D. Sittler: Straßenverkehr und soziale Sichtbarkeit

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Titel
Straßenverkehr und soziale Sichtbarkeit. Das Massenmedium Straße in Chicago 1900–1930


Autor(en)
Sittler, David
Reihe
Medien-, Sozial- und Technikgeschichte 1
Erschienen
Baden-Baden 2018: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
393 S.
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicolai Hannig, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Straßen erzeugen Sichtbarkeit. Personen, Gruppen und deren Anliegen dienen sie als Massenmedien im übertragenen Sinne. Das war zu Hochzeiten des sozialen Protests im 19. und frühen 20. Jahrhundert der Fall wie auch heutzutage in Zeiten digitaler sozialer Netzwerke. Der sogenannte Arabische Frühling ist hier nur ein Beispiel unter vielen. Doch welche Nutzungsweisen ließen die urbane Straße zu einem Massenmedium werden? Wie hingen Straßenverkehr und soziale Sichtbarkeit eigentlich zusammen? David Sittler geht diesen Fragen in seiner Erfurter Dissertation am Beispiel der Migrantenmetropole Chicago zwischen 1900 und 1930 nach. Unter „sozialer Sichtbarkeit“ versteht er das „aufmerksame Gesehen- oder Wahrgenommenwerden“ sowie das „potenzielle Anerkanntwerden im Rahmen einer massenhaften Aufmerksamkeit und Kommunikation“ (S. 15).

Sittlers Zugang ist ein mikrohistorischer, der einzelne Straßen, Fassaden, Fahrzeuge, Kleidung und Gegenstände untersucht. Zugleich beschäftigt er sich mit An- und Versammlungen, Protesten, Vigilantismus, Rassismus und Gewalt. Dabei geht es ihm nicht um Stadtplanungsbürokratie oder Entwürfe von Ingenieurbüros. Vielmehr interessieren ihn die Praktiken auf der Straße selbst, also das Flanieren, Spazieren und Demonstrieren. Hinzu kommen spezielle Medienpraktiken, deren Spuren er über Fotografien, Karten und Plakate sowie Beschriftungen von Fassaden und Fahrzeugen verfolgt. Sein Hauptaugenmerk legt Sittler auf die Michigan Avenue, die als Prachtstraße im öffentlichen Gedächtnis der Stadt eine prominente Rolle spielte, prinzipiell jedem einen Kommunikationsraum bot und unter permanenter multimedialer Beobachtung stand.

In den ersten beiden Kapiteln wendet sich die Arbeit dem Verhältnis von Bebauungen und Verkehrsteilnehmern zu. Dabei fragt Sittler nach Positionierungen im Straßenraum, danach, wie Menschen sozialen Status gegenüber anderen ausdrückten und ihren eigenen Blick organisierten, und stellt fest, dass Menschen hierzu gewisse „Sauberkeits- und Ordentlichkeitscodes“ entwickelten (S. 88). Sie orientierten ihr Erscheinungsbild an dem der Straße, sofern sie als achtbare Bürgerinnen und Bürger der Stadt erkannt werden wollten. Im Anschluss daran beschäftigt sich die Arbeit mit Demonstrationen und wie diese Aufmerksamkeit zu erzeugen versuchten, etwa durch eigens angefertigte Kleidung, Installationen und Reden. Das vierte und sechste Kapitel untersuchen die zeitgenössische Rezeption und Reflexion am Beispiel von Schriftstellern, Künstlern und Journalisten sowie von Sozialreformern und Sozialwissenschaftlern. Diese beiden Teile rahmen damit das fünfte Kapitel, das sich den sogenannten Race Riots von 1919 zuwendet. Ganz explizit geht es Sittler dabei aber nicht um die Untersuchung einer spezifischen Ausnahmesituation. Vielmehr zieht er die Unruhen heran, um den Gewaltalltag auf den Straßen Chicagos, die täglichen Konflikte unter Jugendlichen um rassistisch motivierte Grenzziehungen in den Blick zu nehmen.

