Jahr 1947 aus einer in den Jahren 1950 bis 1952 geführten, ca. 400 Funktionäre umfassenden Kaderkartei hochzurechnen, kann methodisch nicht überzeugen. Dass aber über 80 Prozent dieser Funktionäre Kinder von Eltern mit KPD-Parteibuch waren, ist bezeichnend für die kommunistische Dominanz im Verband und dürfte zugleich ein Hinweis darauf sein, dass es der Organisation kaum gelang, Anfang der fünfziger Jahre noch intakte Milieugrenzen zu überschreiten.
Der Schwerpunkt und die Stärke der Studie liegen in der Rekonstruktion der Binnenperspektive der Apparate östlich wie westlich der deutsch-deutschen Grenze. Dass die West-FDJ dabei keine scharfen Konturen gewinnt, dürfte primär der Spezifik des Gegenstands geschuldet sein. Die jungen, d.h. in der Parteihierarchie weit unten angesiedelten Funktionäre in den Leitungen des alles andere als homogenen Verbands sahen sich verschiedenen und oftmals unkoordiniert agierenden Steuerungszentralen untergeordnet: Der SED-Führung selbst, der Westkommission der Partei, der Führung der ostdeutschen FDJ, deren Westabteilung und zuweilen wohl auch sowjetischer Stellen.
Dazu kam die ihrerseits SED-gelenkte KPD und hinzu kamen auch noch die regionalen Leitungen der KPD in der Bundesrepublik, die versuchten, ihre zuweilen eigenwilligen Vorstellungen von Jugendarbeit lokal umsetzen zu lassen.
Der ostdeutsche „demokratische Zentralismus“ fand in diesem Geflecht von Apparaten zwar keine klar gezogenen Grenzen, führte aber vielfach zu Konflikten, so dass sich ein Großteil der Aktivitäten nicht auf Außenwirkung, sondern auf interne Auseinandersetzungen richteten. Zuweilen nahm die Selbstreferenz der Apparate dabei nahezu groteske Züge an. Während die FDJ die letzten Reste an Breitenwirkung verlor und zu völliger politischer Bedeutungslosigkeit absank, wurde ihr Führungspersonal nach dem Muster der zeitgleichen Ostberliner „Parteisäuberungen“ mehrfachen Überprüfungen ausgesetzt. Entlassungen unter den Vorwürfen „Agent“ oder „Parteifeind“ rissen weitere Löcher in die dünne Personaldecke.
Die organisationsinterne Sichtweise dominiert auch Herms’ Darstellung der außengerichteten Aktivitäten der West-FDJ. Als roter Faden zieht sich durch die Arbeit das in mehreren Dimensionen zu verortende Spannungsfeld zwischen proklamierter Überparteilichkeit der West-FDJ einerseits und ihrer Unterordnung unter die östlichen Führungszentralen sowie die aktive Vertretung politischer Positionen der DDR im Westen andererseits. Von Beginn an war das in aller Regel der KPD angehörende bzw. ihr nahe stehende Führungspersonal der FDJ zum Spagat gezwungen zwischen einer vermeintlich auf gleichberechtigte Zusammenarbeit mit anderen politischen Kräften zielenden Jugendarbeit und dem Versuch, diese zu kontrollieren und zu politisieren. Da die FDJ von westdeutschen Behörden, Parteien und nicht zuletzt der Zielgruppe als trojanisches Pferd erkannt wurde, verlor sie mit zunehmender Politisierung potentielle Ansprechpartner und die ohnehin nur schwach organisationsgebundene Mitgliederbasis, dies umso schneller, je mehr Alternativen das sich ausweitende und differenzierende Angebot politischer und freizeitorientierter Jugendarbeit bot.
Selbst die Kader ließen sich unter diesen Verhältnissen nicht immunisieren. Es hat durchaus etwas Kurioses, wenn etwa die gerade in der scharf anti-westlichen Haltung um ideologische Geschlossenheit bemühte Ostberliner Zentrale 1947 Berichte westdeutscher FDJ-Funktionäre erhielt, in denen die englische Demokratie und die dort gebotenen Möglichkeiten für die Jugendarbeit als Vorbild gepriesen wurden – die britischen Umerziehungsbemühungen gegenüber Multiplikatoren der Jugendarbeit waren nicht wirkungslos geblieben.
Minimale Resonanz bei der Zielgruppe auf der einen Seite und der Wunsch vieler ideologisch überzeugter Jungfunktionäre, anstelle der „verwässerten“ Breitenarbeit klare kommunistische Politik nach dem Muster des Weimarer KJVD zu betreiben, auf der anderen, waren nicht allein Gegenstand ständiger interner Auseinandersetzungen, sondern führten 1948 zu dem letztendlich von Ost-Berlin abgeblockten Vorstoß von FDJ- und KPD-Funktionären, die West-FDJ durch einen KPD-Jugendverband zu ersetzen. Der vor allem der geringen Breitenwirkung geschuldete Versuch, sich stärker auf die Zusammenarbeit mit anderen Jugendverbänden zu konzentrieren, führte allenfalls bei wenigen Einzelaktionen zu begrenzten Erfolgen, hatte die FDJ doch seit 1947 die bald ins rabulistisch-nationalistische gesteigerte deutschlandpolitische Propaganda der SED zu vertreten. Stieß sie damit bei gezielt umworbenen Organisationen ehemaliger HJ-Führer noch auf Interesse, so machte sie sich selbst in nationalen Kreisen unglaubwürdig, wenn sie von einer scheinbar antimilitaristischen Position die Westintegration der Bundesrepublik als aggressive Kriegsvorbereitung bekämpfte, gleichzeitig aber die Aufrüstung der DDR und die Militarisierung der Ost-FDJ begrüßte und unterstützte.
Erst unter den Bedingungen der Illegalität kam der Januskopf der FDJ zur vollen Ausprägung; das Bemühen um Bündnispartner unter den Schlagworten „Frieden“ und „Deutsche Einheit“ war die eine Seite, der keinerlei Rücksicht auf die Position der wenigen kooperationswilligen Kräfte zulassende, militant-klassenkämpferische Versuch, unter der Parole „Sturz der Adenauer-Regierung“ gewaltsame Auseinandersetzungen mit der bundesrepublikanischen Staatsmacht zu provozieren, um das westdeutsche System als scheinbar militaristische Diktatur zu „entlarven“, die andere Seite der Medaille. Der Tod des bayerischen FDJ-Funktionärs Philipp Müller 1952 durch Polizeikugeln in Essen war etwa das Ergebnis der gezielten gewaltsamen Eskalation einer verbotenen Demonstration durch Mitglieder des Verbands und des darauf folgenden unbeholfen-massiven Einsatz der Sicherheitskräfte. Bei der Darstellung solcher Aktionen der FDJ stößt Michael Herms allerdings an die Grenzen der benutzten Materialbasis - die in ostdeutschen Archiven überlieferten Akten von SED, KPD, FDJ und MfS einschließlich weniger dort erhaltener westdeutscher Dokumente.
Aktivitäten und Reaktionen westdeutscher Verbände und Behörden rekonstruiert er anhand ihrer Spiegelung in den Berichten von FDJ und SED. Die Verwendung der bundesdeutschen Komplementärüberlieferung hätte hier vielfach eine präzisere Darstellung der Vorgänge erlaubt und noch mehr Licht hinter die von SED und FDJ errichtete Propagandafassade gebracht. 1 Dies gilt etwa für die politik- und sozialgeschichtliche Verortung der West-FDJ in der pluralistischen Jugendverbandslandschaft der Westzonen und in ganz besonderem Maß für die Darstellung des Verbotsverfahrens gegen die FDJ und deren Abwehrstrategien im Kapitel „Westarbeit und Politische Justiz der Bundesrepublik“. Zu einer konsistenten Darstellung eines Ausschnitts der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg gelangt die Studie nicht; sie bietet vor allem eine detailreiche Sicht auf einen Teil der Bemühungen der SED, ihre Deutschlandpolitik in der Bundesrepublik zu exekutieren.
Welche weiterführenden Schlüsse lassen sich nun aus der experimentellen Beobachtung ziehen? Neben vielen anderen drängt sich ein Rückbezug geradezu auf. Obwohl Herms keine Aussagen zur Umsetzung der Jugendpolitik in der SBZ/DDR macht, liefert er doch ein wichtiges Argument zur Entkräftung der nicht allein von ehemaligen Protagonisten, sondern auch von den Massenmedien immer wieder gern erzählten Legende vom guten Anfang der ostdeutschen FDJ. Deren schnell nach Hunderttausenden zählenden Mitglieder scheinen dabei die Attraktivität der Organisation und auch eine verbreitete, oft vorschnell als Loyalität zum SED-Regime interpretierte, Zustimmung zu ihren politischen Aussagen zu belegen. Allein - das Scheitern des Versuchs, das gleiche Modell mit ähnlichen politischen Inhalten in ein pluralistisches System zu verpflanzen, demonstriert überzeugend, welche Anziehungskraft die FDJ und ihre inhaltlichen Positionen auch in der SBZ/DDR gehabt hätten, wäre sie der Konkurrenz anderer Jugendorganisationen ausgesetzt gewesen.
Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Buschfort, Wolfgang: Philipp Müller und der „Essener Blutsonntag“ 1952, in: Deutschland Archiv 35 (2002), S. 253 – 258.