Zu den zentralen Befunden der Studie zählt die Vielgestaltigkeit des Straßenraums. Neben den obligatorischen Funktionen von Transit und Transport diente er Individuen und Gruppen der Unterhaltung und Selbstdarstellung, der Artikulation von Wertvorstellungen sowie der Politisierung. Gleichwohl orientierte sich zum Beispiel die Gestaltung der Straßenlandschaft primär daran, eine möglichst reibungslose Durchreise zu ermöglichen. Ziel war es, eine gewisse Kontaktarmut herzustellen, sodass Verkehrsteilnehmer möglichst selten mit ihresgleichen konfrontiert werden.

Dennoch blieb die Straße ein zentraler, wenn nicht der zentrale Ort sozialer Konflikte. Während der Race Riots waren es vor allem Jugendliche, die eine öffentliche, weiße Dominanz auf der Straße verteidigen und ihrem Kampf möglichst große Sichtbarkeit verschaffen wollten. Sittler kann zeigen, dass diese Sichtbarkeit oftmals wichtiger war als konkrete Straßenkampfstrategien oder klare Feindbilder. Daher kam es zu einer hohen Zahl an Gelegenheitsopfern, die die Gewalttäter mehr oder weniger zufällig auswählten; ein Charakteristikum urbaner Gewaltpraxis, die sich vornehmlich an ihrem „szenographischen-narrativen Schauwert“ orientierte (S. 362). Und da Chicago nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als boomende und stetig wachsende Industriemetropole eine bedeutsame Stellung in der gesamten US-amerikanischen Medienlandschaft einnahm, konnten sich die Gewaltinszenierungen noch dazu einer Resonanz weit über den Chicagoer Stadtraum hinaus gewiss sein. Inwieweit sich die kollektiven Gewaltaktionen tatsächlich mit den Beobachtungen und Abstraktionen Elias Canettis erklären lassen, den Sittler als Gewährsmann heranzieht, sei dahingestellt. Fruchtbarer wäre es hier vielleicht gewesen, dessen Studie über „Masse und Macht“ als Produkt der breiten Medialisierung von Straßengewalt und Massenpsychologie – wie in Chicago – zu historisieren.

Die Arbeit ist insgesamt sehr ambitioniert, versucht ganz bewusst, vielfach zu verschachteln und zu brechen, spricht viel von Möglichkeitsbedingungen und Gleichzeitigkeiten. Für Leserinnen und Leser ist dies eine Herausforderung, da sich zentrale Erkenntnisse oftmals im Detail verbergen. Zudem ist das kulturhistorische Vokabular in den resümierenden Passagen etwas überstrapaziert. Viele Komposita verunklaren mitunter gelungene Analysen und Argumentationen. Hinzu kommt, dass Sittler gelegentlich historische Evidenzen und breit nachgewiesene Phänomene wie etwa die Anpassung des Straßenraums an Anforderungen des Verkehrs oder den Eventcharakter von Lynchings aufwendig herleitet.

Gleichwohl ist Sittlers Arbeit ein gelungenes Beispiel für eine historisch-praxeologische Perspektive auf den Straßenraum. Der Autor erweist sich als außerordentlich kreativ in der Quellenauswahl und vermag die vielen verschieden Quellentypen zu einem breiten Panorama der Straßenkultur zusammenzufügen. So kann er gerade dadurch, dass er Bilder und Praktiken ihrer Erzeugung systematisch einbezieht, überzeugend herausarbeiten, dass es nicht, wie überwiegend angenommen, vor allem vormoderne, ländliche Traditionen waren, auf denen Sehgewohnheiten, Demonstrationsformen und Gewaltpraktiken auf den Straßen Chicagos basierten. Vielmehr waren es die Möglichkeiten moderner Inszenierungstechnik, die sie prägten.

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